• Foyer5
  • Landestheater Linz
  • # 18 | November/Dezember 2020
  • S. 10-13

Premierenfieber | Oper

Gesang, Gesang und abermals Gesang!

Text: Katharina John

In: Foyer5, # 18 | November/Dezember 2020, Landestheater Linz, S. 10-13 [Publikumszeitschrift]

Bereits Richard Wagner legte seinen Landsleuten die Opern seines italienischen Kollegen Vincenzo Bellini ans Herz. Mit dessen Belcanto-Version des Romeo-und-Julia-Stoffes unter dem Titel I Capuleti e i Montecchi traf dieser auch beim Publikum jenseits der Alpen ins Schwarze: Blutiger Zwist und eine Liebe bis in den Tod – Bellinis Sängerfest überzeugt mit seinen phänomenalen unendlichen, elegischen Melodien.

Romeo und Julia, das sind Namen, die unweigerlich Bilder heraufbeschwören: ein eng umschlungenes Paar, eine Vernarrtheit ineinander, von der kein Mensch erfahren darf, jugendliches Vertrauen darin, die Welt verändern zu können, ein Balkon und eine viel zu kurze Liebesnacht. Der Titel Romeo und Julia erinnert aber auch an die verheerenden Folgen einer nicht überbrachten Nachricht und den völlig überflüssigen Tod zweier junger Liebender.

Der wohl berühmtesten Liebesgeschichte der Welt begegnen wir in Theater und Film meist in der Form, in der William Shakespeare sie verarbeitet hat. Der englische Dramatiker berücksichtigt in seiner Version des Stoffes auch komische und deftige Szenen, die dem Werk als Ganzem die bittere Schwere nehmen. Doch Romeo und Julia ist nicht allein das Werk Shakespeares. Ihre Geschichte, das zeitlose Dilemma eines liebenden Paares, das aus zwei verfeindeten Familien stammt, bezeichnet eine archaische, prototypische Konstellation, von der schon seit der Antike – in immer neuen Versionen und Aktualisierungen – erzählt wird.

Die Namen des Protagonistenpärchens sind mit der jugendlichen Variante des Stoffes verbunden, die ihre Wurzeln in der italienischen Renaissance-Literatur hat. Auch Shakespeare ist hier – vermittelt über englische Übersetzungen – auf den Stoff gestoßen.

Der italienische Komponist Vincenzo Bellini, Teil der berühmten Belcanto-Trias Rossini, Bellini und Donizetti, ein hochbegabter Musiker, der sein kurzes Leben ganz der Musik und der Liebe widmete, erzählt mit I Capuleti e i Montecchi seine eigene Sicht auf das Veroneser Drama. Mit betörend schönen Melodien folgt er dem quälenden Schicksal seiner jugendlichen Helden, zeigt aber gleichzeitig eine verheerende Gesamtkonstellation, in die der Mensch sich gebracht hat und die ihm, ohne Einsicht in deren Fatalität, keinen Handlungsspielraum mehr gewährt. Bellinis Librettist Felice Romani hat den Familienkonflikt deshalb um eine weitere Dimension gegensätzlicher Parteilichkeit erweitert, den politisch-kriegerischen Großkonflikt zwischen Ghibellinen und Guelfen, also kaisertreuen Staufern und papsttreuen Gelfen. Schon der Titel, die Verwendung der Familiennamen Julias und Romeos, etabliert jene spannungsgeladene Konstellation der verfeindeten Clans, die die leidenschaftliche Liebe des jungen Paares zum Scheitern verurteilt: Bürgerkriegsähnliche Zustände eröffnen das Setting von Bellinis lyrischer Tragödie. Wir befinden uns im Haus Capellios, des Vaters Julias. Die augenblicklich herrschende Ruhe ist trügerisch. Romeo hat den Bruder Julias im Kampf getötet. Jetzt unterbreitet er, als Gesandter verkleidet, ein Friedensangebot: Eine Heirat von Romeo und Julia, so der Vorschlag, könne die Feindschaft beenden und das Verhältnis der beiden Familien langfristig befrieden. Doch Schmerz und Hass sind zu groß. Die Capuleti nehmen das Friedensangebot der Montecchi nicht an. Tebaldo soll Romeo rächen und Julia heiraten. Der Kreislauf von Gewalt und Gegengewalt wird fortgesetzt.

Es sind die letzten 24 Stunden im Leben Romeos und Julias, die Bellini und sein Librettist Felice Romani hier unter die Lupe nehmen: Keine Nachtigallen singen dem jungen Paar, keine intimen Bekenntnisse aus dem Garten oder vom Balkon hat er für seine Belcanto-Vertonung ausgewählt. Bellini kommt zur Sache. Sein Interesse gilt dem emotionalen Show-Down, der Eskalation, der Unentrinnbarkeit, dem tragischen Tod, den die Liebenden im Zuge des Familienkrieges sterben, der vor ihnen schon viele Opfer gefordert hat und auch weitere fordern wird. Fast wie in Zeitlupe betrachtet Bellini exemplarisch das tödliche menschliche Versagen, das in die unaufhaltsame Katastrophe mündet. Er zeigt, wie die zügellose Ich-Bezogenheit menschlichen Handelns jede kooperative Lösung unmöglich macht. Dabei ist es nicht ein einzelner, der hier die Funktion des „Bad Guys“ übernimmt. Im Gegenteil: Wie in einer Versuchsanordnung schaffen er und sein Librettist eine Konstellation, die in sich verkantet nach einem zerstörerischen Regelwerk abläuft und scheinbar, einmal in Gang gesetzt, keine Handlungsvarianten mehr zulässt, auch wenn die vergebenen Möglichkeiten ausgesprochen und scheinbar greifbar nahe im Raum stehen.

