• Orpheus
  • Verlag Kulturbüro
  • 05/2018, Sep/Okt (Auszug)
  • S. 22-25

»Es besteht nicht die Gefahr, dass ich mich langweile«

Bereits seit 16 Jahren leitet der Schweizer Regisseur Guy Montavon das Theater Erfurt und die dortigen Domstufen-Festspiele

Interview: Stephan Burianek

In: Orpheus, 05/2018, Sep/Okt (Auszug), Verlag Kulturbüro, S. 22-25 [Magazin]

Bereits seit 16 Jahren leitet der Schweizer Regisseur Guy Montavon das Theater Erfurt und die dortigen Domstufen-Festspiele. Stephan Burianek sprach mit dem Gründungsintendanten über die anfänglichen und künftigen Herausforderungen, sowie über seinen ambitionierten Spielplan, mit dem er das Haus fest in der deutschen Opernlandschaft etabliert hat

Sie sind ausgebildeter Fagottist und haben außerdem bei bekannten Regisseuren gelernt. Was haben Sie aufgrund dieser Doppelqualifikation anderen Intendanten voraus?

Ich betrachte das Skelett eines Theaters von unten nach oben. Was auf der Bühne passiert, strahlt bis in die Theaterleitung in der vierten Etage hinauf. Die Bühne ist unsere Herz- und Lungenmaschine, und wenn Sie alle Schrauben kennen, dann beherrschen Sie diese. Das nennt man Handwerk. Außerdem habe ich profunde musikalische Kenntnisse der gespielten Werke. All das verschafft einem natürlich eine gewisse Autorität, und die ist wichtig. Viele Intendanten, die über das Marketing oder politische Seilschaften in den Job gefunden haben, scheitern nämlich an der Belegschaft.

Und notfalls können Sie beim Dirigieren einspringen ...

Das habe ich bei Horst Stein gelernt. Ich war zwei Jahre lang sein Assistent, unter anderem beim »Parsifal« in Bayreuth. Da saß ich im Graben, und der Assistent von Pierre Boulez war damals Jeffrey Tate.

Das Theater Erfurt wurde 2003 eröffnet, Sie sind der Eröffnungsintendant. Vor welchen Herausforderungen standen Sie damals?

Ich bin im Sommer 2001 nach Erfurt übersiedelt. Die Erfurter hatten sich per Stadtratsbeschluss entschieden, ein Haus zu bauen und sich darin auf die Sparte Musiktheater zu konzentrieren. Das bedingte die Schließung des Schauspiels, was noch in die Zeit meines Vorgängers Dietrich Taube hätte fallen sollen. Der ging aber früher, wodurch ich die Kündigung des Schauspielensembles vollziehen musste. Dadurch war mein Start hinsichtlich des Vertrauens der Mitarbeiter ziemlich schwierig, es gab viel Antipathie. Die Erfurter kannten mich nicht, und ich kannte weder Thüringen noch die Stadt. Wir hatten zu Beginn zwar ein schönes Gebäude, aber die Oper war zunächst inexistent. Dass man sich neben einer Musikstadt wie Weimar mit Musiktheater profilieren wollte, empfanden viele als Schwachsinn. Erst nach meiner ersten Inszenierung in Erfurt verstanden die Leute, dass ich etwas davon verstehe. Trotzdem dauerte es vier oder fünf Jahre, bis ich die gesamte Mannschaft für mich hatte gewinnen konnte. Seither hat sich die Belegschaft gegenüber der Stadtpolitik mehrmals für mich ausgesprochen.

Die Dichte an Opernhäusern ist in Thüringen, wie generell im Osten Deutschlands, überaus hoch. Kooperieren die Häuser untereinander?

Ich bin ein großer Freund von Kooperationen. Mit Weimar werden wir zunehmend kooperieren, auch in puncto Schauspiel, indem wir Produktionen einkaufen werden. Wir haben Leipziger und Dresdner Produktionen bei uns gehabt. Aber wie in jeder mittelgroßen Stadt schätzt das Publikum ein eigenständiges Profil mit eigenen Produktionen »seines« Hauses. Zugleich ist die wirtschaftliche Infrastruktur im Osten Deutschlands eine Herausforderung.

