• Magazin
  • Oper Frankfurt
  • März/April 2020
  • S. 22-23

Premiere Inferno

Höllenvision

Text: Lucia Ronchetti

In: Magazin, März/April 2020, Oper Frankfurt, S. 22-23 [Publikumszeitschrift]

Dantes Sprache suggeriert zunächst einmal das Gegenteil einer Erzählung. Er kreiert eine Metasprache, in der sich Ausdrücke der Alltagssprache und Elemente einer höfischen Sprache verbinden. Dabei unternimmt er alles, um den realistischen Eindruck eines gegenwärtigen Erlebnisses zu vermitteln, das er in dem Moment zu beschreiben versucht, in dem es ihm widerfährt. Im Italienischen hat das, obwohl er die Vergangenheitsform benutzt, die Wirkung eines Films, den man mit ihm durchlebt. Besonders in der Begegnung mit den verschiedenen Figuren, auf die er trifft, ist der Dialog in sehr lebendiger direkter Rede wiedergegeben.

 

Ekstatische Selbsthypnose

Mit der von ihm neu geschaffenen Sprache erzeugt der Dichter so etwas wie eine Ekstase des Erzählens, einen aufgewühlten Bewusstseinszustand der Begeisterung. Das funktioniert wie ein Eintauchen in die Halluzination, sodass Dante gleichzeitig in der Szene anwesend ist und davon erzählt. Man könnte an die Patienten des Psychiaters Pierre Janet, eines Pioniers der Psychotherapie, denken, bei denen unter Hypnose ein »Automatisme psychologique« ausgelöst wurde; sie berichteten von ihren Visionen, als durchlebten sie das Geschilderte im gleichen Augenblick.

Manchmal kommt es mir vor, als sei Dante von seinen eigenen, realitätsnahen Schilderungen selbst überrascht. Wir spüren seine Erschütterung. Zugleich kommentiert er seinen Bewusstseinsstrom und beschreibt die extreme Einsamkeit des Demiurgen in seinem unmöglichen Kampf gegen die eigene innere Welt. Um diese Dualität in Dantes Erzählung musikalisch und theatralisch auszudrücken, habe ich die Hauptfigur in eine Sprechrolle (auf Deutsch) und ein Gesangsquartett (auf Italienisch) aufgeteilt. Die vier Sänger des Vokalquartetts sind Dantes »innere Stimme«. Während der Schauspieler Dantes öffentliche Persönlichkeit repräsentiert, wie er sie selbst gern darstellen möchte – häufig angriffslustig und sehr hart in seinen Urteilen –, steht das Quartett für die unberechenbare, weibliche, fließende und ständigen Metamorphosen unterworfene Seite seines widersprüchlichen Charakters. Durch die Aufteilung auf vier Stimmen (Countertenor, Tenor, Bariton und Bass) wollte ich die extremen Schwankungen und die Komplexität dieser inneren Stimme zum Ausdruck bringen.

 

Düsterer Karneval

In der Auswahl der Episoden mit ihren oft exzentrischen, im Verhalten untereinander und gegenüber Dante mitunter bizarren, hyperaktiven Persönlichkeiten war es mir wichtig, moralische Wertungen weitgehend auszublenden. Vielmehr wollte ich das Bild einer Stadtgemeinschaft an der Schwelle zur Neuzeit (Florenz im frühen 14. Jahrhundert) entstehen lassen, in dem wir Züge unserer Gegenwart wiedererkennen: wie ein Gemälde aus der Schule der flämischen Maler, auf dem sich eine Vielzahl von Szenen gleichzeitig abspielt und zugleich jede ihren eigenen Raum hat. Da wird geschrien, geflucht, gelästert, gejammert, geschlagen und gebissen. Die Hölle, das ist die neue, vom aufstrebenden Bürgertum geprägte Stadt, bevölkert von Mördern, Dieben, Huren, Kaufleuten, Politikern, Ehebrechern, Mönchen und Nonnen mit ihren jeweiligen Überzeugungen, ihrem Aberglauben, ihrem Wahn und ihren Träumen, aber auch mit ihrem berechnenden Ehrgeiz und kaltblütigen Egoismus. Reichtum trifft auf Gier und Neid im Kampf um die Macht – ein düsterer Karneval, von Dante zum Teil mit schwarzer Komik messerscharf beschrieben.

