• Weiße Rose
  • Staatstheater Nürnberg
  • Kammeroper von Udo Zimmermann, Saison 2021/22 (Auszug)
  • S. 23-31

Nicht mehr schweigen!

Text: Wiebke Hetmanek

In: Weiße Rose, Kammeroper von Udo Zimmermann, Saison 2021/22 (Auszug), Staatstheater Nürnberg, S. 23-31 [Programmheft]

Udo Zimmermanns „Weiße Rose“ beschreibt eine imaginäre Todesstunde von Hans und Sophie Scholl, den beiden prominentesten Mitgliedern der Widerstandsgruppe Weiße Rose. Das Libretto von Wolfgang Willaschek reiht Briefstellen und Tagebuchauszüge der Geschwister Scholl, Gedichte, Psalmenverse und Bibelzitate assoziativ aneinander. Die Autoren haben dabei bewusst auf konkrete historische Situationen verzichtet und verstehen ihr Werk als allgemeines Plädoyer für Widerstand gegen autoritäre Regime. Schon 1967 hatte Udo Zimmermann eine Oper mit dem Titel „Die weiße Rose“ komponiert. Damals hatte sein Bruder Ingo das Libretto geschrieben. Auch hier ist die Stunde vor der Hinrichtung der Ausgangspunkt, allerdings werden die Gedanken der Geschwister Scholl durch Rückblenden mit konkreten Spielszenen unterbrochen, die die Gruppe und ihr Wirken quasi dokumentarisch vorstellen.

Wir sind euer böses Gewissen

Die Weiße Rose ist bis heute eine der bekanntesten Widerstandsgruppen aus der Zeit des Nationalsozialismus. Sie hatte sich aus einem Kreis von Studenten und Studentinnen an der Münchener Ludwig-Maximilians-Universität gebildet. Zum Kern der Gruppe gehörten Hans und Sophie Scholl, Alexander Schmorell, Willi Graf und Christoph Probst. Sie alle stammten aus bildungsbürgerlichen Elternhäusern und waren christlich geprägt. Mit ihrem Mentor, dem Philosophieprofessor Kurt Huber, diskutierten sie bei privaten Leseabenden leidenschaftlich und offen über Philosophie, Kunst, Literatur – auch über verbotene – und über die aktuellen Zeitläufte. Aus der zunehmenden Ablehnung des nationalsozialistischen Systems formierte sich allmählich der Gedanke, aktiven Widerstand zu leisten. Im Sommer 1942 erschienen die ersten Flugblätter in München, die mit „Die Weiße Rose“ überschrieben waren. Verfasst hatten sie Hans Scholl und Alexander Schmorell. In gehobener Sprache, durchsetzt mit literarischen Zitaten, wird in den Texten zunächst zum passiven, allmählich aber auch zum aktiven Widerstand aufgerufen. Die Adressaten waren eindeutig: Je 100 Flugblätter kopierten die beiden Studenten und schickten sie an Professoren, Schriftsteller, aber auch an ausgewählte Kommilitoninnen und Kommilitonen in München und Umgebung. Das Bildungsbürgertum und die Intellektuellen durften ihrer Meinung nach den Gräueltaten der Nationalsozialisten, vor allem aber auch der Gleichschaltung alles Denkens und Redens, nicht mehr tatenlos zusehen, sonst würden sie sich mitschuldig machen: „Wir schweigen nicht, wir sind Euer böses Gewissen, die Weiße Rose lässt Euch keine Ruhe!“ (Flugblatt IV) Etwa jeder dritte Adressat zeigte den Erhalt des regimefeindlichen Flugblatts bei der Gestapo an.

Die Grundlagen des neuen Europa

Im Spätsommer 1942 wurden die beiden Medizinstudenten Hans Scholl und Alexander Schmorell in Lazaretten an der Ostfront eingesetzt. Die Erlebnisse in Russland bestärkten die Freunde nur noch in ihrem Widerstand. Nach ihrer Rückkehr nach München wurde der Kreis um Willi Graf, Christoph Probst und Sophie Scholl erweitert, auch Prof. Kurt Huber schloss sich ihnen nun an. Für das fünfte und sechste Flugblatt erhöhten sie die Auflagen. Die Beschaffung von Papier, Umschlägen und Briefmarken war eine logistische Herausforderung: Die Materialien waren rationiert, und wer große Mengen einkaufte, machte sich verdächtig. Sie waren sich stets bewusst, dass sie ihr Handeln das Leben kosten konnte. Die Freunde wollten den Adressatenkreis erweitern, über München hinaus: Mitstreiter in der Heimatstadt der Geschwister Scholl, in Ulm, verschickten und verteilten Flugblätter; es gab Kontakte nach Stuttgart, Hamburg und zur „Roten Kapelle“ nach Berlin. Anfang Februar machten sich drei von ihnen auf, um nachts Parolen an Mauern und Hauswände zu malen: „Nieder mit Hitler“ oder „Freiheit“ konnte man am nächsten Morgen in den Straßen lesen. Zeitgleich verbreiteten sie das fünfte Flugblatt, in dem sie vom verlorenen Krieg schrieben und von der Notwendigkeit für die Deutschen, sich noch rechtzeitig vom Nationalsozialismus zu distanzieren. Eine Version vom zukünftigen Europa beschloss das Flugblatt: „Freiheit der Rede, Freiheit des Bekenntnisses, Schutz des einzelnen Bürgers vor der Willkür verbrecherischer Gewaltstaaten, das sind die Grundlagen des neuen Europa.“

