• Mathis der Maler
  • Staatstheater Nürnberg
  • Oper von Paul Hindemith, Saison 2023/24
  • S. 23-33

Kunst und Welt

Text: Georg Holzer

In: Mathis der Maler, Oper von Paul Hindemith, Saison 2023/24, Staatstheater Nürnberg, S. 23-33 [Programmheft]

Künstler erzählen gerne von Künstlern. Damit kennen sie sich aus. Doch auch das Publikum interessiert sich für Künstlerschicksale, sonst hätte es die literarischen Gattungen „Künstlerdrama“ und „Künstlerroman“ nie gegeben. In der Kunst vermutet man Abgründe, Grenzerfahrungen und Entgrenzungen, unterstellt den Künstlerinnen und Künstlern ein unkonventionelles Leben abseits gesellschaftlicher Normen. Die bürgerliche Fantasie vom Künstlerleben ist der Traum von einer anderen Existenz, die man selbst nicht führen, aber doch an ihr teilhaben will. So macht sich der Künstler zur Projektionsfläche seines Publikums. Dazu gesellt sich ein gewisser Voyeurismus: Wenn wir uns von einem Künstler ein Künstlerdrama erzählen lassen, vermuten wir nicht ohne Grund, dass er uns damit Einblick in sein ganz persönliches Denken und Fühlen gibt. In unserer Gegenwart, wo das „Memoir“ zur beliebtesten Literaturgattung aufgestiegen ist, darf das Künstlerdrama auf die ungebrochene Neugier der Zuschauerinnen und Zuschauer hoffen.


Der Meister und die Nazis

Als Paul Hindemith Anfang der 1930er Jahre darüber nachdenkt, den Renaissance-Maler Matthias Grünewald zum Protagonisten einer großen Oper zu machen, will er natürlich eine Geschichte über sich selbst erzählen. Er ist eine überragende musikalische Begabung, ein Virtuose auf der Bratsche, ein Komponist, dem geniale Stücke wie selbstverständlich von der Hand gehen. Keiner der jungen deutschen Komponisten kann ihm an Produktivität und internationalem Erfolg das Wasser reichen. Die 1920er Jahre in Deutschland mit ihrer Freiheit und Experimentierfreude waren für den jungen Hindemith das ideale Umfeld, um sich künstlerisch zu entwickeln und sich einen Namen zu machen. Nun wartet die Welt auf eine große Oper aus seiner Feder. Zugleich werden die Zeiten rauer, was auch dem eher unpolitischen Musiker Hindemith nicht verborgen bleibt. Hindemith begreift sich als deutscher Künstler, aber Nationalismus – oder gar Nationalsozialismus – ist ihm fremd. Dadurch, dass er Matthias Grünewald in den Mittelpunkt einer Oper stellt, reklamiert er für sich, für die wahre deutsche Kunst zu sprechen. Er schreibt über einen Künstler, der ins Räderwerk der Politik gerät und sich in eine Situation manövriert, in der er nur noch Fehler machen kann. Mit der Machtübernahme der Nazis 1933 steckt Hindemith in genau einer solchen Lage. Er ist nicht in Gefahr, im Gegenteil, die Nazis umwerben ihn zunächst und wollen von seinem internationalen Renommee profitieren. Hindemith ist weder Jude noch Sozialist, und wenn seine Musik auch für nationalsozialistische Ohren zu modern klingt, ist sie doch weit entfernt von der radikalen Avantgarde Schönbergs und seiner Schüler. Aber Hindemith graust es vor den Nazis. Als er sich öffentlich gegen sie stellt, überzieht ihn Goebbels öffentlich mit Schmähungen und verbietet die Aufführung seiner Werke in Deutschland. Das betrifft auch die Uraufführung der fertigen Oper „Mathis der Maler“. Nach fünf Jahren Naziherrschaft gibt Hindemith die Hoffnung auf, als Künstler mit Rückgrat noch in Deutschland leben zu können, und geht ins Exil.


Mathis, der Vollender

Für Hindemith ist „Mathis der Maler“ ein Meilenstein seiner Komponistenkarriere. Jahrelang begibt er sich immer tiefer in den Stoff hinein. Da die Renaissance sich wenig um Künstlerbiografien scherte, gibt es zu Grünewalds Leben nur wenige und unsichere Überlieferungen, was für Hindemith den Vorteil hat, sich mit diesem Stoff alle Freiheiten nehmen zu können. Seine Suche nach einem Librettisten – vor allem Gottfried Benn ist im Rennen, interessiert sich für den Stoff aber zu wenig – führt nicht zum Ziel, deshalb schreibt er sich seinen Text schließlich selbst. Das Libretto atmet noch den Geist des Expressionismus, der Ton ist hochgestimmt, zugleich findet der literarische Autodidakt Hindemith für seine Figuren sehr konkrete und plastische Sätze und charakterisiert sie knapp und präzise.

