• Magazin Klassik
  • Radio Klassik Stephansdom
  • # 18 | Herbst 2020
  • S. 55

Das Buch mit sieben Siegeln

Endzeit ohne Israel

Text: Elisabeth Birnbaum

In: Magazin Klassik, # 18 | Herbst 2020, Radio Klassik Stephansdom, S. 55 [Hörermagazin]

Franz Schmidts (1874–1939) „Buch mit sieben Siegeln“ zählt in Österreich zu den wichtigsten großen Oratorien der Musikgeschichte. Es behandelt das letzte Buch der Bibel, die „Offenbarung (des Johannes)“. Das Libretto, von Schmidt selbst zusammengestellt, besteht fast ausschließlich aus Bibeltexten, die wiederum mit sehr wenigen Ausnahmen aus der Offenbarung selbst stammen. Und doch ist das Werk nicht einfach eine Vertonung des biblischen Buches, sondern spiegelt den Kontext seiner Entstehung. Und dieser Kontext ist prekär, hat Schmidt das Werk doch in den späteren 1930er Jahren geschrieben und wenige Monate nach dem „Anschluss“ Österreichs an Hitlerdeutschland im Juli 1938 in Wien uraufgeführt. 

„Wer ist würdig, zu nehmen das Buch?“
Die Offenbarung thematisiert die Endzeit. Die dramatische Vision zeigt zunächst einmal Gewalt, Krieg, Hunger und andere Plagen als unumgänglich vor dem Jüngsten Gericht. Sieben Posaunen erklingen nacheinander, jede bringt eine andere Plage mit sich. Das Buch, in dem all jene verzeichnet sind, die das Gericht bestehen und erlöst werden, ist nicht durch jedermann zu öffnen. Nur „das Lamm“, also Christus, ist würdig dafür. Zuletzt singen die Erlösten das große, berühmte Halleluja. Doch wer sind die Erlösten? Im Oratorium kommt es hier zur entscheidenden Verkürzung.

Endzeit ohne Jerusalem
Die Vision der Johannes-Offenbarung gipfelt in einem erneuerten, endzeitlichen Jerusalem. Statt des Tempels werde es Gott selbst sein, der in diesem Jerusalem wohnt. 

Im Oratorium dagegen fehlt jeder Hinweis auf Jerusalem. Der neue Himmel und die neue Erde entstehen an keinem bestimmten Ort. Die Vision wird aus seinem Israel-Kontext entwurzelt und universalisiert. Das betrifft auch den Messias selbst, „das Lamm“ Gottes. Seine Herkunft aus dem Stamm Juda und aus der Wurzel Davids (vgl. Offb 5,5) wird ersatzlos gestrichen. Die Kapitel, die ausführlich auf die Bedrohung und Errettung des Berges Zion eingehen, fehlen ebenso wie die Nennung der Erwählten aus Israel (vgl. Offb 7,4–8).

Die Erlösten sind nicht mehr Juden und Heiden, die sich zu Jesus bekannt haben, sondern Christen ohne Vergangenheit und Verortung. 

Wo Bibel draufsteht … 
Schmidt selbst war kein Nationalsozialist, sondern strenger Katholik ohne jedes politische Interesse. Trotzdem scheint ihn der Zeitgeist dazu bewogen haben, Israel-Bezüge auszusparen. Dadurch wird zwar Bibel verwendet, ihre Grundintention aber zumindest stark reduziert. Ein genauer Blick ins Libretto (und in die Bibel) lohnt sich also jedenfalls.

Elisabeth Birnbaum ist Direktorin des Österreichischen Katholischen Bibelwerks. www.bibelwerk.at 


Radiotipp

Musica Sacra
Sonntag, 27. September, 19.00 Uhr

Franz Schmidt: Das Buch mit sieben Siegeln
Live-Aufnahme Juni 2015, Laeiszhalle, Hamburg
Klaus Florian Vogt (Tenor, Johanns) Georg Zeppenfeld (Bass, Stimme des Herrn)
Philharmoniker Hamburg, Simone Young