Die Macht des Geistes

Die Gestapo bildete nun eine Sonderkommission, um die Mitglieder der Weißen Rose ausfindig zu machen. Kurz darauf tauchte das sechste Flugblatt auf, das sich gezielt an die Kommilitoninnen und Kommilitonen wandte. Auf die Unterdrückung der Meinungsfreiheit könne es nur eine Antwort geben: „Studentinnen! Studenten! Auf uns sieht das deutsche Volk! Von uns erwartet es, wie 1813 die Brechung des Napoleonischen, so 1943 die Brechung des nationalsozialistischen Terrors aus der Macht des Geistes.“ Am 18. Februar wurden Hans und Sophie Scholl bei der Verteilung des Flugblatts im Lichthof der Universität von einem Hausmeister entdeckt und der Gestapo übergeben. Auch die anderen Mitglieder wurden binnen weniger Tage inhaftiert. Am 22. Februar verurteilte der Präsident des Volksgerichtshofs Dr. Roland Freisler, der das Verfahren für einen Schauprozess nutzte, die Geschwister Scholl und Christoph Probst zum Tode. Das Urteil wurde wenige Stunden später vollstreckt. Ein zweiter Prozess im April verhängte auch über Alexander Schmorell, Willi Graf und Kurt Huber die Todesstrafe.

Szenen für Sänger und Instrumentalisten

Die Hamburger Staatsoper beauftragte Udo Zimmermann, für die Experimentierbühne Opera Stabile sein „Stück für Musiktheater“ über die Weiße Rose zu überarbeiten. Das Projekt wurde mehrfach verschoben, bis sich Udo Zimmermann sicher war, dass es nicht um eine Überarbeitung gehen konnte, sondern um ein komplett neues Werk, das schließlich 1986 uraufgeführt wurde. Gemeinsam mit dem Dramaturgen Wolfgang Willaschek entwickelte er eine Art „inneres Theater“, in dem es keine äußere Handlung mehr gibt. „Zwei Personen müssen eigentlich alle Gegenspieler, alle Aktionen in sich und fürs Publikum spielen. Die beiden sollen in uns ständig Assoziationen vergegenwärtigen, die Unterdrückung, das totalitäre System, Wahrheitssuche. Alles an ‚Umfeld‘ ist weggelassen.“ Statt 14 Figuren beschränkten die Autoren das Personal nun auf die beiden prominentesten Mitglieder der Weißen Rose, Hans und Sophie Scholl, deren Flugblattaktion im Lichthof der Universität ein ikonographisches Bild für den Widerstand gegen den Nationalsozialismus geworden ist.

Die Geschwister Scholl

Auch Hans und Sophie Scholl wuchsen in einem bildungsbürgerlichen Haushalt auf. Die Mutter war Krankenschwester und gab ihren tiefen christlichen Glauben an die Kinder weiter. Der Vater schlug eine Laufbahn als Kommunalpolitiker ein, er hatte ein festes moralisches Wertesystem, das ihn gegen die NS-Propaganda immun machte. Robert Scholl war Bürgermeister in Ingersheim, wo Inge und Hans geboren wurden, und Stadtschultheiß in Forchtenberg, wo Sophie und Werner zur Welt kamen. Über Ludwigsburg zog die Familie schließlich nach Ulm. Hier verbrachten Hans und Sophie ihre Jugend. Den aufkommenden Nationalsozialismus begrüßten sie, im Gegensatz zu ihren liberalen Eltern, mit Begeisterung: Sophie übernahm im Bund Deutscher Mädel bald Leitungsaufgaben, Hans vertrat als Fahnenträger die Ulmer Hitlerjugend beim Reichsparteitag 1935 in Nürnberg. Die Liebe zur Literatur und Natur prägte die Jugendzeit der Geschwister Scholl. Die Jugendorganisationen der NSDAP mit Wanderungen, Zeltlagern, Singen am Lagerfeuer und dem Gemeinschaftsgefühl waren ganz nach ihrem Sinn. Erst allmählich distanzierten sie sich vom Zwang der Gleichförmigkeit, der keinen eigenen Willen zuließ. Nach dem Abitur begann Sophie eine Ausbildung als Erzieherin. Ob sie persönlich Zeugin von Kindertransporten der SS wurde, ist nicht sicher. Inge Scholl schreibt in ihren Erinnerungen, eine befreundete Diakonieschwester habe der Familie berichtet, dass geistig und körperlich beeinträchtigte Kinder immer wieder abgeholt und in Konzentrationslager gebracht wurden. Nach Ableistung des Arbeitsdiensts nahm Sophie im Frühjahr 1942 ihr Philosophie- und Biologiestudium in München auf. Der Ausbruch des Krieges beschleunigte ihre Distanzierung vom Nationalsozialismus: „Ich kann es nicht begreifen, dass nun dauernd Menschen in Lebensgefahr gebracht werden von anderen Menschen. Ich kann es nie begreifen, und ich finde es entsetzlich. Sag nicht, es ist für‘s Vaterland“, schrieb sie wenige Tage nach Kriegsbeginn an ihren Freund Fritz Hartnagel.

