• Magazin
  • Oper Frankfurt
  • Januar / Februar 2024
  • S. 12-13

Außenseiter?

Text: Zsolt Horpácsy

In: Magazin, Januar / Februar 2024, Oper Frankfurt, S. 12-13 [Publikumszeitschrift]

Die Gegenüberstellung von Kunst und Realität sowie der Kampf der Geschlechter gehörten zu den zentralen Themen für viele Wiener Künstler*innen des frühen zwanzigsten Jahrhunderts, so auch für Alexander Zemlinsky, eine prägende Persönlichkeit dieser Epoche. Er war Lehrer von Arnold Schönberg und Freund Gustav Mahlers, stand aber im Schatten seiner berühmten Kollegen. 1938 musste er vor den Nationalsozialisten in die USA fliehen, wo er 1942 einsam und vergessen starb. Erst seit den 1980er Jahren wurden seine faszinierende Kompositionstechnik und die elementare Kraft seiner Klangsprache erkannt. Seitdem werden Zemlinskys Werke zwar regelmäßig, doch immer noch nicht ihrem künstlerischen Rang entsprechend häufig aufgeführt.

Die Geschichte vom Traumgörge vereint vielerlei Elemente des Fin de siècle, insbesondere der damals gerade aufgekommenen Psychoanalyse und Traumdeutung Sigmund Freuds mit Gratwanderungen zwischen Fiktion und Wirklichkeit. Freud und seine Schüler versuchten in diesem Zusammenhang, unterbewusste seelische Vorgänge zu entziffern. Die Hirnaktivität im Schlaf wurde durch ihre Impulse zur zentralen Inspirationsquelle auf den Gebieten von Literatur, Theater und Musik. Auch Görge, der Titelheld von Zemlinskys Oper, verarbeitet in seinen Träumen Ängste und Schicksalsschläge. Er lebt in der Welt seiner Bücher und verliebt sich in eine Traumprinzessin.

1906, während seiner erfolgreichen Tätigkeit als Erster Kapellmeister an der Volksoper Wien, stellte Zemlinsky sein drittes Bühnenwerk vor. Zusammen mit seinem Librettisten Leo Feld hatte er ab 1904 ein verwickeltes Psychodrama für die Opernbühne entworfen. Seine üppige, spätromantische Instrumentation erinnert an die harmonische Konzentration von Schönbergs sinfonischer Dichtung Pelléas et Mélisande und Gustav Mahlers Sinfonie Nr. 1 (Titan). Doch Zemlinskys leidenschaftliche Musik wirkt dabei nie plagiativ: Sie vermittelt Glück und Leid, Euphorie und Melancholie immer durch eine authentische Klangsprache.


Fiktion und Realität

Die Handlung greift auf verschiedene Quellen zurück, darunter Heinrich Heines Gedicht Der arme Peter, das Märchen Vom unsichtbaren Königreich von Richard von Volkmann-Leander und der Roman Der Katzensteg von Hermann Sudermann. Sie stellt eine qualvolle Reise der Selbstfindung dar, in deren Mittelpunkt Görge steht: eine naive, neurotische und zur narzisstischen Selbstbeobachtung neigende Figur, die in der Wirklichkeit ihre Traumwelten erleben will. Dabei beflügeln und lähmen ihn seine Märchensequenzen zugleich.

Nachdem der Komponist seinem Kollegen Anton Webern Einsicht in die Partitur gewährt hatte, teilte dieser Zemlinsky mit, dass ihm die Oper »unsäglich gefalle«. Gustav Mahler, damals noch Direktor der Wiener Hofoper, erklärte sich bereit, das Werk uraufzuführen. Mahler verlangte einige Änderungen und setzte die Premiere für den 1. Oktober 1907 an. Doch es sollte nicht dazu kommen. Denn in Wien erlebte man die ersten Anfeindungen gegen jüdische Künstler*innen. Eines der prominenten Opfer war ausgerechnet Gustav Mahler.

Drei Wochen nach Probenbeginn, entnervt von Differenzen mit dem Wiener Hof und einer antisemitischen Pressekampagne, schmiss er seinen Posten hin. Sein Nachfolger Felix Weingartner fühlte sich an das Versprechen nicht mehr gebunden. Er knickte vor der antisemitischen Hetze ein und setzte die Uraufführung ab. Zemlinsky litt sehr unter dem Schicksal einer seiner persönlichsten Kompositionen. Noch im hohen Alter soll er im US-amerikanischen Exil, als er seinen Traumgörge am Klavier durchspielte, gesagt haben: »Es ist gut!«.
 