Vom historischen Matthias Grünewald wissen wir nicht viel, nicht einmal seinen Namen. Er könnte Matthias Grünewald geheißen haben, aber auch Mathis Gothart oder Mathis Nithart oder irgendeine Kombination aus diesen Namen. Gelebt hat er etwa von 1480 bis 1530, sein Geburtsort war vermutlich Würzburg. Gelernt, gelebt und gemalt hat er wahrscheinlich auch in Nürnberg, sicher aber in Aschaffenburg. Er war Beamter am erzbischöflichen Hof in Mainz. Zwischen 1512 und 1516 schuf er sein Opus magnum, den Isenheimer Altar, und lebte zu der Zeit möglicherweise in Straßburg. Als Hofmaler des Kardinals Albrecht von Brandenburg sympathisierte er wohl mit den aufständischen Bauern und schied aus dem Hofdienst aus. Später vermutete man ihn in Frankfurt am Main und Halle. Aber ob das alles so gewesen ist? Ob der, dessen Leben man da erzählt, auch wirklich der Schöpfer der berühmten Bilder war? Der Maler Mathis bleibt letztlich ein Phantom der Kunstgeschichte und damit der perfekte Held für eine Geschichte über die Kunst.

So konstruiert Hindemith sich seinen Mathis und die vielen Linien, die von ihm zum Komponisten selbst führen. Für Hindemith ist Mathis ein Maler, der die mittelalterliche Malkunst zur höchsten Vollendung führt und damit den Beginn einer neuen Epoche markiert, genau wie Hindemith sich selbst als Erbe und Vollender der europäischen klassischen Musik versteht. Er ist ein Könner, der die künstlerischen Mittel vollkommen beherrscht, aber vom Lauf der Welt von seiner Mission abgebracht wird. Einer, dem es gelingt, das Leid und die Not der Menschen darzustellen und sie dadurch zu trösten. Und er ist ein Künstler, der in aufgeheizten Zeiten entscheiden muss, wie sehr er sich in die Untiefen der Politik begibt oder sich von ihnen fernhält, um an seinem Werk zu schaffen.


Der Isenheimer Altar wird Musik

Mathis‘ Werk ist der Isenheimer Altar. Er ist nur eines der überlieferten Kunstwerke des Matthias Grünewald, aber dasjenige, das mit seinem Namen am engsten verbunden ist. Wie der zuvor in Mainz ansässige Künstler zu dem Auftrag auf der anderen Rheinseite kam, wissen wir nicht. Er sollte einen Altar für das Hospital des Antoniter-Ordens in Isenheim bei Colmar gestalten. Die Antoniter, die sich auf den nordafrikanischen Einsiedler Antonius den Großen beriefen, waren spezialisiert auf die Pflege von Kranken, vor allem solchen, die vom „Antoniusfeuer“ befallen waren. Diese vom Mutterkorn-Pilz hervorgerufene Vergiftung führte zu schweren Durchblutungsstörungen, zum Absterben von Gliedmaßen und einem qualvollen Tod. Die Antoniter verfolgten den Ansatz, Kranke nicht nur körperlich zu pflegen, sondern sie durch das Betrachten von Kunstwerken auch mental zu stärken. So sollte die Betrachtung der Leiden Christi und der Heiligen durch Identifikation das Leid lindern. Das, was wir heute als Meisterwerk im Musée Unterlinden in Colmar betrachten können, ist ursprünglich als Trost für leidende, sterbende Menschen entstanden. Der Maler erfüllte die Aufgabe, indem er die Märtyrer, vor allem aber Christus selbst als von Schmerzen geplagte Elendsgestalten darstellte. Sein Gekreuzigter hat nichts Göttliches mehr an sich, eine geschundene Kreatur, ausgemergelt, übersät mit Wunden und Geschwüren, die Dornen seiner Krone verteilen sich über den ganzen Körper, die Gliedmaßen verkrümmt, die Haut fahl und grünlich, der Mund geöffnet wie im letzten Todesseufzer. Kein göttlicher Held, sondern ein Mensch am Nullpunkt, so realistisch dargestellt, dass die große Wunde in seiner Seite dem Betrachter Übelkeit verursacht. Einer, den die Aussätzigen als einen von ihnen begreifen konnten. Die Menschwerdung Gottes, dargestellt von ihrer radikal hässlichen Seite.