Mit Julia bildet eine einzige Frau das beinahe hermetisch abgesonderte Zentrum jenes rein patriarchalischen Systems. Sie ist Teil des Kapitals ihres Vaters, Gegenstand seiner Hausmacht, seiner strategischen Spekulationen. Einen eigenständigen Handlungsspielraum hat sie nicht. Im Gegenteil, ein perfides Regelwerk von Pflicht und Unterwerfung gegenüber ihrem Vater verhindert, dass sie auf den Fluchtplan Romeos eingehen kann. Sie verharrt unter psychischen Qualen in einem Zustand der Lähmung, eine Gefangene nicht nur ihres Vaters, sondern auch ihrer selbst. Ähnlich wie beim Stockholm-Syndrom gelingt es ihr nicht, sich emotional ganz von demjenigen zu lösen, dessen Willkür sie ausgesetzt ist. Der Tod, der von Beginn an das Geschehen als tägliches Kriegsereignis und erahntes persönliches Schicksal überschattet, bricht sich dann auch Schritt für Schritt Bahn. Vom Scheintod zum tatsächlichen Lebensende durch die eigene Hand sind es nur wenige Stunden.

Vincenzo Bellini hat sich musikalisch zunehmend vom virtuosen Koloraturstil seiner Kollegen emanzipiert und lotet stattdessen mit unvergleichlich schönen Kantilenen und nur spärlichen Verzierungen die Gefühlswelt seiner Protagonist*innen aus. Er ist ganz nah dran an den Menschen. Atemberaubend eng ist die Verbindung zwischen Wort und Musik, die er bereits in der ersten Hälfte der 19. Jahrhunderts findet. Mit der Einfachheit, der schnörkellosen kammermusikalischen Gestalt seiner Musik, dem getragenen Legato, beleuchtet Bellini ohne Effekthascherei den quälenden inneren Kampf seiner Protagonist*innen. Während die Handlung der Oper nur langsam voran kommt, spielt sich das eigentliche Drama im Inneren der Figuren ab.

Wie eine Vorwegname des Todes Mimìs in Puccinis La Bohème (66 Jahre später) klingt der Tod Romeos: Über dem kargen Orchestersatz singt der junge Liebende, der sich im Tod mit der tot geglaubten Geliebten vereinigen will, eine schlichte Melodie, die zunehmend stockt und zuletzt in der Mitte eines Wortes einfach abbricht. Bellini erkennt nicht nur das hier waltende fatale autoritäre, männliche und selbstbezügliche Gesellschaftssystem, sondern wirft auch sein ganzes musikalisches Können in die Waagschale, um sein Publikum an dem großen Unglück teilhaben zu lassen, das der Mensch mit seinem Verhalten in Gegenwart und Zukunft immer wieder heraufbeschwört.


I CAPULETI E I MONTECCHI
(ROMEO UND JULIA)

TRAGEDIA LIRICA IN ZWEI AKTEN VON VINCENZO BELLINI
LIBRETTO VON FELICE ROMANI

In italienischer Sprache mit deutschen Übertiteln

Premiere 14. November 2020
Großer Saal Musiktheater

Musikalische Leitung Enrico Calesso
Inszenierung Gregor Horres
Bühne Elisabeth Pedross
Kostüme Yvonne Forster
Dramaturgie Katharina John
Chorleitung Elena Pierini
Leitung Extrachor Martin Zeller
Nachdirigat Claudio Novati

Mit Katherine Lerner (Romeo), Dominik Nekel (Capellio), Ilona Revolskaya (Giulietta), Michael Wagner (Lorenzo), Joshua Whitener / Mathias Frey (Tebaldo)

Chor des Landestheaters Linz
Extrachor des Landestheaters Linz
Statisterie des Landestheaters Linz
Bruckner Orchester Linz

Romeo hat den Bruder Julias getötet, Tebaldo soll Rache an ihm nehmen und Julia heiraten. In einer Nahaufnahme der letzten vierundzwanzig Stunden loten Komponist und Autor in ihrer Belcanto-Version der berühmtesten Liebesgeschichte der Welt die Gefühlswelt ihrer Figuren aus. Mit emotional packenden Melodien, zu einem elegisch-melancholischen Sog verbunden und von keinem heimlichen Liebesglück unterbrochen, führt Bellini in seiner sechsten und 1830 im Theater La Fenice in Venedig uraufgeführten Oper seine Protagonist* innen einem unversöhnlichen, aber ergreifenden Opernfinale zu. Ein Sängerfest!

Weitere Vorstellungen
21. und 28. November, 9., 14., 16. und 21. Dezember 2020, 7., 9. und 31. Jänner 2021
Weitere Termine auf landestheater-linz.at

Öffentliche Generalprobe
11. November 2020, 19.30 Uhr
Großer Saal Musiktheater

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