• Orpheus
  • Verlag Kulturbüro
  • 01/2019, Jan/Feb (Auszug)
  • S. 12-17

Immer weiter gehen

Olga Peretyatko füllt weltweit die großen Häuser. Die Gefahr des Abhebens besteht bei ihr aber nicht

Text: Stephan Burianek

In: Orpheus, 01/2019, Jan/Feb (Auszug), Verlag Kulturbüro, S. 12-17 [Magazin]

Man sieht Olga Peretyatko nicht an, dass sie eben erst aus dem Flieger gestiegen ist. Frisch und ausgeruht wirkt sie, und anmutig, als stünde ein Fotoshooting auf dem Programm. Dabei ist der Kalender der um - jubelten Sopranistin dicht. Am Tag zuvor hat sie in Baden-Baden die Musen in »Hoffmanns Erzählungen« gesungen, und tags darauf steht im Schönbrunner Schlosstheater in Wien ein Benefizkonzert auf dem Programm.

Sie ist eine Künstlerin, die stets versucht, aus der Ruhe heraus zu arbeiten, Yoga hilft ihr dabei. Am liebsten hat sie zwischen zwei Vorstellungen zwei Tage frei. »Einer geht auch, aber drei sind schon zu viel, da ist man dann bereits zu entspannt.« Vor ihrem Engagement in Baden-Baden hatte sie einen Sonderfall: Dort sprang ein Sponsor ab, aus der geplanten Inszenierung wurde lediglich eine konzertante Aufführung, und sechs Probenwochen reduzierten sich auf eine. Die Freizeit nutzte sie, um in Ruhe mehrere Partien vorzubereiten. »Das tat gut.«

Peretyatko sagte in Interviews mehrfach, sie lebe einen Traum – ihre Karriere verlief fast von Beginn weg ziemlich steil. Sie mag vielleicht mehr Glück gehabt haben als manche andere, und doch steckt hinter ihrem Erfolg neben harter Arbeit ganz viel Disziplin. »Disziplin hat bereits in meiner Schulzeit eine wichtige Rolle gespielt, als ich Karate gemacht habe.« Damals lebte sie in einer typisch-sowjetischen Arbeiterstadt im heutigen Litauen, die für die Mitarbeiter eines Atomkraftwerks errichtet worden war. Ihre Mutter lebt heute noch dort. Peretyatko brachte es bis zum roten Gürtel, von einer Sängerkarriere war erst später die Rede. Im Alter von fünfzehn Jahren ging sie zurück in ihre Geburtsstadt St. Petersburg, wo ihr Vater als Chorsänger im Mariinski-Theater arbeitete, und studierte Chordirigat. Wohl aufgrund ihrer tiefen Sprechstimme wurde sie als Mezzosopranistin eingestuft und sang im Chor sogar im noch tieferen Alt-Fach.

Starke Frauen

Erst im Jahr 2000 war es Larisa Gogolevskaya, Sopranistin am Mariinski-Theater, die sie darauf aufmerksam machte, in Wirklichkeit ein Sopran zu sein. »Ich war drei Tage lang am Boden zerstört. Ich wollte die Mezzo-Charaktere singen, die starken Frauen! Carmen und Dalila waren mein Traum.« In diesen drei Tagen hörte sie nonstop eine Platte mit Joan Sutherland. »Dann dachte ich mir: Okay, das geht auch.« Sutherland wurde nicht zum einzigen Idol. Sie vergrub sich in Aufnahmen mit Edita Gruberová, studierte Renata Scotto, Renata Tebaldi, Leyla Gencer, natürlich Maria Callas und Montserrat Caballé. Zu Peretyatkos Vorbildern zählt auch Mariella Devia, die seit 2013 regelmäßig eine ihrer Gesangscoachs ist (»sie ist streng, aber zugleich angenehm«).

Im Jahr 2007 belegte sie in Paris beim Operalia-Gesangswettbewerb den zweiten Platz. Das Preisgeld in der Höhe von 20.000 Euro konnte die junge Sängerin gut gebrauchen, lagen doch bereits unzählige Vorsingen hinter ihr, und die sind bekanntlich kostspielig. Ihre Karriere wäre ohne Operalia aber vermutlich ähnlich verlaufen, denn damals hatte sie bereits ein Engagement beim Rossini-Festival in Pesaro in der Tasche, wo sie ein Monat später Teil einer umjubelten »Otello«-Produktion mit Juan Diego Flórez und Gregory Kunde war. »Pesaro ist eine große Vitrine«, dort kommt die gesamte Belcanto-Welt zusammen, Peretyatko war entdeckt.