Diese Stadtbevölkerung wird jedoch nur in ihren Geschichten lebendig, denn im Inferno sind die Verdammten in die verschiedensten Naturszenarien einer fantastischen Landschaft versetzt, mit Flüssen, Sümpfen, Felsen, Abgründen, Wüsten und eisigen Seen. Außerhalb der Stadtmauern lauerte im Mittelalter die Gefahr. Diese Landschaften mit ihren Höllenstürmen, Erdbeben, Feuer- und Eisregen wollte ich in meiner Musik durch immer neue Soundscapes entstehen lassen. Eine Abfolge von Sketchen, die in ein überraschendes Finale mündet: der Erscheinung Lucifers, des Höllenfürsten.

 

Lucifer, der gefallene Engel

In der Divina Commedia hat er keine Sprache; er bleibt stumm. Er taucht auf wie ein Hologramm. Wie gelähmt steckt er im ewigen Eis fest und zermalmt mit seinen drei Kiefern die Erzsünder. Dem wollte ich einen Epilog gegenüberstellen, zu dem Tiziano Scarpa mir den dadaistisch-poetischen, hintersinnigen Text geschrieben hat. Der teilweise massive Sound der Blechbläser und Pauken weicht plötzlich den zerbrechlichen, rauen Klängen eines Streichquartetts. Der gewaltige Bau von Dantes Sprache verschwindet. Und Lucifer beginnt zu sprechen. Doch was als Zwiegespräch erscheint, ist eigentlich ein Monolog, der sich im Kopf des Betrachters abspielt. Lucifer ist der Mitwisser dieses Monologs. Er ist allwissend. Er ist der gefallene Engel, der auf seinem unendlichen Sturz vom Himmel bis zum Grund der Hölle den ganzen Kosmos gesehen hat. Er hat weder Fragen noch Antworten; er »bringt das Licht« (so die wörtliche Übersetzung seines lateinischen Namens). Damit endet Dantes Flucht vor sich selbst, seine Vision, seine Selbsthypnose: Er entflieht dem künstlichen Koma, in das er sich selbst versetzt hat, und gelangt wieder ans Licht des Tages.


LUCIA RONCHETTI, geboren 1963 in Rom, gehört zu den profiliertesten italienischen Komponist*innen der Gegenwart. Sie ist Professorin für Analyse und Komposition am Konservatorium von Salerno und unterrichtet regelmäßig bei Institutionen wie den Darmstädter Ferienkursen für Neue Musik. Zurzeit nimmt sie eine Stiftungsgastprofessur an der Hochschule für Musik und Darstellende Kunst Frankfurt am Main wahr. Ihre Ausbildung erhielt sie am Konservatorium Santa Cecilia in Rom, wo sie zugleich an der Università La Sapienzia Musikwissenschaft studierte. Daran schlossen sich Studien in Paris bei Gérard Grisey, am dortigen IRCAM sowie bei François Lesure an der Sorbonne an. Ein Fulbright Stipendium führte sie auf Einladung von Tristan Murail an die Columbia University nach New York. Zu den wichtigsten Uraufführungen der letzten Zeit zählen Esame di mezzanotte (Nationaltheater Mannheim) und Mise en abyme (Semperoper Dresden, auch Tiroler Festspiele Erl), Inedia prodigiosa (Teatro Massimo in Palermo), Les aventures de Pinocchio (Rouen / Paris, zuletzt auch in italienischer Sprache an der Opera di Roma) und Rivale (Staatsoper Berlin) sowie The Pirate Who Does Not Know the Value of Pi (Biennale di Musica, Venedig).