• Die Großherzogin von Gerolstein
  • Staatstheater Nürnberg
  • Operette von Jacques Offenbach, Saison 2022/23
  • S. 13-24

Musik, die lebt

Text: Wiebke Hetmanek

In: Die Großherzogin von Gerolstein, Operette von Jacques Offenbach, Saison 2022/23, Staatstheater Nürnberg, S. 13-24 [Programmheft]

Offenbach und seine Librettisten lieben die Parodie und die Travestie, sie verspotten gesellschaftliche – und musikalische – Verhältnisse im Zweiten Kaiserreich und karikieren dessen Vertreter. Ihre „Offenbachiaden“ sind Zeittheater, sie halten – nach Siegfried Kracauer – dem Second Empire einen „Zerrspiegel“ vor, aber sie sind keine Revolutionäre. Sie profitieren zu sehr von diesem System, als dass sie es abschaffen wollten. Der Kaiser selbst, Napoleon III., gehört zu ihren Zuschauern und amüsiert sich köstlich über die sanfte politische Ironie, deren Spitzen von der Zensur sorgsam geglättet werden. Auch bei der „Großherzogin von Gerolstein“, die von einer illustren Reihe „gekrönter Häupter“ besucht wird. Die „Prinzengarde“, die sich allabendlich nach der Vorstellung in der Garderobe von Hortense Schneider, „der Gerolstein“, einstellt, ist geradezu legendär.

Von Köln nach Paris

1833 bringt Issac Offenbach seinen 14-jährigen Sohn Jakob und dessen Bruder Julius von Köln nach Paris, sie sollen dort ihr Glück als Musiker versuchen. Der Plan gelingt – wenn auch nicht unbedingt so, wie es sich die Eltern vorgestellt haben. Nach einjährigem Besuch des Konservatoriums finanziert sich Jacques, wie er sich fortan nennt, zunächst seinen Lebensunterhalt als Cellist im Orchester der Opéra-Comique, doch bald schon macht er sich einen Namen als reisender Virtuose und als Komponist von Tanzmusik für die Salons. Später wird er Kapellmeister an der Comédie-Française, einem Sprechtheater, und schreibt Zwischenakt- und Bühnenmusiken. Eine Möglichkeit, seine Opern zur Aufführung zu bringen, gibt es für ihn nicht.

Die Pariser Theaterlandschaft ist streng reglementiert: Es gibt überhaupt nur zwei Bühnen, an denen Opern aufgeführt werden dürfen. An der Opéra in der Rue Le Peletier werden die staatstragenden Fünfakter aufgeführt, die „Grand-Opéra“ mit gewaltigen Chorszenen und obligaten Balletteinlagen, wie sie etwa Giacomo Meyerbeer komponiert. Daneben gibt es die etwas kleinere Opéra-Comique. Sie ist reserviert für die leichteren Stoffe, doch hier werden nicht nur Komödien, sondern auch Märchenopern oder fantastische Stoffe aufgeführt. Hauptmerkmal der Werke sind die gesprochenen Dialoge, die die Musiknummern miteinander verbinden. (Auch Bizets „Carmen“ ist eine Opéra-comique und wird am gleichnamigen Haus uraufgeführt.) Für Berufsanfänger gibt es in Paris keinen Platz. Die Grand-Opéra ist eine Nummer zu groß, und auch an der Opéra-Comique gibt es zunehmend die Tendenz zu tragischen Werken mit immer mehr Aufwand, Offenbach bewirbt sich mehrere Male erfolglos. Wie ihm geht es vielen jungen Talenten: Sie bekommen einfach keinen Fuß in die Tür.