Wie hoch ist das Budget, das Ihnen zur Verfügung steht?

Wir verfügen über einen Gesamtetat von 23 Millionen Euro, davon kommen rund 11 Millionen von der Stadt Erfurt und etwa 7,8 Millionen vom Land Thüringen, den Rest erwirtschaften wir selbst. Davon müssen wir alles bestreiten, inklusive der Domstufen-Festspiele. Der Vorhang hebt sich bei uns ungefähr 180 Mal pro Jahr. Diese Zahlen bieten aber eine schlechte Vergleichsbasis. Das Deutsche Nationaltheater in Weimar hat beispielsweise nicht die Belastung, die wir hier haben. Wir müssen jede Reparatur selbst zahlen, auch Heizung, Steuer, Müllabfuhr – Weimar bekommt das quasi alles gratis.

Wie hat sich die finanzielle Unterstützung hier entwickelt, seitdem Sie in Erfurt angefangen haben?

Vom Land kommt jetzt etwas mehr, aber die Unterstützung der Stadt ist gleich geblieben. Das wird irgendwann einmal nicht mehr gehen. Wenn der Arbeitnehmerverband mit der Gewerkschaft Tarifsteigerungen von 3,5 Prozent pro Jahr vereinbart, dann müsste uns die öffentliche Hand diese Steigerung bezahlen, das passiert aber nicht. Ich diskutiere daher gerade mit der Stadt, ob sie uns das Haus nicht unter »Dach und Fach« bezahlt. Ich zahle der Stadt allein 150.000 Euro pro Jahr an Steuern.

Wenn das Geld knapp ist, dann ist es umso wichtiger, junge, noch günstig zu bekommende Talente zu finden. Sie arbeiten viel mit jungen Sängern.

Ich suche sie intensiv, etwa wenn ich im Ausland Regie führe. Im kommenden Jahr bin ich etwa in Jekaterinburg, und Russland bietet bekanntlich ein großes Sängerpotenzial. Dann gibt es natürlich noch die Gesangswettbewerbe, bei denen ich rege aktiv bin. Nicht nur beim Internationalen Belvedere-Wettbewerb, wo ich Jurymitglied bin, sondern zudem auch noch in Japan, Korea, auch Belgien, Kroatien, Griechenland und Italien. Wenn ich dort nicht fündig werde, lasse ich mir in New York vorsingen, wo ich umsonst wohnen kann und wo viele führende Agenturen beheimatet sind.

Was ist Ihnen beim Casten besonders wichtig?

Die Stimme. Auch die persönliche Ausstrahlung, aber die Stimme geht vor.

Universale Stimmen? Unverwechselbare Stimmen?

Unverwechselbare Stimmen. Wenn Sie beispielsweise einen Holländer oder Falstaff zu besetzen haben, dann müssen Sie eine Entscheidung treffen: Ein Bass mit Tiefe und wenig Höhe oder ein Bariton mit wenig Tiefe und großer Höhe. Vor zwei Jahren habe ich in Linz die neue Intendanz von Hermann Schneider mit dem »Falstaff« eröffnet und bin bei der Suche nach der Titelpartie in Bologna auf Riccardo Muti gestoßen, der meinte, er hätte jemanden, der immer den Ford gesungen hat, aber eigentlich mal die Titelpartie singen sollte. So bin ich auf den Bariton Federico Longhi aufmerksam geworden, der die Titelpartie mittlerweile über 50 Mal gesungen hat, auch unter Muti.

Wenn man mit älteren Semestern unter den Opernliebhabern spricht, dann hört man regelmäßig, dass selbst die großen Stimmen heute nicht mehr dieselbe Individualität haben wie früher. Würden Sie dem zustimmen?