Studentenleben in München

Die beiden Geschwister bezogen eine gemeinsame Wohnung in München. Sie besuchten Konzerte und Ausstellungen, zeichneten und lasen und trafen ihre Freunde, mit denen sie viel debattierten. Durch ihre Begegnung mit dem Publizisten Carl Muth, der sich für ein fortschrittliches Christentum einsetzte, das auch politisches Handeln einschloss, nahm der Glaube wieder einen größeren Raum in ihrem Denken ein. Hans Scholl erlebte den Ausbruch des Kriegs als Student der Medizin. Sein Patriotismus und seine Überzeugung von der Notwendigkeit des Krieges begann nach seinem ersten Einsatz als Gehilfe im Lazarett 1940 ins Wanken zu geraten. Der zweite Kriegseinsatz führte Hans Scholl und Alexander Schmorell im Sommer 1942 an die Ostfront. Er war der Auslöser dafür, ihren Widerstand zu verschärfen und weiter auszuweiten: „Ich höre nur Tag und Nacht das Stöhnen der Gequälten, wenn ich träume, die Seufzer der Verlassenen, und wenn ich nachdenke, enden meine Gedanken in der Agonie.“ (Russlandtagebuch vom 28.8.42)

Udo Zimmermanns „Weiße Rose“

Formal ist „Weiße Rose“ ein Werk, das sich der klassischen Operndramaturgie verweigert. Einige der 16 Szenen kann man auf konkrete Situationen oder Erinnerungen zurückführen, wie etwa den Abtransport der Kinder (Nr. 5 „Sie fahren in den Tod und singen, singen, singen…“), die Erlebnisse in Russland (Nr. 10 „Ein Mann liegt regungslos, erfroren“) oder den Abschied von den Eltern in der Todeszelle (Nr. 13 „Nicht abseits stehn, weil es abseits kein Glück gibt“). Die meisten Szenen aber beschreiben einen inneren Zustand: Sophie ist dabei sehr emotional, sie erinnert sich mit lyrischen Passagen an ihre Spaziergänge und flüchtet sich in ihre Liebe zur Natur; Hans berichtet dagegen etwas nüchterner von seinen Erfahrungen, analysiert und zieht seine Schlüsse daraus. Das Werk kulminiert in einem direkten Appell ans Publikum, nicht wegzuschauen, wenn Unrecht geschieht, sondern sich aktiv zur Wehr zu setzen: „Nicht mehr schweigen! Stellt euch nicht blind und taub, wenn mitten unter euch der Tod zu Hause ist.“ Es ist, so Udo Zimmermann, ein Werk gegen die Gleichgültigkeit.

Schreie, Träume, Bosheit und Angst

Musikalisch erzielt der erfahrene Musikdramatiker Udo Zimmermann mit dem 15-köpfigen Instrumentalensemble die größtmögliche Wirkung, indem er die Möglichkeiten des klassischen Instrumentariums in alle Richtungen auslotet, buchstäblich: Extreme Lagen oder große Intervallsprünge finden sich in allen Stimmen, einschließlich im Gesang. Andererseits findet der Komponist durch immer wieder neue Kombinationen der Instrumente für jede Szene auch einen spezifischen Klang; er schreibt im Duktus des romantischen Liedgesangs oder des protestantischen Chorals; er verzehrt ein vermeintliches Kinderlied in mahlerscher Manier oder zitiert Abschnitte aus einem nationalsozialistischen Kampflied. Gleich zu Beginn eröffnen martialische Schläge das Werk und führen in die brutale Außenwelt ein, in der Hans und Sophie Scholl leben. Das Orchester übernimmt nicht nur in der Exposition die Rolle des „Umfelds“: „Hier werden Schreie, Träume, Bosheit und Angst klangliche Gestalt.“ (Udo Zimmermann)

„Nürnberger Fassung“

Regisseurin Annika Nitsch und Ausstatterin Linda Siegismund betonen in ihrer Inszenierung den aufklärerischen Aspekt der Oper: Indem sie den abstrakten Szenen konkrete Ereignisse aus dem Leben der Geschwister Scholl zuordnen, rufen sie deren Wirken dem Publikum in Erinnerung. Dafür haben sie einige Eingriffe in das Werk vorgenommen. Eingefügte Zitate und Briefstellen weisen auf biographische Zusammenhänge hin. Die letzten beiden Szenen sind zudem getauscht: Das Werk endet nun mit der Hinrichtung der beiden Geschwister. Der Psalmentext des Beginns wird somit erst am Schluss zu Ende geführt: „Gib Licht meinen Augen, oder ich entschlafe des Todes. Und mein Feind könnte sagen, über den ward ich Herr.“

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