Ein neues Zuhause für die Buffo-Musik

„Da ich mich permanent mit der Unmöglichkeit konfrontiert sah, mich aufführen zu lassen, kam mir die Idee, selbst ein Musiktheater zu gründen. Ich sagte mir einfach, die Opéra-comique ist nicht mehr in der Opéra-Comique zuhause, und dass die wirkliche Buffo-Musik, die lustige, geistvolle, also die Musik, die lebt, nach und nach in Vergessenheit geriet.“ Offenbach findet ein leerstehendes Theater, das einem Zauberer und Taschenspieler gehört hatte. Die Lage ist genial: Das Theater liegt direkt an der Einfallstraße zum Areal der Weltausstellung, die im Mai 1855 eröffnet werden soll. Offenbach komponiert, finanziert, renoviert, engagiert und probt unter immensem Zeitdruck, auf den letzten Drücker hält er endlich auch sein Theaterprivileg in der Hand. „Bouffes-Parisiens“ nennt er sein erstes eigenes Theater, wo er fortan der „Buffo-Musik“ eine neue Heimat geben will. So einfach ist es natürlich nicht, der Vorbesitzer hatte nur eine Zulassung für „Kuriositätenspektakel“, und auch Offenbach bekommt lediglich eine Genehmigung für „komische und musikalische Dialogszenen mit zwei oder drei Personen“ und „Tanzszenen mit bis zu fünf Tänzern“ – sowie für Tricks, chinesische Schattenspiele und Puppentheater. Aber was soll’s? Pünktlich zur Weltausstellung ist er fertig, sein Unternehmen von Anfang an ein Erfolg.

Und Offenbach expandiert: Gleich nach dem Weltausstellungs-Sommer zieht er aus der „Bretterbude“ aus und sucht sich ein neues Theatergebäude. Er hat nun das Privileg, die „Szenen“ zu „einem Akt“ zu erweitern. Groteske Überzeichnung, Komik, Slapstick, bisweilen ein Schuss Sentimentalität und immer auch Frivolität sind seine Erfolgszutaten. Über 30 Einakter schreibt er nach diesem Rezept in den nächsten drei Jahren, darunter „Die beiden Blinden“, „Ba-ta-clan“ oder „Ritter Eisenfraß“, bei dem eine der Figuren gleich zu Beginn ein Schwert verschluckt, damit die Anzahl der sprechenden Personen nicht überschritten wird. Im März 1858 werden schließlich sämtliche Einschränkungen aufgehoben, Offenbach hat nun alle Möglichkeiten, darf zwei Akte schreiben und einen Chor auftreten lassen. Er nutzt die neue Freiheit und bringt mit „Orpheus in der Unterwelt“ seine erste mehraktige „Offenbachiade“ zur Premiere.

Auf dem Zenit

Die 1860er Jahre bringen Offenbach einen Erfolg nach dem anderen, es ist seine „goldene“ Zeit: „Die schöne Helena“, „Blaubart“ und „Pariser Leben“ folgen dicht aufeinander. „Die Großherzogin von Gerolstein“ wird 1867 uraufgeführt, abermals ist es eine Weltausstellung, die Offenbachs Ruhm in ganz Europa verbreitet. Für seinen immensen Erfolg sind aber mindestens drei weitere Personen mitverantwortlich: seine beiden Librettisten Henri Meilhac und Ludovic Halévy sowie seine erste Sängerin Hortense Schneider.

Die Offenbachiaden beziehen ihre komische Wirkung auf mehreren Ebenen: Für die Zeitkritik, für den „Zerrspiegel“, der laut Siegfried Kracauer der Gesellschaft vorgehalten wird, sind die beiden Autoren zuständig: Das Second Empire und seine Vertreter finden sich in „Orpheus“ als Götter auf dem Olymp wieder, die Haute volée wird in „Pariser Leben“ aufs Korn genommen, die Finanzwelt in „Die Banditen“. Regelmäßig greift zwar die Zensur in ihre Texte ein, doch die Librettisten sind schlau genug, die Gesellschaftsordnung nicht grundsätzlich infrage zu stellen. Bei aller Frechheit, Parodie und entlarvender Komik: Am Ende bleibt doch jeder da, wo er hingehört, niemand wird vom Thron gestürzt. Die Parodierten selbst bilden schließlich das Stammpublikum in Offenbachs Theater.

