• Magazin
  • Oper Frankfurt
  • Mai-Juli 2023
  • S. 6-7

Hoch expressiv

Text: Konrad Kuhn

In: Magazin, Mai-Juli 2023, Oper Frankfurt, S. 6-7 [Publikumszeitschrift]

Es hat immer wieder Komponisten gegeben, die sich mit einem einzigen Werk einen Platz im Opernrepertoire erobert haben. Das kann man mit Einschränkung auch von Rudi Stephans Die ersten Menschen sagen, obwohl das Werk in den letzten Jahrzehnten nicht eben häufig gespielt wurde. Dass es bei diesem erstaunlichen Erstling blieb, ist dem Ersten Weltkrieg geschuldet: Im Alter von nur 27 Jahren wurde der Komponist am 29. September 1915 in einem Schützengraben im galizischen Tarnopol (in der heutigen Ukraine) von einer Kugel tödlich getroffen.

Der expressionistische Schriftsteller Kasimir Edschmid schrieb 1915 über Rudi Stephan, er sei »die bedeutendste musikalische Kraft des jungen Deutschlands«. Solche Hoffnungen setzte auch Ludwig Strecker, der damals den renommierten Schott Verlag führte, in den aufstrebenden Komponisten und nahm dessen Werke ins Programm. Ebenso begeisterte sich Ludwig Rottenberg, seit 1892 Erster Kapellmeister an der Frankfurter Oper, für Rudi Stephan – wie zuvor schon für Franz Schreker, dessen Der ferne Klang er 1912 in Frankfurt uraufgeführt hatte (später gefolgt von Die Gezeichneten und Der Schatzgräber). Die bereits für 1915 geplante Uraufführung der Ersten Menschen fand jedoch kriegsbedingt erst am 1. Juli 1920 statt – fünf Jahre nach Stephans frühem Tod.


Gemusst, nicht ertüftelt

Frankfurt spielte schon früh eine Rolle in Rudi Stephans Leben. Hier ging der 1887 in Worms geborene angehende Komponist bei Bernhard Sekles in die Lehre; der Dirigent, Pianist, Komponist und Pädagoge unterrichtete am Hoch’schen Konservatorium u.a. Otto Klemperer, Paul Hindemith und Theodor W. Adorno. Rudi Stephan lernte bei ihm neben handwerklichem Rüstzeug wohl auch die Theorien des Musikschriftstellers Georg Capellen kennen. Capellen versuchte, den weltanschaulichen Ansatz des Monismus als Prinzip auf die Harmonielehre zu übertragen: So wie der Monismus die manichäische Aufspaltung von Leib und Seele, Materie und Spiritualität zu überwinden trachtet, sollte in der Musik nicht mehr die dialektische Spannung zwischen verschiedenen Polen (etwa der Dur-Moll-Gegensatz) bestimmend sein, sondern ein ganzheitliches Denken.

Dem jungen Rudi Stephan müssen solche Gedanken neue Horizonte eröffnet haben. Zunächst ging er jedoch nach München und setzte seine Studien bei Rudolf Louis fort. 1908 legte er sein Opus 1 für Orchester vor. Bewusst entschied er sich, keine Ausbildung im akademischen Sinne anzustreben, und versuchte sich von äußeren Einflüssen abzuschotten. Fern vom Opern- und Konzertbetrieb wollte er seine eigene künstlerische Stimme entwickeln. Eine erste öffentliche Aufführung seiner Werke brachte wenig Erfolg. Großzügig von seinen Eltern unterstützt, verfolgte Rudi Stephan weiter seinen Weg und erregte 1912 auf dem Tonkünstlerfest in Danzig Aufsehen. Der renommierte Musikkritiker Paul Bekker erkannte in seiner Musik für sieben Saiteninstrumente »eine eigene, neuartige Tonsprache von überraschender klanglicher Ausgiebigkeit, deren Absonderlichkeiten auch da, wo sie zunächst befremden, den Stempel des Gemussten, nicht des Ertüftelten tragen«.