Traum mit Schattenseiten

Wer Peretyatkos Stimme beschreiben möchte, der könnte von ihrem warmen, weichen, runden Klang schwärmen oder die melancholisch gefärbte Ausdrucksfähigkeit und die Geschmeidigkeit hervorheben, mit der die Sängerin die kühnen Koloraturen der Belcanto-Klassiker zu führen weiß. Hinzu kommt freilich, dass Peretyatko allein schon aufgrund ihres vorteilhaften Aussehens und ihrer Spielfreude auf der Bühne der Traum eines jeden Regisseurs und Operndirektors ist. Kein Wunder: Heute gibt es kaum ein großes Haus, an dem die Koloratursopranistin noch nicht gesungen hat.

Warum haben russische Sänger eigentlich auffallend häufig eine derart wunderbare Singdisposition? »Wir Russen haben in der Aussprache durchaus auch Nachteile. Aber wir sind es gewohnt, unter schwierigen Konditionen zu leben und sind auf Schwierigkeiten vielleicht besser gefasst als anderswo.« Peretyatko spricht hier nicht nur vom harten Klima, sondern auch vom nötigen Nervenkostüm: »Wenn du mal das Bolschoi überlebt hast, kann dich nichts mehr töten.«

Auch nicht die gehässigen Kommentare, die selbsternannte Stimmexperten manchmal im Internet für alle sichtbar abzusondern glauben. Die hätten sie zu Beginn ihrer Karriere verunsichert, gibt sie zu, aber bald erteilte man ihr einen wertvollen Rat: »Einfach nicht lesen.« Sänger sind keine Maschinen und machen Fehler. »Wenn Sie einen Sänger angreifen wollen, dann schreiben Sie einfach ›Intonationsprobleme‹, denn die hat jeder im Laufe einer Vorstellung zumindest ein, zwei Mal.«

Das Selbstbewusstsein einer Sängerin, die es bis ganz nach oben geschafft hat, äußert sich auch in ihrem offenen Auftreten in den sogenannten sozialen Medien im Internet, in denen sie regelmäßig Privates preisgibt. Dabei postet sie nicht nur Reisevideos, wie etwa von ihrem Balanceakt auf dem Kraterrand eines indonesischen Vulkans im vergangenen September, sondern gibt sich mitunter sehr offenherzig: Ende Juni dieses Jahres setzte sie ihre »Abonnenten« in einem sehr persönlichen und doch klaren Statement von ihrem Entschluss in Kenntnis, sich von ihrem Mann, dem Dirigenten Michele Mariotti, scheiden zu lassen. Träume haben mitunter Schattenseiten. Heute sagt sie: »In ›Hoffmanns Erzählungen‹ heißt es: ›Die Liebe macht groß, aber Leiden macht größer‹ – das kann ich jetzt bestätigen. Ich bin besser geworden.« Wie so häufig in solchen Situation hat auch Peretyatko die Trennung zum Anlass genommen, auch andere Dinge in ihrem Leben neu zu sortieren – und wechselte u.a. ihre Agentur. Das Jahr 2018 war ein Jahr des Neustarts.

Traditionen hinterfragen

Wie bei jedem Sänger entwickelt sich auch Peretyatkos Stimme weiter, die in den vergangenen drei, vier Jahren größer und schwerer geworden sei: »Mariella Devia meinte kürzlich, ich sei bereit für die Eleonore im ›Trovatore‹, zumindest bei bestimmten Dirigenten und in bestimmten Häusern.« 

Die tradierten Stimmfach-Grenzen sieht Peretyatko kritisch. Zum Beispiel bei Richard Strauss’ »Vier letzte Lieder«, die sie seit 2011 regelmäßig singt: »Die wurden zwar vom dramatischen Sopran Kirsten Flagstad erstmals gesungen, aber ursprünglich für Maria Jeritza geschrieben. Wenn das Orchester wirklich spielt, was in der Partitur steht, dann ist das andere Musik als heute häufig gehört. Das Orchester ist zwar riesig, aber wenn hundert Leute im zweifach gestrichenen Piano spielen, dann ist das durchaus sängerfreundlich.« Ähnliches gelte für die Bellini-Opern »Norma« und »La sonnambula«: »Beide Hauptpartien wurden für dieselbe Sängerin geschrieben. Heute sind wir in der zuletzt genannten einen leichten Sopran gewöhnt, und die Norma wird von schweren, dramatischeren Stimmen gesungen.« Peretyatko möchte diese Traditionen hinterfragen. Sie wäre sogar verleitet, es doch mit ihrer Sehnsuchtsrolle, der Carmen, zu probieren. Aus Japan kam kürzlich sogar ein diesbezügliches Angebot. Peretyatko würde sie sich durchaus zutrauen: »Im Gegensatz zum russischen Mezzo-Fach ist das französische vergleichsweise einfach. Nur am Schluss der Partie könnte sie schwer für mich werden.« Sie wartet damit trotzdem noch: »Das würde wahrscheinlich schlecht aufgenommen werden, und das will ich auch nicht.«