Das glaube ich nicht. Elīna Garanča ist unverwechselbar, ebenso Anja Harteros, Petra Lang oder Jonas Kaufmann. Wenn Sie eine neuere Aufnahme hören, dann können Sie durchaus sagen: Ah, das ist Roberto Alagna. Ich glaube aber schon, dass es damals mehr Sänger gab. Wenn Sie früher, bis in die 1970er-Jahre, »Andrea Chenier« machten, hatten Sie gut zehn Tenöre, die Ihnen die Titelpartie singen konnten.

Und die vermutlich alle aus Europa kamen.

Italiener, aber auch Südamerikaner. Heute müssen Sie einen Chenier lange suchen. Und wenn Sie einen gefunden haben, dann ist nicht sicher, ob er die Partie in zwei Jahren noch singen kann. Der Verschleiß ist bei Spitzensängern heute in der Regel größer, die Verlockung des schnellen Gelds durch eine internationale Vermarktung ist zu hoch. Für mich gibt es zwei Sänger, die an Professionalität und Stimmtechnik nicht zu überbieten sind: Plácido Domingo und Leo Nucci. Nucci singt Ihnen heute einen Scarpia, da fällt Ihnen die Kinnlade herunter – der Mann singt seit einem halben Jahrhundert und ist 78. Solche Sänger gibt es vielleicht nicht mehr.

Eine Spezialität Ihres Hauses sind alljährliche Ausgrabungen vergessener Opern und Uraufführungen, mit denen Sie international immer wieder für Aufsehen sorgen. Was bedeuten Uraufführungen für das Ensemble?

Das Haus atmet anders, wenn wir eine Uraufführung machen. Neuland ist für Musiker immer spannender als die Pflege der Tradition, auch wenn wir letzteres natürlich auch gerne machen.

Was sind die Kriterien, nach denen Sie eine Uraufführung in Auftrag geben?

Entweder gibt es einen Stoff, der mich interessiert. Das ist der Fall bei der Uraufführung, die wir im Jahr 2021 machen werden. Oder es gibt Komponisten, die ich schätze und anfrage, wie Philip Glass, mit dessen Oper »Waiting for the Barbarians« wir die Saison 2005/06 eröffnet haben. Manchmal haben Komponisten aber auch ein neues Werk in petto und suchen nach einer Aufführungsmöglichkeit. Das war bei Franz Hummels »Der Richter und sein Henker« (2008) und bei Alois Bröders »Die Frauen der Toten« (2013) der Fall.

Haben Sie inhaltliche Anforderungen an die Librettisten und Komponisten?

Sie müssen eine Geschichte erzählen, »Szenen aus« oder »Impressionen aus« lehne ich ab. Und die Dauer sollte 90 Minuten nicht überschreiten.

Welche Geschichte wird in der Uraufführung von 2021 erzählt werden?

Der Arbeitstitel lautet »Julie und Mao«. Der Komponist ist wieder Jeffrey Ching, das Libretto stammt von ihm und von Bernard Uzan. Es ist die Geschichte der Chinesin Chow Ching Lie, die mit 14 Jahren an eine reiche Familie in Schanghai zwangsverheiratet wurde und während der Revolution nach Paris geflüchtet ist, um dort Klavier zu studieren. Um sich das Studium zu finanzieren, machte sie dort einen kleinen Import-Export-Laden auf, heiratete wieder und ließ sich erneut scheiden. Auch von ihrer eigenen Familie wurde sie als Landesverräterin verfolgt. 1973 gab sie als erste chinesische Pianistin in Paris ein Konzert – in einer Zeit, in der in China alle Klaviere aus den Haushalten als vermeintliches Zeichen der Aristokratie entsorgt worden waren. Als Multimillionärin ging sie letztlich nach China zurück und wurde von Mao zur Volkskünstlerin ernannt. Außerdem hat sie einen großen Teil ihres Geldes für Kinderkrankenhäuser eingesetzt und eine Stiftung für behinderte Kinder gegründet. Bekanntlich gehen totalitäre Staaten mit solchen Menschen meistens sehr schlecht um. Das letzte Bild der Oper wird etwa hundert Klavierflügel mit Kindern zeigen, die die berühmte Melodie der »Kantate vom gelben Fluss« spielen. Und davor sitzen Mao und Julie alias Chow Ching Lie.