Offenbach genießt die politischen Anspielungen und originellen Travestien seiner Librettisten, ist aber selbst kein politisch denkender Mensch. Seine „Zeitkritik“ ist in erster Linie musikalischer Art: Er hat es abgesehen auf die Große Oper, auf deren hohle Rituale und pathetische Floskeln. Grundlage seiner Musik ist der schier unerschöpfliche Reichtum seiner melodischen Erfindungskraft und sein feines Gespür für Rhythmik. Während Harmonie und Struktur seiner Musik eher schlicht bleiben, entfacht er auf rhythmischer Ebene ein wahres Feuerwerk: Kaum ein Couplet, kaum ein Ensemble entkommt dem Sog seiner Tanzrhythmen: Galopp oder Can-Can und aberwitzige Tempi treiben die turbulenten Finali an.

Selten bezieht sich Jacques Offenbachs Opernkritik auf einzelne Werke oder Komponisten, seine Parodie meint das Genre an sich: Harmlose Texte werden mit pathetischer Musik unterlegt und umgekehrt, musikalische Floskeln bis zur Absurdität wiederholt, Koloraturen mit aberwitziger Virtuosität gänzlich jeden Sinnes entzogen. Es ist vor allem diese musikalische Parodie Offenbachs, die auch heute noch unmittelbar verstanden und goutiert wird, die politischen Anspielungen zünden dagegen nicht immer, können aber im Sinne der Erfinder aktualisiert werden.

Klüger als die Männer

Hortense Schneider – La Snédèr – ist fast von Anfang mit dabei: Schon 1855 holt Offenbach die Sopranistin in sein Ensemble, schnell avanciert sie zur ersten Solistin und gestaltet ihre Rollen entscheidend mit. Ihre stimmlichen Qualitäten sind eher Geschmackssache, es sind vielmehr ihr schauspielerisches Vermögen und ihre immense Bühnenpräsenz (mitsamt erotischer Ausstrahlung, die sie mit geschickt eingesetzten Hüftschwung offenbar auf Knopfdruck einschalten kann), die sie zu einer kongenialen Partnerin für Jacques Offenbach machen. Ihre Persönlichkeit hat entscheidenden Einfluss darauf, dass viele Frauenfiguren in den Offenbachiaden stark, selbstbestimmt und oftmals klüger als die Männer um sie herum sind.

Hortense Schneider ist nicht nur ein Star auf der Bühne, ihr Privatleben interessiert die Pariser Gesellschaft mindestens ebenso wie ihre Kunst. Sie pflegt einen exzentrischen Lebenswandel, bewegt sich in den höchsten Gesellschaftskreisen und hat mit dem Duc de Gramont-Caderousse einen gemeinsamen Sohn. Sie verdient sich ein immenses Vermögen, das sie u.a. in eine bedeutende Kunstsammlung investiert. Emile Zola setzt ihr in seinem Roman „Nana“ ein literarisches Denkmal. Den Höhepunkt ihrer Karriere erreicht sie bei der Uraufführung der „Grande-Duchesse de Gérolstein“. Zahlreiche Anekdoten erzählen davon, dass sie den Titel „Großherzogin“ auch im zivilen Leben führt und dass er ihr alle Türen öffnet. Ihre Popularität trägt mit dazu bei, dass schon die Proben zu Offenbachs neuem Werk mit täglichen Berichten und O-Tönen aus der Produktion in den Gazetten begleitet werden. Die „Journalisierung“ seiner Kunst ist Teil der Kapitalisierung, Offenbach ist immer auch ein Unternehmer – wenn auch nicht immer erfolgreich.

„La Grande-Duchesse de Gérolstein“

Am 12. April 1867 ist es soweit: „La Grand-Duchesse“ wird im Théâtre des Variétés uraufgeführt. Den Schauplatz Gerolstein haben sich die Autoren aus einem Fortsetzungsroman von Eugène Sue geborgt, nachdem die Zensur darauf bestanden hatte, die Handlung ins 18. Jahrhundert zu verlegen. Für die Zeitgenossen sind die Parallelen zur aktuellen politische Lage dennoch unschwer zu erkennen: Willkürherrschaft, Vetternwirtschaft, deutsche Kleinstaaterei und der ausgeprägte Militarismus der Franzosen – die Angst vor einem neuerlichen Krieg liegt in der Luft.

