• Der Dämon
  • Staatstheater Nürnberg
  • Oper von Anton Rubinstein, Saison 2022/23
  • S. 11-15

Psychogramm eines Dämons

Text: Wiebke Hetmanek

In: Der Dämon, Oper von Anton Rubinstein, Saison 2022/23, Staatstheater Nürnberg, S. 11-15 [Programmheft]

Der Dämon streicht ruhelos über Gipfel und Täler des Kaukasus. Weder die schroffen Berge noch die sanften Wiesen wecken sein Interesse. Er hasst die Natur, er hasst die Menschen, er hasst die Langeweile und vor allem hasst er sich selbst. Weil er sich Gott nicht unterordnen wollte, wurde er vor Ewigkeiten aus dem Himmel verstoßen und sät seitdem das Böse auf der Erde. Aber auch das langweilt ihn mittlerweile. Als er Tamara erblickt, keimt in ihm die Hoffnung auf, durch Liebe erlöst zu werden. Oder ist die Fürstentochter doch wieder nur eine kleine Abwechslung auf seiner ruhelosen Reise um die Welt?


Der moderne Mensch

Der Dämon ist ein Ausgestoßener, der sich nach Gemeinschaft sehnt, sich aber nicht einzugliedern vermag; ein Rebell, der seine Außenseiterrolle genießt und gleichzeitig an ihr verzweifelt. Er ist ein zutiefst romantischer Charakter. Nicht zuletzt wegen der Verserzählung „Der Dämon“ gilt ihr Autor Michail Lermontow neben Puschkin als wichtigster Vertreter der russischen Romantik. Dabei hatte sich der Dichter mit seiner „orientalischen Erzählung“, wie das Poem im Untertitel heißt, schwergetan: In zwölf Jahren waren acht Fassungen entstanden, erst kurz vor seinem frühen Tod 1841 konnte er es abschließen. Seine literarischen Vorbilder haben in dem Text deutliche Spuren hinterlassen: Neben Puschkin ist es v.a. der von ihm hoch geschätzte Lord Byron, dessen literarischem Typus des narzisstischen Antihelden der Dämon entspricht. Doch ebenso wie seine Idole ist auch Lermontows eigene Handschrift deutlich zu erkennen. Die Ambivalenz der Gefühle, der Zweifel an der Weltordnung, die Polarität zwischen Liebe und Tod sind Themen, die sein gesamtes Werk durchziehen. Mindestens ebenso wichtig wie diese inhaltlichen Schwerpunkte sind seine ausgiebigen Naturschilderungen. Lermontow setzt sie kunstvoll zwischen die einzelnen Szenen und kontrastiert, spiegelt, beschleunigt oder verlangsamt die eigentliche Handlung. Die beschriebene Kaukasus-Region zwischen Schwarzem und Kaspischem Meer kennt er seit seiner Kindheit, mit ihrem Schatz an Legenden ist sie in seinem gesamten Schaffen präsent, vor allem aber im „Dämon“ – der einer georgischen Version der Legende vom gefallenen Engel folgt. In den Naturschilderungen zeigt sich Lermontows farbenreiche Sprache, während die Monologe des Dämons psychologische Studien einer zerrissenen Seele sind. Dieser Figur haftet wenig Übernatürliches an, sie spiegelt vielmehr das Schicksal des modernen Menschen, der sich, enttäuscht vom Leben und an der Weltordnung zweifelnd, der Sinnlosigkeit seines eigenen Daseins gegenübersieht.


Offene Struktur

Lermontows Poem erschien posthum 1856 zunächst in Karlsruhe; denn in Russland war das Werk wegen seines rebellischen Inhalts – der Dämon opponiert immerhin gegen die bestehende Ordnung – verboten. Erst 1860 konnte es auch in Russland verlegt werden.

Die Erzählung umfasst 16 Abschnitte von unterschiedlicher Länge, nicht alle sind durch ein Versmaß gebunden. Diese offene Struktur scheint als Vorlage für ein Opernlibretto auf den ersten Blick denkbar ungünstig. Sie hat wenig gemein mit dem klassischen drei- oder fünfaktigen Aufbau eines Dramas, und die Konflikte spielen sich eher im Inneren des Protagonisten als im äußeren Geschehen ab. Tatsächlich hatte der Komponist Anton Rubinstein Schwierigkeiten, einen Librettisten für sein Opernprojekt zu gewinnen. Nach Gesprächen mit dem Schriftsteller Jakow Polonski schrieb er selbst ein Szenario. Für die Ausarbeitung des Librettos zog er den Schriftsteller Apollon Maikow hinzu und nach dessen Absage schließlich den Lermontow-Spezialisten Pawel Wiskowatow. Doch auch von ihm trennte er sich nach heftigen Auseinandersetzungen, er hatte offenbar zu konkrete Vorstellungen und ließ seinen künstlerischen Partnern wenig Raum für eigene Ideen.


