• Alice
  • Sirene Operntheater
  • Musik Kurt Schwertsik nach Lewis Carroll, 23. November bis 31. Dezember 2023, Odeon Theater
  • S. 6-8

Eine Revue

Text: Kristine Tornquist

In: Alice, Musik Kurt Schwertsik nach Lewis Carroll, 23. November bis 31. Dezember 2023, Odeon Theater, Sirene Operntheater, S. 6-8 [Programmheft]

Mit 10 Jahren habe ich Alice im Wunderland genau verstanden - als ein Buch, das Kinder nicht unterschätzt, sondern sich auf ihrem wahren intellektuellen Niveau mit ihnen gegen die ewig besser wissenden und immer Recht haben wollenden Erwachsenen verbündet. Denn auch wenn all die seltsamen Wunderlinge im Wunderland die Wortgefechte selbstgewiss für sich entscheiden können, bleiben der Hausverstand und die Logik doch eindeutig auf der Seite der kindlichen Heldin.

Als ich nun das Buch in der Überlegung, eine Oper daraus zu machen, erneut las, fiel mir die undurchsichtige Rolle des Autors auf. Lewis Carroll steht auf der Seite seiner Heldin, bemüht sich, sie zu überraschen und zu unterhalten. Aber zugleich ist er auch ihr Widersacher, er treibt sie wehrlos in unangenehme Begegnungen, er lässt sie an sich selbst zweifeln, bringt sie zum Weinen, besiegt sie in Diskussionen mit unlauteren Mitteln, verwirrt und beschämt sie. Natürlich entspricht das dem üblichen Vergnügen jedes Autors, alle seine widersprüchlichen Figuren gleichzeitig imaginieren zu können - die Dummen wie die Klugen, die Gutgelaunten wie die Tragischen, die Miesen wie die moralisch Überlegenen - doch bei Alice in Wonderland (1865) handelt es sich um den Sonderfall, dass die Heldin und die erste adressierte Leserin identisch sind und somit die fiktiven Übergriffe auf die Figur Alice gewissermassen auch persönlich und in wirklichen Leben von Alice Liddell stattfanden. Zumal der 20 Jahre ältere Reverend Charles Lutwidge Dodgson, wie der Autor mit bürgerlichem Namen hiess, seine kindliche Heldin mit Ereignissen konfrontierte, die sie nicht durchschauen konnte, etwa psychedelische Drogenerfahrungen und Pubertätskrisen.

Man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, dass er es auch genoss, die Leserin Alice wie die Figur Alice zu manipulieren und zu dominieren, auch wenn er sie zuletzt als Siegerin hervorgehen lässt, indem er sie aus dem Traum bzw. aus dem Buch aufwachen lässt. Im zweiten Band Through the Looking-Glass (1871), den er nach dem Bruch mit der Familie Liddell schrieb, wird das noch offensichtlicher. Kein Wunder, dass sich Heerscharen von Psychologen und Literaturwissenschaftern über die Deutung dieser Konstellation hergemacht haben!

Wie jeder gute Mythos und jedes vielerzählte Märchen ist die Alice-Erzählung somit zwiespältig und deutungsoffen und als eines der meist zitierten und dramatisierten Werke britischer Literatur zu kulturellem Allgemeingut mutiert. Figuren wie die Grinsekatze, der Hutmacher, das weisse Kaninchen und die rauchende Raupe haben ein Eigenleben entwickelt und sich in Hollywood von ihrem Ursprung weit entfernt. Jüngere Leute kennen heute eher die brachiale Verfilmung durch Tim Burton (2008) als die raffinierten Sprachphantastereien des Originals.

Ich schrieb eine erste deutsche Librettofassung als Diskussionsgrundlage, um Max Kaufmann und Kurt Schwertsik zu gewinnen. Dabei stiess ich schon auf die Schwierigkeiten der Übersetzung, der Douglas Hofstadter in seinem berühmten Buch Gödel Escher Bach ein ganzes Kapitel widmete. Die Wortspiele, Fantasieworte und Bedeutungsreferenzen sind so diffizil in der semantischen Kultur des 19. Jahrhunderts in England rückgekoppelt, dass eine Übertragung nicht durch einfaches Übersetzen der Sprache gelingen kann, sondern in die jeweilige Kultur übersetzt werden muss. So war es so logisch wie vernünftig, dass Kurt Schwertsik und ich uns schon bei unserer ersten Besprechung einig wurden, ausschliesslich den englischen Originaltext einzusetzen, wenn auch in unserer Auswahl und Interpretation. Und schon waren wir im Wonderland angekommen: Bei der Arbeit am Libretto ging es fast so zu wie in Through the Looking-Glass. Je langsamer man im Reich der Schwarzen Königin vorwärts geht, umso schneller kommt man voran beziehungsweise umgekehrt. Meine Arbeit bestand vor allem darin zu kürzen, und je ausführlicher ich kürzte, umso mehr wuchs die Partitur. Eine wunderbare Arbeitsteilung!