Den endgültigen Durchbruch brachte die Uraufführung der Musik für Orchester im darauffolgenden Jahr beim Tonkünstlerfest in Jena. Der Kritiker Eugen Thari schrieb: »Was in den knapp 20 Minuten dieser Musik an Gehalt, Schöpferpotenz, Ausdruck und Können aufgespeichert ist, steht so weit über allem, was wir sonst hörten, dass es keine Vergleichspunkte gibt.« Und der schon zitierte Paul Bekker schrieb diesmal in der Frankfurter Zeitung: »Augenscheinlich hat sich hier in der Stille ein Talent von ungewöhnlichen Maßen entwickelt – noch nicht zu der ihm erreichbaren Reife, wohl aber bis zu einem Grade von künstlerischer Mitteilungsfähigkeit, der schon einen neuen Klang in uns ertönen lässt«.


Anders als in der Bibel

Rudi Stephan blieb in München. Hier kam ihm wohl der Dramatiker Otto Borngräber (1874–1916) unter. Er hatte 1908 mit seinem »erotischen Mysterium« Die ersten Menschen Aufsehen erregt; in Bayern wurde dieses Theaterstück von der Zensur verboten. Ein Anknüpfungspunkt mag Borngräbers Eintreten für den Monismus gewesen sein. Vor allem in dem Skeptizismus, den die Figur des Kajin gegenüber der Heilslehre seines Bruders Chabel an den Tag legt, scheint solches Gedankengut auf. Fasziniert war Rudi Stephan augenscheinlich auch vom Pathos der hochexpressiven Sprache Borngräbers. Dessen merkwürdiges Drama erzählt die Geschichte vom ersten Brudermord etwas anders, als wir sie aus der Bibel kennen. Gerade ein Stoff, der über den »üblen, üblichen Theatergeschmack« hinausging, inspirierte den Komponisten. In Borngräbers Skandalstück fand er emotionale Anknüpfungspunkte für seine Musik. Trotz exorbitant hoher Honorarforderungen des Tragödiendichters und besorgter Einwände seines Freundes Karl Holl wie auch seines Verlegers Ludwig Strecker hielt er daran fest: Dieses Sujet sollte seiner ersten Oper zugrunde liegen.

1914 schloss er die Partitur der Ersten Menschen ab. Der großdimensionierte Orchesterapparat wird gekonnt eingesetzt. So sehr Rudi Stephan sich um eine eigenständige Tonsprache bemüht hatte, sind Einflüsse der Zeitgenossen durchaus erkennbar. Das reicht vom Impressionismus eines Claude Debussy, dessen Pelléas et Mélisande Stephan kannte, über Schönbergs Versuche, die traditionelle Harmonik hinter sich zu lassen (wie man es etwa im Pierrot lunaire erleben konnte) bis hin zur gesteigerten Expressivität der beiden frühen Opern Salome und Elektra von Richard Strauss. Trotzdem ist sein Kompositionsstil durchaus singulär und erreicht in den sich stetig steigernden, großangelegten Spannungsbögen ungeheure Ausdruckskraft.

Ein eher begrenzter Motivvorrat wird immer weiter variiert und entwickelt. Dabei schafft die abwechslungsreiche, klangsinnliche Instrumentation Verbindungen zu einzelnen Figuren; so ist etwa das Altsaxophon mit Kajin assoziiert. Die Oper als Ganzes spannt einen großen Bogen, der uns von Anfang bis Ende fesselt: Eine Rarität, die es über 100 Jahre nach der Uraufführung am selben Ort wiederzuentdecken gilt. Das ist auch Sebastian Weigle ein ganz persönliches Anliegen: Mit Die ersten Menschen übernimmt unser Generalmusikdirektor zum Ende seiner Amtszeit ein letztes Mal die Leitung einer Neuproduktion.


 



DIE ERSTEN MENSCHEN
Rudi Stephan (1887–1915)

Oper in zwei Aufzügen / Text von Otto Borngräber / Uraufführung 1920, Opernhaus, Frankfurt am Main / In deutscher Sprache mit deutschen und englischen Übertiteln

PREMIERE Sonntag, 2. Juli
VORSTELLUNGEN 6., 9., 12., 15., 17., 20. Juli

MUSIKALISCHE LEITUNG Sebastian Weigle INSZENIERUNG Tobias Kratzer BÜHNENBILD, KOSTÜME Rainer Sellmaier LICHT Joachim Klein DRAMATURGIE Bettina Bartz, Konrad Kuhn

ADAHM Andreas Bauer Kanabas CHAWA Ambur Braid KAJIN Iain MacNeil CHABEL Ian Koziara