Doch auch ohne politische Anspielungen funktioniert die Geschichte, da sie mit typischen Komödienelementen ausgestattet ist: Der großsprecherische Soldat, der naive Junge vom Lande, intrigante Hofschranzen, absurde Familientraditionen und noch absurdere Kriegserklärungen. Allein die Großherzogin ist ein etwas komplexerer Charakter – auf der einen Seite eine liebestolle Frau mit Uniformfetisch und willkürlichem Herrschergebaren, auf der anderen Seite eine Herzogin in Nöten, die sich nicht getraut, ihre Liebe zu gestehen, und sich am Ende resigniert in ihr Schicksal fügt: „Wenn man nicht hat, was man liebt, muss man eben lieben, was man hat.“ Sie ist keine Witzfigur wie etwa General Bumm, ihre Autorität wird zu keinem Zeitpunkt infrage gestellt. Der Feind, gegen den intrigiert werden muss, ist Fritz, der mit gesunden Menschenverstand einen Krieg gewinnt und damit dem aufgeblasenen Apparat an Wichtigtuern seine Nutzlosigkeit vorführt und ihm dadurch gefährlich wird.

Offenbach seinerseits zieht alle Register der musikalischen Komik: Lautmalerei in der Auftrittsarie von Bumm und in den falsettierten „Trompeten-Tönen“ im Regimentslied; das aufgesetzte Pathos der Opera seria in der Ansprache der Herzogin an ihre Soldaten, die Anspielung auf Meyerbeers „Hugenotten“ im Messerwetzerlied und immer wieder der gutgelaunte Galopp, der fast jede Nummer mit einem beschleunigten Taumel beendet. Doch nicht nur in der Komik liegt der Reiz von Offenbachs Musik. Eine echte Preziose ist zum Beispiel das Duett zwischen der Großherzogin und Fritz, indem diese versucht ihm durch die Blume verstehen zu geben, dass sie ihn liebt. Ihre Anspannung zwischen Liebesnot und den Zwängen der gesellschaftlichen Konvention ist mit Händen zu greifen. Doch nicht lange – Fritz‘ gespielte oder tatsächliche Ahnungslosigkeit bricht den Damm, und das Duett mündet – s.o. – in einem schnellen Galopp.

Einen „letzten Willen“ gibt es nicht

Die ersten beiden Akte werden bei der Premiere begeistert beklatscht, der dritte Akt fällt durch. Offenbach fackelt nicht lange und unterzieht seine „Großherzogin“ einer gründlichen Revision. Auch das gehört zu seinem Erfolgsrezept: Wenn ein Stück beim Publikum nicht ankommt, wird es so lange umgearbeitet, bis es funktioniert. Wenn sich also ein Theater heutzutage für die Aufführung eines Werks von Offenbach entscheidet, steht gleich am Anfang die Frage, welche Fassung man eigentlich spielen möchte, und meistens kann man aus einer Fülle von Material schöpfen; auch bei der „Gerolstein“, die Offenbach nicht nur vor und nach der Uraufführung revidiert hat, sondern später noch einmal für die Aufführung in Wien. Einen „letzten Willen“ des Komponisten gibt es meistens nicht, dazu war er viel zu sehr Theaterpraktiker. Am Staatstheater Nürnberg spielen wir eine Mischung aus den verschiedenen Versionen, deren Aufführungsmaterial heutzutage Dank der „Offenbach Edition Keck“ komplett vorliegt.

Ab der dritten Vorstellung greifen Offenbachs Änderungen, und „Gerolstein“ wird ein rasender Erfolg. 200 Vorstellungen werden in der ersten Serie gespielt, es ist einer der größten Bühnenerfolge, die Paris bis dato gesehen hat. Zar Alexander II. und Wilhelm I. von Preußen, der Prinz von Wales und der Vizekönig von Ägypten, Ludwig II., der König von Schweden, sogar Otto von Bismarck: Die internationalen Gäste der Weltausstellung applaudieren begeistert der „Großherzogin“ – so richtig angegriffen können sie sich also nicht fühlen.