Verzerrte Märchen

Erst fast ein Dreivierteljahrhundert später, 1980 konnte Der Traumgörge im Rahmen einer längst fälligen Zemlinsky-Renaissance in Nürnberg seine Uraufführung feiern. Die Partitur glänzt durch brillante Einfälle, die für expressive Momente in einer Geschichte über Außenseiter, verzerrte Märchenwelten und Lebensalternativen sorgen.

Die zentralen Themen der Oper, Ablehnung und Hass gegenüber Fremden, überschatteten Zemlinsky Lebensweg. Wie viele seiner Werke enthält auch Der Traumgörge starke autobiografische Züge. Für ihn bedeutete das Verhältnis zu Alma Schindler – der späteren Frau von Gustav Mahler, Walter Gropius und Franz Werfel sowie Gefährtin diverser anderer Künstler – DIE seelische Erschütterung seines Lebens schlechthin. Ab 1900 hatte Alma Kompositionsunterricht bei Zemlinsky genommen. Der damals 29-Jährige galt als eine der großen Hoffnungen der Wiener Musikszene. Obwohl sie ihn anfänglich als physisch abstoßend empfand verliebte sie sich doch bald in den jungen Komponisten und er erwiderte ihre Gefühle. Die Familie und deren Freunde fanden die Liaison unpassend und versuchten, sie ihr auszureden.


Ausgrenzung

Alma selbst durchlebte ein Wechselbad der Gefühle. 1902 entschied sie sich gegen eine Beziehung mit Zemlinsky und für eine Ehe mit dem nahezu zwanzig Jahre älteren Gustav Mahler. Obwohl musikalisch sowohl als Pianistin als auch als Komponistin sehr begabt, blieb sie in erster Linie wegen ihrer folgenreichen Affären mit berühmten Künstlern des 20. Jahrhunderts in Erinnerung. Sein »Alma-Trauma« mit künstlerischen Mitteln zu verarbeiten, prägte Zemlinskys Gesamtœuvre ab 1902. Vor allem vier Werke, Der Traumgörge, das Streichquartett Nr. 2 sowie die beiden Einakter, Eine florentinische Tragödie und Der Zwerg schließen sich in diesem Kontext zusammen und zeugen von einem schmerzhaften seelischen und künstlerischen Prozess.

Zemlinskys Traumgörge schafft eine seltene Nähe zwischen menschlichem Schicksal und kreativen künstlerischen Kräften; es stellt existentielle Fragen: Wer ist Außenseiter? Wie reagiert eine Gesellschaft auf »Träumer«? Wie gefährlich sind selbst kreierte Märchenwelten, wenn sie die Realität ersetzen sollen? Somit hat Der Traumgörge seit seiner Entstehung 1906 nichts an Aktualität eingebüßt.

 



DER TRAUMGÖRGE
Alexander Zemlinsky 1871–1942

Oper in zwei Akten und einem Nachspiel / Text von Leo Feld / Uraufführung 1980, Opernhaus Nürnberg / In deutscher Sprache mit deutschen und englischen Übertiteln

FRANKFURTER SZENISCHE ERSTAUFFÜHRUNG 25. Februar
VORSTELLUNGEN 29. Februar / 3., 9., 13., 16., 23., 31. März

MUSIKALISCHE LEITUNG Markus Poschner INSZENIERUNG Tilmann Köhler BÜHNENBILD Karoly Risz KOSTÜME Susanne Uhl LICHT Jan Hartmann CHOR Tilman Michael KINDERCHOR Àlvaro Corral Matute DRAMATURGIE Zsolt Horpácsy

GÖRGE AJ Glueckert PRINZESSIN / GERTRAUD Zuzana Marková GRETE Magdalena Hinterdobler HANS Liviu Holender MAREI Juanita Lascarro MÜLLER Magnús Baldvinsson PASTOR Alfred Reiter ZÜNGL Michael Porter KASPAR Iain MacNeil MATHES Mikołaj Trąbka WIRTIN Barbara Zechmeister

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