Ungewöhnliche Dramaturgie

Für die Dramatisierung der Vorlage hat Rubinstein das Personal ein wenig erweitert: Der Bräutigam Sinodal bekommt ein größeres Gewicht, außerdem ergänzt er die Amme, den alten Diener und einen Boten. Die Auseinandersetzung mit dem Engel, der bei Lermontow erst im Kloster auf den Dämon trifft, beginnt bei Rubinstein bereits im ersten Bild. Der Kampf um die Seele Tamaras wird damit aufgewertet und bildet eine Art Rahmenhandlung

Rubinsteins dramaturgische Anlage ist ungewöhnlich für ihre Zeit: Während der zweite Akt mit seinen Genreszenen, einer großangelegten Balletteinlage, imposanten Chören und einem eindrucksvollen Aktfinale den Opernkonventionen seiner Zeit entsprach, sind die beiden Außenakte ganz auf die Psychologie der Protagonisten, namentlich auf die des Dämons konzentriert und bestechen durch ihre Reduktion. Wie bei Lermontow dominiert auch in der Oper die Titelfigur. Lediglich im 3. Akt, einem langen Dialog zwischen Dämon und Tamara, bekommt eine andere Figur eine musikalisch und szenisch gleichberechtigte Stellung.


Szenenoper

Musikalisch scheint Rubinstein der offenen Struktur seiner literarischen Vorlage zu folgen. Namentlich in den Außensätzen entfernt auch er sich von geschlossen Formen wie Arien oder Ensembles, er lässt die Nummern stattdessen fließend ineinander übergehen – darin dem „Fliegenden Holländer“ (1843) von Richard Wagner nicht unähnlich, der auch inhaltlich einige Parallelen zum „Dämon“ aufweist. Der Musikwissenschaftler Carl Dahlhaus hat für diese Form den Begriff „Szenenoper“ geprägt: Die einzelnen Nummern eines Bildes werden zu größeren Komplexen zusammengefasst, die harmonisch, melodisch und/ oder motivisch zusammenhängen. Einige Erinnerungsmotive, wie etwa das Versprechen des Dämons „Du wirst die Herrin der Welt“, spannen zudem einen Bogen über die gesamte Oper.

Im dritten Akt weicht Rubinstein am weitesten von den Opernkonventionen seiner Zeit ab: Das Zwiegespräch zwischen Tamara und dem Dämon nimmt fast zwei Drittel des gesamten Aktes ein, und Rubinstein vertont ihn – wie Lermontow – formlos, einzig am Wort orientiert.


Kontraste

Wie Lermontows Poem lebt auch Rubinsteins Partitur von Kontrasten: Neben diatonischen, melodischen Teilen, die den „konventionellen“ Figuren vorbehalten sind, zeichnet sich der dämonische Außenseiter durch lange chromatische, melodisch bisweilen abgerissene Passagen aus. Die Macht des Dämons über die Menschen spiegelt sich in der Partitur u.a. darin, dass seine Anwesenheit störend in musikalische Verläufe eingreift oder, wie etwa im 4. Bild, eine zweite Zeitebene zu evozieren vermag: Das Chor-Ensemble wird durch das Auftauchen des Dämons, den nur Tamara wahrnehmen kann, quasi ausgebremst, alles fokussiert sich plötzlich auf die Begegnung von Dämon und Tamara, während für die übrigen Figuren die Zeit stillzustehen scheint.


Vorbild für „Onegin“

„Der Dämon“ ist die neunte Oper von Anton Rubinstein. 1871 hatte er sie bereits fertiggestellt, konnte sie aber wegen der Zensur erst 1875 in St. Petersburg uraufführen. Das Werk wurde bald in ganz Europa nachgespielt, in London, Prag, Kiew, Kopenhagen, Manchester oder Riga. Die Deutsche Erstaufführung fand 1880 in Hamburg statt. Gustav Mahler setzte sich sehr für das Stück ein und dirigierte es 1899 an der Wiener Hofoper. Von Rubinsteins insgesamt 19 Opern ist sie die einzige, die v.a. in Russland bis heute immer wieder auf den Spielplänen erscheint. In der russischen Operngeschichte nimmt sie eine wichtige Schlüsselstellung ein, insbesondere gilt sie mit ihrer Fokussierung auf die innere Handlung, auf die Psychologie ihres Helden und der Darstellung eines modernen, zerrissenen Menschen als direktes Vorbild für Tschaikowskys „Eugen Onegin“.


„Der Dämon“ in Nürnberg

Die Premiere vom „Dämon“ war am Staatstheater Nürnberg im April 2020 geplant. Die szenischen Proben liefen auf Hochtouren, als aufgrund der Corona-Pandemie der Lockdown ausgerufen wurde. Auch die nächste geplante Aufführungsmöglichkeit wurde durch eine erneute Einstellung des Spielbetriebs verhindert. Mittlerweile sind Bühnenbild und Kostüme weitergezogen, die Produktion war Teil einer Kooperation mit drei weiteren Theatern. Die konzertante Aufführung folgt der Strichfassung der ursprünglichen Produktion: Das Regieteam hat sich mehr noch als Rubinstein selbst auf den Konflikt zwischen Tamara und Dämon konzentriert und v.a. im 2. Akt konsequenterweise auf viele lediglich illustrierende Abschnitte verzichtet, wie etwa die Balletteinlage, also vor allem jene Passagen, mit denen Rubinstein in erster Linie die Konventionen bedienen wollte.

Die Videos von fettFilm gehören zur ursprünglichen Produktion. Wir zeigen allerdings nur Teile der zahlreichen Projektionen, die bei der szenischen Aufführung zu sehen waren.

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