So wurde es letztlich auch keine Oper, sondern eine Revue für die unterschiedlichen Figuren, was Lewis Carroll sicher gefallen hätte.

Als Jugendliche hörte ich heimlich nachts unter der Bettdecke gerne Radio und stiess dabei erstmals auf eine bezaubernde Musik von Kurt Schwertsik - ich weiss leider bis heute nicht, was das gewesen sein kann. Damit begann für mich, bis dahin ganz der Alten Musik (und Punk) verschrieben, die Neue Musik. Hier fand ich das missing link. Ein Spagat, der viel überbrückte. Aufregende Harmonien und Linien, die überraschende Wendungen nahmen und doch ganz logisch erschienen. Eine Musik, die berührt, aber den Verstand nicht im Dampfbad der Emotionen auflöst. Eine kluge Musik, die lächelnd zu sagen scheint: Nimm mich nicht zu ernst.

Auch wenn Kurt in Darmstadt sozialisiert wurde und im Nachkriegswien mit seinen Freunden die stehengebliebene Zeit gehörig und auch ungehörig ankurbelte, war er mutig genug, früh an den Dogmen der Moderne zu zweifeln und in einem kühnen Mutationsakt Jahrzehnte zu überspringen - wie man heute weiss: nicht rückwärts, sondern vorwärts! Was mich damals faszinierte, fühle ich heute noch: seine Musik verbindet Schönheit mit Witz, eine äusserst seltene und umso berückendere und lebensnahe Symbiose.

Den Menschen habe ich erst viel später kennengelernt und er passte perfekt zu seiner Musik. Hoher Anspruch verrät sich in Bescheidenheit. Wer hätte auch je das höchste Ziel erreicht? So kommt es wohl, dass Kurt Schwertsik nicht nur ein grosses Talent für kleine Formen und subtile Interventionen hat, sondern auch für die grosse Kunst des Zweifels, dem besten Motor lebenslanger Weiterentwicklung. Das durfte ich in der intensiven Zeit der Vorbereitung erleben: nichts ist selbstverständlich, alles muss von Grund auf gedacht und revidiert werden - und zwar nicht in einem umstürzlerischen, blinden Gewaltakt, sondern in liebevoller Vertiefung. Schliesslich ist Musik kein autokratisches System, sondern die Gnade, etwas von der Natur des Hörens zu verstehen. Kurt beschrieb es so, wie ich selbst es auch empfinde: ein Kunstwerk lässt sich nicht planen, die Kunst ist, sich in den wachen Zustand zu versetzen, in dem sie entstehen kann - und dann fliesst die Musik direkt in den festumklammerten Stift, der wie eine Antenne oder ein Blitzableiter das musikalische Wetter anzieht und aufs Papier fliessen lässt.

Und der wache Zustand, wo kommt der her? Aus einer unerschöpflichen Neugier auf das Leben und die Kunst. Bei unseren Gesprächen schwirrten mir die Ohren von den vielen guten Tipps, den Geschichten, den Namen, den Bedeutungen. Ich notierte mit und sass dann nach jedem Treffen oder Telefonat lange am Nachlesen, vor einem Film, einem Buch, einer Komposition. Ein hervorragender Lehrer also, aber nicht durch Belehrung. Und darin wiederum gleicht er Lewis Carroll!

Imagination is the only weapon in the war with reality, lässt Lewis Carroll seine liebenswertese Figur, die Cheshire Cat, sagen. So herum, aber auch umgekehrt formuliert ist das ein guter Rat fürs Leben!


From the Duchess to the King!
wären Eure Majestät vielleicht amused, eine Fermate auf der letzten Pause zu placieren?
Unsere Boten könnten dann mit Pomp & Circumstances verschwinden - vor dem grossen Auftritt der Cheshire Cat.
Knicks, duchess kristine

Um meinen letzten Einfall zu vertiefen: wie wärs, wenn die Boten eine Flasche öffneten & einander zuprosteten „from the Queen“, „to the Duchess“ & schließlich betrunken davon wankten? Mit oder ohne Fermate! (wer weiß, ob sich im Parlament dafür eine Mehrheit findet?) >Scheißdemokratie!<
Verzeihung Durchlaucht, frog

 

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