• Magazin Klassik
  • Radio Klassik Stephansdom
  • # 30 | Herbst 2023
  • S. 8-11

Wiener Musiker-Gaststätten

Text: Otto Biba

In: Magazin Klassik, # 30 | Herbst 2023, Radio Klassik Stephansdom, S. 8-11 [Hörermagazin]

Literaten-Café, Künstler-Café … Ohne diese Schlagworte kommen Literaten- und Künstlerbiographien, gegebenenfalls aber auch Stadtführer nicht aus. Und die Komponisten, die Musiker? Die hatten auch ihre Adressen für kollegiale Zusammentreffen, allerdings in der Regel nicht in Cafés, sondern in Gast- oder, wie man früher eher sagte, Wirtshäusern.

Die berühmteste und langlebigste derartige Musiker-Adresse war das 1838 bis zur Demolierung des Hauses im Jahr 1904 dort bestandene Gasthaus „Zum rot(h)en Igel“. Da sich das Layout der Straßenzüge in dieser Gegend geändert hat, ist seine Lage nur ungefähr mit den heutigen Adressen Brandstätte 8 und Wildpretmarkt 1 zu identifizieren. (An der Ecke des heutigen Hauses Brandstätte 8 ist in luftiger Höhe ein Relief angebracht, das an den vormaligen „Roten Igel“ erinnert.) Wichtig an seiner Lage war, dass es mit seiner Hinterfront an den Hof des Hauses Tuchlauben 12 stieß, des 1831 eröffneten und bis 1870 dort bestandenen alten Musikvereinsgebäudes. Von diesem gab es über den Hof einen Durchgang zum Wildpretmarkt. Durch den konnten alle im Musikvereinsgebäude probenden und auftretenden Künstler sowie die Mitarbeiter des Musikvereins, allen voran die Professoren des Konservatoriums der Gesellschaft der Musikfreunde, und nicht zuletzt die Besucher der Konzerte zum „Roten Igel“ gelangen, der fast eine Art Kantine des Musikvereins war. Ein Komponisten- und Musikertreffpunkt, aber kein isolierter, denn mit ihnen saßen Tisch an Tisch auch die Konzertbesucher, ebenerdig in Gasthaus-Atmosphäre oder im ersten Stock im Extrazimmer bzw. Speisesaal. In der Regel waren die Musiker unten in der Gaststube zu finden. Ob Brahms, Bruckner, Mahler oder kleinere Geister, ortsansässige Orchestermusiker oder reisende Virtuosen: Man aß im „Roten Igel“, der sich – mit der Zeit gehend – später sogar Restaurant nannte, aber ein Gasthaus geblieben ist. Geblieben ist er auch der Musikertreffpunkt, nachdem 1870 das neue Musikvereinsgebäude auf dem Karlsplatz eröffnet worden und bald danach auf dem Grundstück des alten Musikvereinsgebäudes ein Zinshaus, der „Mattoni-Hof“, errichtet worden war.

In dem Mitte der 1780er Jahre erbauten Haus Singerstraße 13 gab es das kurz vor dem März 1840 eröffnete Gasthaus „Zum Amor“. Das Nachbarhaus lag an der Ecke zur Grünangergasse, in der sich im Haus Nr. 8 die Redaktion der seit Jänner 1841 erscheinenden „Allgemeinen Wiener Musikzeitung“ befand. Deren Mitarbeiter gingen gerne „Zum Amor“. Für Wiener Musiker oder als Gast nach Wien kommende Musiker war diese Redaktion eine wichtige Adresse: Man wandte sich dorthin, um sich vorzustellen, um Informationen zu lancieren, wenn man um die Ankündigung und Besprechung eines Konzertes oder einer neu erschienenen Komposition bitten wollte. Oder man ging gleich „Zum Amor“, wo man den Redakteur vielleicht ungezwungener treffen konnte. Dort war man auch unter seinesgleichen: Das Gasthaus „Zum Amor“ war ein Musikertreffpunkt, vor allem für die, die nicht oder noch nicht im Musikverein verwurzelt waren und deshalb nicht in den „Roten Igel“ gingen, und für die Neuankömmlinge, die dort (nicht zuletzt über die oder wegen der Redaktion der „Allgemeinen Wiener Musikzeitung“) erste Kontakte knüpfen konnten. Das machte auch Otto Nicolai, als er 1841 als Hofopernkapellmeister nach Wien engagiert worden war. Dass Wiener Musiker dort mit dem neuen Herrn Kapellmeister auch darüber gesprochen haben, dass es in Wien kein Berufsorchester für Konzertauftritte gab, kann man sich gut vorstellen. Dass im „Amor“ die Wiener Philharmoniker gegründet wurden, die unter Otto Nicolai am 28. März 1842 an die Öffentlichkeit traten, ist jedoch eine Mär.