Gibt es ein oder zwei Werke, von denen Sie glauben, dass sie noch in hundert Jahren Bestand haben könnten?

Ja. »Wut« von Andrea Lorenzo Scartazzini wurde in Basel bereits nachgespielt, und auch »The Orphan« von Jeffrey Ching wird wahrscheinlich wieder aufgeführt werden. Ähnliches gilt aber auch für Alois Bröder und Philip Glass. Ich glaube nicht, dass wir für die Schublade produziert haben. Was mich in diesem Zusammenhang freut: Zwei Uraufführungen wurden vom Publikum bereits zur beliebtesten Produktion in der jeweiligen Saison gewählt – in einer Stadt, in der früher nur die Klassiker gespielt wurden.

Im September gastiert das Theater Erfurt mit Ihrer »Holländer«-Inszenierung in Schanghai. Was versprechen Sie sich davon?

Ich überlege mir immer, was ich für mein Haus machen kann und habe die Zukunft immer im Blick. Und bei uns bedeutet das konkret: Wo sind wir im Jahr 2020? Mit dem Thüringer Minister ist vereinbart, dass wir uns im Jahr 2020 nochmals treffen und die Budgetierung der einzelnen Häuser hinsichtlich der Erfahrungen aus den vergangenen drei, vier Jahren nochmals besprechen werden. Da wird dann ein Kassasturz gemacht und geschaut, was in diesem Zeitraum passiert ist. Die Weimarer sind mit ihrem Orchester nach Amerika gegangen, wir gehen nach Schanghai, und der Landtagspräsident reist mit einer Wirtschaftsdelegation mit. Das Gastspiel ist aber nicht nur aus politischen Gründen gut für das Haus. Ich finde es wichtig, dass meine Musiker andere Häuser kennenlernen, das weitet den Horizont. Sie werden außerdem mit chinesischen Musikern gemeinsam im Graben sitzen, das wird auch eine spannende Erfahrung. Und zu guter Letzt ist das Gastspiel auch gut für unseren Etat, wir verdienen etwas dabei.

Birgt das Gastspiel die Chance einer langfristigen Kooperation in sich?

Ja. Wir planen dort eine Sängerbörse, die von den Chinesen unterstützt wird. Man hat dort ein Interesse, Sänger ins Ausland zu schicken.

Ihnen liegt das alljährliche Domstufen-Festival sehr am Herzen. In diesem Sommer haben Sie selbst inszeniert (siehe Rezension auf Seite 38, Anm.) ...

Das war der genialste Coup meines Vorgängers Dietrich Taube! Wir profitieren bis heute davon, denn die Domstufen-Festspiele sind aus dem Biorhythmus der Stadt und des Freistaats Thüringen nicht mehr wegzudenken. Für mich sind sie stets eine neue Herausforderung. Sie sind wie ein kleines Biest, das man stets streicheln muss. Es besteht nämlich immer die Gefahr, dass man sich wiederholt, allein schon deshalb, weil die Auftrittsmöglichkeiten der Sänger sehr begrenzt sind. Man muss stets versuchen, originell zu sein und etwas zu machen, das die Leute noch nicht kennen.

Zu solchen Open-Air-Aufführungen kommen aber immer wieder Leute, die sonst nicht so häufig in die Oper gehen. Daher fallen diese in der Regel eher konventionell aus …

Unser »Troubadour« im letzten Jahr war sehr konventionell, das hat mich wachgerüttelt. Man darf den Weg der Kunst niemals verlassen.

Würde Sie nicht mal ein anderes Haus reizen?

Ich habe die mir gesetzten Ziele in Erfurt größtenteils erreicht, aber noch nicht alle. Es besteht also nicht die Gefahr, dass ich mich langweile. Mir gefällt die rasante Dynamik der Stadt und ich bin weiterhin gern Teil ihrer Entwicklung. Es ist mir eine Ehre, daran teilzuhaben. Wenn ich zur Arbeit ins Theater komme, bin ich immer gut gelaunt, das ist ein gutes Zeichen.