Die Entstehung des Isenheimer Altars ist nicht direkt Thema in „Mathis der Maler“. Keine Szene spielt in Straßburg oder Colmar. Aber die Bezüge der Oper auf die Tafeln des Isenheimer Altars sind vielfältig. Sie beginnen schon in der Ouvertüre, die Hindemith „Engelskonzert“ nennt und das fröhliche Orchester der Engel hörbar macht, das im Altarbild zur Verkündigung Marias aufspielt. Auf ihrer Flucht durch den Odenwald beschreibt Mathis der ängstlichen Regina die musizierenden Engel seines Bildes. Die wuchtigste Isenheimer Szene ist das 6. Bild der Oper, die von der Versuchung des Heiligen Antonius erzählt. Antonius ist gemeinsam mit Mathis und Hindemith der dritte im Bunde derer, die eigentlich in der Verborgenheit ihrer Berufung leben wollen, aber gezwungen sind, sich mit der Welt einzulassen. Der Eremit Antonius, dargestellt von Mathis selbst, wird in der Wüste von seinen Dämonen verfolgt: der „Üppigkeit“ und der „Buhlerin“, also der Verlockung von Sex und ausschweifendem Leben; der Geldgier, der Armut, dem Märtyrertum, der kalten Vernunft und der kriegerischen Gewalt, bis schließlich ein ganzer Dämonenchor über den Wüstenvater herfällt. Aus dieser schrecklichen Lage befreit ihn ein anderer Einsiedler, der historisch nicht belegte Paulus von Theben, der im Stück die Gestalt Albrechts von Brandenburg trägt. Er erinnert ihn an seine Aufgabe: Sein überragendes künstlerisches Talent verpflichte ihn dazu, zwischen Gott und den Menschen zu vermitteln. Er aber habe seine Mission schleifen lassen, indem er sich mit Politik und Krieg eingelassen habe, wo er nichts bewirken könne. Paulus (Albrecht) fordert Antonius (Mathis) auf, wieder zur Kunst zurückzukehren und unbeeindruckt vom Lauf der Welt an seinem Werk zu arbeiten.


„Des Schaffens Boden“

Der Rückzug des Künstlers in die Kunst ist die Quintessenz einer Oper, die vom Zweifel handelt. Sicher gibt es Künstlerinnen und Künstler, die unbeirrbar überzeugt sind von dem, was sie tun, und andere, deren Naivität einer Selbstreflexion im Wege steht. Weitaus häufiger aber sind diejenigen, die Phasen des Selbstzweifels kennen und durchleiden. Wer Kunst macht, steht auf schwankendem Grund und hat das Scheitern immer vor Augen: Ist es gut, was ich mache? Hat es einen Sinn außerhalb meiner eigenen Befriedigung? Erreiche ich damit jemanden? Trägt meine Kunst etwas dazu bei, die Welt und das Leben der Menschen besser zu machen? Oder, wie Mathis es selbst formuliert: „Wo ist des Schaffens Boden?“ Diese Fragen brodeln in Mathis und brechen heraus, als der gejagte Schwalb das Kloster betritt. Er sieht plötzlich eine Chance, sich auf die richtige Seite zu stellen. Der Kampf an der Seite der unterdrückten Bauern ist moralisch über jeden Zweifel erhaben. Wie die linken Künstler der 1960er und 1970er Jahre ergreift er Partei und will den Armen und Rechtlosen eine Stimme geben. Seine Kunst soll nicht mehr unabhängig sein, sondern einen Standpunkt haben und die Welt verbessern. Aber der Ausflug auf vermeintlich moralisches gesichertes Terrain wird zum Desaster. Die Bauern wollen diesen Fremdkörper aus einer anderen sozialen Sphäre nicht, er selbst ist von der Brutalität ihres Kriegs abgestoßen. Sein politisches Engagement ist ein beinahe tödliches Missverständnis. Mathis bleibt ein Kunst-Clown, der mit der Realität schlecht umgehen kann: unbeherrscht, naiv, beziehungsunfähig. Als er den Kampf enttäuscht aufgegeben und Ursulas Liebe endgültig zurückgewiesen hat, bleibt ihm nichts mehr – außer der Kunst. Paulus/Albrecht macht ihm klar, dass sie seine einzige Aufgabe ist und immer war. In diesem Rat des Freundes findet Mathis Erlösung. Eine Erlösung, die Hindemith als Zeitgenossen des furchtbaren 20. Jahrhunderts versagt blieb.