Im Gasthaus „Zum Lothringer“ (im vormaligen Haus Kohlmarkt 16) traf regelmäßig ein Komponisten- und Musikerzirkel zusammen, dem der Name Brahms schon ein Begriff war, bevor dieser erstmals nach Wien gekommen war. Sie gründeten einen Chor, planten für August 1862 ein Musikfest und baten Brahms brieflich um ein Werk, das sie dabei uraufführen wollten. Brahms sandte einen Männerchor, über dessen Aufführung oder Nicht-Aufführung es zu einem Streit kam, aber das ist schon Wiener Musikgeschichte, freilich geschrieben beim „Lothringer“.

Wer die waren? Damals namhafte Exponenten der Wiener Musikszene, heute für Nicht-Spezialisten „No-Names“, mit Ausnahme von Carl Goldmark, der mindestens als Komponist der „Königin von Saba“ fortlebt. Und der „Lothringer“? Lassen wir doch wenigstens eine der hier genannten Gaststätten vor unseren Augen erstehen: „Durch den Hausflur“, erinnerte sich der1886 verstorbene Wiener Ministerialbeamte Johann Newald, „kam man in ein schmales, langes, niederes Gelaß, das mit seinem Kreuzgewölbe halb klösterlich, halb kellermäßig aussah. Dieser eine Raum repräsentirte zugleich all’ die socialen Abstufungen, die das Wiener Gasthaus characterisiren. Ein ungedeckter Tisch gleich beim Eingange stellte die ‚Schwemme‘ dar, wo sich Fiaker, Lakaien, das mindere Dienstpersonale aus der Hofburg, Theaterarbeiter [aus dem schräg gegenüber liegenden alten Burgtheater] u.s.w. auf ein ‚Stehseidel‘ niederließen. Die anstoßenden, weiß gedeckten Tische waren schon das Gastzimmer, dessen Insassen sich an der oft recht lauten Nachbarschaft nicht stießen. […] Es war eben ganz ‚riesig‘ gemütlich hier […] Der rückwärtige Theil der Stube, in den das Licht der Sonne niemals drang, war quasi das Extrazimmer. […] Das Stammpublicum des ‚Lothringers‘ war übrigens ein durchaus anständiges, ja zum Theile ein distinguirtes.“

Als Brahms im Oktober 1862 nach Wien kam, wurde er ziemlich bald selbst Mittelpunkt einer Musikerrunde, die sich regelmäßig in dem bis 1868 bestehenden Gasthaus von Vinzenz Vater in der Krautgasse Nr. 4 traf. Dieses Lokal war für das stets frisch bezogene Bier aus dem Münchener Hofbräuhaus und die ebenso stets frischen Salzburger Würste bekannt. Der neben Brahms heute bekannteste in dieser Runde: Julius Epstein, der 1875 Mahlers Genie erkannt und sein Lehrer am Wiener Konservatorium wurde. Die Krautgasse war im Übrigen eine bis 1887 existierende kleine Seitengasse des Graben.

Die Mitglieder des aus einer geselligen Musiker-Runde hervorgegangenen und 1885 formell begründeten „Wiener Tonkünstlervereins“ bevorzugten für gesellige Vereinstreffen oder -veranstaltungen das Gasthaus „Zum Hirschen“ in der Paniglgasse, wo sie zum Beispiel Geburtstage ihrer Mitglieder feierten, 1896 zum letzten Mal den ihres Mitbegründers Johannes Brahms. Bleiben wir noch bei ihm: Im Restaurant ‚Gause‘ in der Johannesgasse war Brahms in den 1880er Jahren oft in einer musikalischen „Tafelrunde“ zu sehen und nach Wien kommenden Gästen empfahl er das Lokal, das übrigens auch von Bruckner gerne besucht wurde. Mit dem „Wiener Akademischen Gesangverein“, der mehrere Werke von Brahms auf- oder uraufgeführt hatte, ging Brahms gerne in das Gasthaus „Zur schönen Laterne“ (Schönlaterngasse), wo er eine Zeitlang als Stammgast verkehrte und wohlbekannt war, wie sich Richard Heuberger erinnerte.