Wir führen das Gespräch in der Wiener Staatsoper. In Wien habe sie im Winter zu joggen begonnen, erzählt sie, und hier gäbe es auch Europas beste (harte!) Thai-Massagen (Name der Redaktion bekannt). An das Gespräch mit dem ORPHEUS schließt ihre erste individuelle Probe im Zusammenhang mit einer Neuinszenierung von Donizettis »Lucia di Lammermoor« (Premiere am 9. Februar) an. Es wird ihre fünfte Produktion mit dieser Partie sein, und doch auch eine Mini-Uraufführung: Sie wird die Kadenz in der Wahnsinnsarie nicht so singen, wie man sie allgemein kennt. »Ach, diese berühmte Kadenz, alle warten darauf. Aber wissen Sie, was da steht? Zwei Noten und eine Fermate! Aber wenn du als Sängerin dann nicht singst, wirst du ausgebuht.« Evelino Pidò, der dirigieren wird, möchte an dieser Stelle keine Flöte oder gar die ursprüngliche Glasharmonika. »Ich werde daher allein eine Kadenz singen, die wir gemeinsam kreieren werden. Etwas Ähnliches hat er schon mit Natalie Dessay gemacht. Das wird spannend.«

Im April wird Peretyatko dann erstmals die Titelpartie in Donizettis »Anna Bolena« singen. »Eine lange Partie!« So wie vor ziemlich genau einem Jahr, als sie ihr Rollendebüt in »Hoffmanns Erzählungen« im Opernhaus von Monte-Carlo (an der Seite von Juan Diego Flórez) gegeben hat, hat sie sich auch dafür mit dem schmucken Opernhaus in Lüttich (Liège, Belgien) ein kleineres Haus ausgesucht. Irgendwann möchte sie alle drei Donizetti-Königinnen im Repertoire haben.

Liebe zu Genies

Vom Gehabe einer klassischen Diva ist Peretyatko, so scheint es im Gespräch mit dem ORPHEUS, weit entfernt – ein Abheben ist nicht zu befürchten: »Es ist alles sehr zerbrechlich.« Und doch gönnt sie sich einen Luxus, nämlich »das Recht, etwas zu sagen«, wenn der Regisseur seine »verrückten Ideen« nicht erklären kann oder nicht zu Kompromissen bereit ist. Damit jetzt kein falsches Bild entsteht: Peretyatko findet unkonventionelle Regisseure durchaus inspirierend. Sie freut sich bereits auf eine Zusammenarbeit mit ihrem Landsmann Dmitri Tschernjakow, der seinen Akteuren bekanntlich einiges abzuverlangen pflegt (und über die noch nicht mehr geschrieben werden darf). »Er polarisiert, aber er ist ein Genie!«

Das Genie Mozart zählt ebenfalls zu ihren Lieblingen. »Mozart+« heißt ihr neues Album, wobei das Plus für dessen Zeitgenossen steht, die mit Peretyatkos Geburtsstadt in Verbindung stehen: Tommasso Traetta war ein Komponist der Neapolitanischen Schule, der am Hof in St. Petersburg seine Oper »Antigona« komponierte.

Dort wurde auch »Il barbiere di Siviglia« von Giovanni Paisiello, einem Vertreter derselben Schule, uraufgeführt (diese Oper wurde später bekanntlich von Rossinis Vertonung verdrängt). Insgesamt spannt das Album, in dem außerdem noch Martin y Soler zu Ehren kommt, ein Dreieck von Neapel über Wien nach St. Petersburg. Spannend!

Peretyatko, die neben ihrer Muttersprache übrigens auch fließend Englisch, Deutsch und Italienisch spricht, ist zwar noch keine Vierzig, trotzdem wird sie von Kollegen bereits seit längerem bekniet, Meisterklassen anzubieten. Das möchte sie später sehr gerne machen, doch derzeit sei dafür so gut wie keine Zeit. Zu viele Ziele liegen noch vor ihr, wenngleich sich die Bedeutung ihres Namens längst erfüllt hat: »Peretyatko« ließe sich nämlich mit »weiter als der Vater gehen« übersetzen. »Das trifft auf mein Leben zu: Mein Vater ist Chorsänger und hatte damals aufgehört, Sologesang zu studieren, als ich geboren wurde. Ich mache jetzt die Karriere für uns beide.« Der Weg ist freilich noch lange nicht zu Ende.