Dass diese Erlösung auch ein ziemlich egoistischer Selbst-Freispruch ist, der durchaus auf Kosten anderer geht, zeigt sich an Ursulas Schicksal. Sie wird dreimal abgewiesen und abgewertet: von ihrem früheren Geliebten Mathis, von ihrem Vater Riedinger, für den sie nur eine kleine Figur in einem großen politisch-religiös-finanziellen Spiel ist, und von Albrecht, der ihr Opfer nicht will und sich lieber in die Arme Roms als in ihre wirft. Trotzdem bleibt sie bei Mathis und hilft ihm, sein Werk zu vollenden. Auch wenn sie es mit Stolz und aus freiem Willen tut, ist hier vermutlich einem Typus dienender Künstler-Ehefrauen ein Denkmal gesetzt, wie ihn Hindemith selbst in seiner Frau Gertrud gefunden hat.


Tonsatz und Handwerk

Hindemith war ein strenger Komponist, für den beim Komponieren handwerkliches Können mehr zählte als Subjektivität und Emotionalität. Er schrieb ein Standardwerk über den Tonsatz und akzeptierte seine Studenten in Berlin, Yale und Zürich nur, wenn sie bereit waren, seine objektiven Grundsätze guten Komponierens zu erlernen. Entsprechend ist „Mathis der Maler“, so ungewöhnlich diese Musik auch klingt, voll von traditionellen Formen und Anspielungen auf die Musikgeschichte. Besonders barocke Vorbilder finden sich in der Oper immer wieder. Albrecht tritt im 2. Bild zu den Klängen eines Concerto grosso auf, der Luther-Brief im 3. Bild ist als Chaconne komponiert. Manche melodischen Figuren erinnern an die Musik der Renaissance und an gregorianische Choräle, andere an Volkslieder. Auch evangelische Kirchenchoräle spielen eine Rolle. Aus diesen Bezügen entwickelt Hindemith eine sehr eigene, manchmal spröde, manchmal lodernde Tonsprache. Die Motive des Engelskonzerts der Ouvertüre und der Versuchung des Antonius im 6. Bild durchziehen die ganze Oper. Nach seinen Experimenten in den 1920er Jahren bedeutet „Mathis der Maler“ für Hindemith eine Wendung zum Neoklassizismus. Er arbeitet nicht atonal, sondern mit einer „freien Tonalität“, die sich nicht auf bestimmte Tonarten festlegt, sondern sie gleichberechtigt nebeneinander stehen lässt.


Ein Nachkriegs-Hit

1934 hatte Hindemith die etwa halbstündige „Symphonie Mathis der Maler“ unter der Leitung von Wilhelm Furtwängler in Berlin zur Uraufführung gebracht. Sie besteht aus drei Sätzen: dem „Engelskonzert“, das in der Oper zur Ouvertüre wird; der „Grablegung“, die nach Reginas Tod erklingt; und der „Versuchung des Heiligen Antonius“. Die Symphonie hatte überwältigenden Erfolg und ist bis heute Hindemiths populärstes Stück im Konzertsaal. Und sie war ein „Teaser“ zur Oper, auf die man in Deutschland gespannt wartete. Als wegen Hindemiths hartnäckiger Nazi-Gegnerschaft 1936 das Aufführungsverbot erging, gab der Komponist die Uraufführung ans Zürcher Opernhaus. Hindemith ließ sich nach Kriegsende Zeit mit der Rückkehr nach Deutschland, seine Oper nicht: Schon 1946 kam sie in Stuttgart zur deutschen Erstaufführung, unter der Leitung von Bertil Wetzelsberger, der in den 1920ern einige Jahre Chefdirigent in Nürnberg gewesen war. In der Folge stürzten sich die deutschen Bühnen auf das Stück. Es hatte alle Zutaten für einen Erfolg in der Nachkriegszeit: eine unbestreitbare musikalische Qualität, gute Sängerpartien, einen Komponisten, der ins Exil gegangen war, aber keine zu großen Berührungsängste gegenüber dem neuen Westdeutschland hatte, und vor allem einen Stoff, der einen großen deutschen Maler aus ferner Zeit zum Helden hatte. In der historischen Entrückung und der Apotheose einer unpolitischen Kunst konnte sich das deutsche Publikum einem scheinbar politikfreien Genuss hingeben. Hindemith, der selbst an Politik wenig interessiert war, hatte nichts dagegen, seinen geläuterten Landsleuten als Großkünstler zur Verfügung zu stehen. So wurde „Mathis der Maler“ zur ikonischen deutschen Oper der 1950er und 60er Jahre. Nach Hindemiths Tod 1963 nahm die Zahl der Neuinszenierungen ab, in den letzten Jahrzehnten fand sich das Stück nur noch vereinzelt auf den Spielplänen. Die Fragen, die er Hindemith in seiner bedeutendsten Oper gestellt hat, und der Künstlertyp des Mathis sind aber heute so aktuell wie zur Zeit ihrer Entstehung.

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