• Magazin
  • Oper Frankfurt
  • März/April 2020
  • S. 16-17

Premiere Mignon

Ein Wiedersehen mit Goethe in Frankreich

Julie Boulianne (Mignon) & Attilio Glaser (Wilhelm Meister)

In: Magazin, März/April 2020, Oper Frankfurt, S. 16-17 [Publikumszeitschrift]


SEIT EUREM GEMEINSAMEN FRANKFURT-DEBÜT 2017 ALS CHARLOTTE UND WERTHER IN MASSENETS OPER SCHEINT IHR BEIDE DURCH GOETHE UND DIE FRANZÖSISCHE OPER VERBUNDEN ZU SEIN! IN WELCHEM VERHÄLTNIS STEHT IHR ZU GOETHE UND SEINEN FIGUREN?

JULIE BOULIANNE
Ob Charlotte, Marguerite oder Mignon – Goethes Heldinnen faszinieren und begeistern mich durch ihr Geheimnis und ihre Vielschichtigkeit. Diese Figuren besitzen ein enormes Identifikationspotenzial, da ihre jeweilige Suche zutiefst innerlich und menschlich ist. Ein wahres Geschenk für jede Opernsängerin. Goethes Frauenfiguren bieten, glaube ich, eine größere Interpretationsfreiheit als die männlichen Figuren, die gerade bei den frühen Werken wie Werther oder Wilhelm Meister eher autobiografisch geprägt sind. Goethes weibliche Charaktere sind in ihrem Denken und ihren Absichten nie so eindeutig wie die männlichen Gestalten.

ATTILIO GLASER
Mit Goethes Literatur kam ich in der Schule in Kontakt. Damals faszinierte mich zunächst die poetische Sprache; einen besonderen Reiz bekam diese Literatur dann erst recht im Kontext der mehr oder weniger latenten, autobiografischen Inhalte. Das erzeugt bei mir ein starkes Gefühl von Intimität – etwas, das meiner Meinung nach wunderbar zu französischer Oper passt. Besonders als frankophiler Tenor fühle ich mich durch diese Symbiose mit reizvollen Partien wie Faust oder Werther und – wenn ich Schiller mit hineinbringen kann – Wilhelm Tell beschenkt.


IM VERGLEICH MIT »WERTHER« IST DIE KONSTELLATION IN »MIGNON« UMGEKEHRT: HIER STEHT EIN MANN ZWISCHEN ZWEI FRAUEN. WILHELM MEISTER UND MIGNON – WAS SIND DAS FÜR  CHARAKTERE?

ATTILIO GLASER
Mignon und Wilhelm haben ganz unterschiedliche Hintergründe, sind aber beide auf ihre Art Suchende, die im Gegenüber etwas finden, wonach sie sich sehnen. Mignon erfährt Geborgenheit und erhofft sich in Wilhelm eine neue Heimat. Zu Wilhelms Motiven ist die Oper weniger konkret. Wilhelm ist zwar fasziniert von Philine, aber Mignon zieht ihn in ihren Bann und löst bei ihm schließlich profundere Gefühle aus.

JULIE BOULIANNE
Wilhelm Meister und Mignon sind in vielerlei Hinsicht sehr eng miteinander verwandt. Sie scheinen eine wichtige Lücke im Leben des anderen zu füllen. Deshalb werden sie unzertrennlich. Mignon sieht in Wilhelm Meister eine Vaterfigur und einen möglichen Liebhaber, auch wenn ihre Beziehung in Goethes Roman ambivalent ist. Sie erkennt auch, dass sie sich ihm gegenüber offenbaren, Schwächen zeigen und Grenzen überwinden kann. Mignon hat eine dunkle Vergangenheit, aber unterbewusst weiß sie um ihr schweres Geheimnis, das die Ursache für ihre wechselhafte Persönlichkeit sein könnte. Sie schottet sich zu ihrem eigenen Schutz ab und hat so gelernt, zu überleben. Deshalb ist die Begegnung mit Wilhelm Meister so entscheidend und glücklich, aber auch beunruhigend.


SEIT IHRER URAUFFÜHRUNG WAR »MIGNON« EIN RIESIGER ERFOLG IN FRANKREICH – UND IST DORT BIS HEUTE VIELEN EIN BEGRIFF. IN DEUTSCHLAND HAT ES DAS WERK NIE WIRKLICH INS REPERTOIRE GESCHAFFT. MAN KENNT, WENN ÜBERHAUPT, VIELLEICHT ZWEI ARIEN AUS GALA-KONZERTEN. WORIN LIEGT FÜR EUCH DER MUSIKALISCHE CHARME DES WERKS?

JULIE BOULIANNE
Zunächst einmal ist die Partitur von Mignon sehr anspruchsvoll, besonders für die Rolle des Wilhelm Meister. Man muss sicher sein, wie in unserem Fall, einen außergewöhnlichen Tenor gefunden zu haben. Es ist ein ungemein reiches Werk, das es zu entdecken gilt. Ich bin auch sehr glücklich, mich in einer aufwendigeren Version als nur in vier Liedern mit der Figur der Mignon auseinanderzusetzen. Thomas gelingt es, den starken, aber auch zerbrechlichen Charakter des Mädchens herauszuarbeiten.

ATTILIO GLASER
Schade, dass Mignon in Deutschland nicht so häufig gespielt wird. Die Musik hat einen großen Farbenreichtum. Es ist beeindruckend, wie organisch Thomas die folkloristischen und lyrischen Komponenten der Musik mühelos verwebt und jeder Figur ihre eigene Tonsprache gibt.


GLÜCKLICHES ODER TRAGISCHES ENDE?

JULIE BOULIANNE
Mit Sicherheit ist die Änderung des Schlusses ein weiterer Grund, warum Thomas’ Oper in Deutschland nicht so herzlich aufgenommen wurde. Ich denke, das Happy End passt gut zu seiner Musik und der Charakterentwicklung dieser Fassung, aber ich bevorzuge den traurigen und dramatischeren Schluss, der Goethes Endfassung respektiert. 

ATTILIO GLASER
Ich finde das Happy End zwar charmant, aber im Sinne der Emanzipation von der Opéra-comique favorisiere ich den tragischen Schluss, der Mignon voll und ganz zum Drame lyrique macht.