Sehen wir die „Schöne Laterne“ als ein Beispiel für alle Gaststätten, in die Ensembles nach Proben einkehrten und rufen wir uns in Erinnerung, dass manche Laien-Ensembles sogar in den Sälen oder Extrazimmern von Gasthöfen ihre Proben abhielten; zum Beispiel der um 1895 von Arnold Schönberg geleitete „Musikalische Verein Polyhymnia“, der einmal wöchentlich in der Restauration „Zur großen Tabakspfeife (Graben 29, Goldschmiedgasse 7a) probte, weshalb die musizierenden Vereinsmitglieder samt ihrem Leiter dort treue Gäste waren. Heute gibt es ein Nachfolgelokal gleichen Namens in der Jasomirgottstraße. Eigentlich seltsam, wie uns diese paar Beispiele vor Augen führen, wie kurzlebig Gaststätten waren, die vom Bestehen des Hauses oder vom Geschäftsgang abhängig waren, immer mit der Zeit gehen mussten, auch Moden unterlagen, wenn sie überhaupt noch an der ursprünglichen Adresse existieren, aber kaum mehr als Gedenkstätte zu betrachten sind. Ein mit Schönberg in der Tabakspfeife zu vergleichendes Beispiel: Im Saal des Restaurants Jahn in der Himmelpfortgasse Nr. 6 sind viele Musiker und Komponisten aufgetreten, haben auch Mozart und Beethoven Uraufführungen ihrer Werke geleitet. Das Haus steht noch, wo sich im ersten Stock der Saal befand, ist jetzt ein Gewerbebetrieb. In den Gewölben im Parterre ist immer noch eine Gaststätte, das Café Frauenhuber, aber außer dieser gastgewerblichen Kontinuität erinnert nichts mehr an Mozart und Beethoven.

Es gab Gasthäuser und Cafés, die sowohl von bildenden Künstlern und Literaten wie von Musikern frequentiert wurden, aber nicht im eigentlichen Sinn Musikertreffpunkte waren, wie etwa die heute noch bestehenden „Drei Hacken“ in der Singerstraße auf Nummer 28, wo der Tradition nach Franz Schubert, vor allem aber Johann Nestroy, der Schauspieler und Schriftsteller Wenzl Scholz und andere Schauspieler wie Literaten verkehrten, und man diese Tradition noch ahnen kann. Nicht zu vergessen die Gasthäuser, die von Musikern und Musikliebhabern fast zwangsläufig frequentiert wurden, weil sie in unmittelbarer Nähe von Musiktheatern lagen, wie das „Michaeler Bierhaus“, das auf dem Michaelerplatz, fast gegenüber von dem bis 1792 auch als Opernbühne dienenden alten Burgtheater, lag und nach dessen Demolierung bis 1973 weiterbestand, oder das „Komödienbierhaus“ in unmittelbarer Nähe zum Kärntnertortheater, der alten Hofoper.

Freilich hatte jeder Komponist, jeder Musiker auch sein persönliches Stammlokal oder seine zumindest gerne aufgesuchte Gaststätte, wie zum Beispiel Franz Schubert vor allem die Lokale „Zum grünen Anker“ in der Grünangergasse, „Zur Schnecke“ auf dem Petersplatz, „Zum römischen Kaiser“ auf der Freyung, „Zum Rebhuhn“ in der Goldschmiedgasse oder „Zum Blumenstock“ in der Ballgasse. Sie alle existieren nicht mehr. Von Beethoven scheinen bevorzugt gewesen zu sein: „Zum weißen Schwan“, neuer Markt 6/Kärntnerstraße 24, der Seitzerkeller in den Tuchlauben, „Zum schwarzen Kamel“ in der Bognergasse, dessen Name wenigstens noch weiterbesteht, oder der „Matschakerhof“ (Seilergasse 6/Spiegelgasse 5). Brahms traf sich zum Beispiel gerne im Café-Restaurant „Heinrichshof“ (gegenüber der Oper), ging nach einem Konzert im neuen Musikvereinsgebäude fallweise in die „Schwemme“ des „Hotel Imperial“, fühlte sich nachmittags mit Freunden im Stadtpark-Café wohl, bevor er mit ihnen zum Abendessen „wie gewöhnlich“ (so der Augenzeuge Richard Heuberger im März 1896) in den „Roten Igel“ ging.