• Manon
  • Staatstheater Nürnberg
  • Oper von Jules Massenet, Saison 2019/20 (Auszug)
  • S. 23-29

Die Geschichte von Manon Lescaut

Text: Wiebke Hetmanek

In: Manon, Oper von Jules Massenet, Saison 2019/20 (Auszug), Staatstheater Nürnberg, S. 23-29 [Programmheft]

Des Grieux bezeichnet Manon als Sphinx, als Chimäre – rätselhaft, faszinierend, undurchschaubar, geliebt und gehasst gleichermaßen. Als literarische Figur lebt sie von dieser Ambiguität, die in unterschiedlichen Adaptionen – Ballett, Schauspiel, Oper oder Film – immer wieder anders gedeutet wird. Wie ihre Geschichte gelesen wird, erzählt dabei vor allem etwas über die Zeit des Lesers.

Abbé Prévost

„Die Geschichte von Des Grieux und Manon Lescaut“ ist ein Klassiker der Weltliteratur, erdacht wurde sie von Antoine François Prévost d’Exiles, genannt Abbé Prévost. Seine abenteuerliche und unangepasste Biografie hat schon früh Legenden über seine Person befördert. Prévost hat aber weder seinen Vater umgebracht noch vom Falschspiel gelebt, auch ist er nicht das Alter Ego von Des Grieux – obwohl immer wieder versucht wurde, seinen Bestseller autobiografisch zu lesen. Schließlich spielte sich auch sein Leben zwischen den Polen Kirche und Gesellschaft ab.

Abbé Prévost wird 1697 im Artois als Sohn eines bürgerlichen Beamten geboren. Mit 16 Jahren tritt er als Novize bei den Jesuiten ein, meldet sich aber nach drei Jahren freiwillig zum Militär. Und damit beginnt seine wechselvolle Geschichte zwischen Uniform, Kutte und Feder. Nach einigem Hin und Her legt Prévost schließlich sein Gelübde bei den Benediktinern ab und wird wegen seiner literarischen Ambitionen ins Haupthaus nach Paris berufen, wo er an einer Geschichte über die Klöster und Bistümer Frankreichs mitschreiben soll. Nach sieben Jahren flieht er vor der Strenge des Ordens nach England, tritt sogar zeitweise zum Anglizismus über.

1731 veröffentlicht er in Holland seine mehrbändigen „Erinnerungen und Abenteuer eines Mannes vom Stande“. Der siebte Band enthält die „Histoire du chevalier Des Grieux et de Manon Lescaut“. In dieser Zeit lebt Prévost ausschließlich von seinen eigenen Schriften und Übersetzungen, einer der ersten modernen Schriftsteller überhaupt. Schließlich kehrt er nach Frankreich zurück, Rom verzeiht ihm seinen Abfall vom rechten Glauben, und Prévost wird Hausgeistlicher beim Prinzen Conti. Er schreibt zahlreiche Romane, Reiseberichte, lernt Rousseau kennen, verstrickt sich in einen Presseskandal und übersetzt Samuel Richardsons empfindsame Romane aus dem Englischen. Liebesaffären begleiten sein Leben, darunter eine langjährige Beziehung zu Lenki Eckhardt, einer Kurtisane, die ihn finanziell ruiniert und lange Zeit als Vorbild für Manon angenommen wurde. 1763 stirbt Prévost an einem Schlaganfall.

Manon Lescaut

Über 20 Romane stammen aus der Feder von Abbé Prévost. Die Gattung des Romans war Anfang des 18. Jahrhunderts relativ jung und begann gerade erst, mögliche Spielarten auszuloten. Besonders beliebt waren Ich-Erzählungen, auch Prévost schildert seine Geschichte aus der Sicht Des Grieux’. Einer Mode der Zeit folgend entwirft er zudem eine Rahmenhandlung, um Authentizität seiner Erzählung zu suggerieren: Es gibt einen Herausgeber, der Des Grieux persönlich getroffen und dessen Bericht wortwörtlich aufgeschrieben haben will: „Man darf versichert sein, dass nichts so bis ins Kleinste getreu ist wie dieser Bericht, getreu bis in die Darstellung der Gedanken und Gefühle, die der junge Abenteurer auf die anmutigste Weise ausdrückte.“

Wurden die Frauen in den empfindsamen Romanen bis dato vor allem als verfolgte Unschuld dargestellt, so ist Prévosts Manon Opfer und Täterin zugleich. In ihrer Ambivalenz liegt die Faszination der Figur: „Manon kennt die Tugend, sie schätzt sie sogar hoch und begeht doch die unwürdigsten Handlungen“, schreibt Prévost, als er unter einem Pseudonym seinen eigenen Roman rezensiert. „Sie liebt den Chevalier mit äußerster Leidenschaft, doch ihre Begierde nach einem Leben voll Überfluss und Glanz lässt sie ihre Gefühle für den Chevalier verraten.“

Und der Chevalier zeigt Nerven. Zum empfindsam-galanten Plauderton der Literatur der „douce époque“ gesellt Prévost schwermütige Züge, Goethes Werther wirft seine Schatten voraus. Die Liebe wird als Naturmacht, als unentrinnbares Verhängnis beschrieben, und der Kampf zwischen Tugend und Leidenschaft entscheidet sich hier zum ersten Mal in der Literatur des 18. Jahrhunderts zugunsten der Liebe. Kein Wunder also, dass Prévost seinen Roman unter einem Pseudonym in Holland veröffentlichen musste, in Frankreich hätte er es nicht durch die Zensur geschafft. Aber nicht wegen der vermeintlich allzu sinnlichen Geschichte – erotische oder gar pornografische Stellen sucht man in dem Roman vergeblich –, es ist vor allem das gezeichnete Bild der Gesellschaft, das den Zensoren nicht gefiel.

Die Zeit der Régence

Die Zeit unter Ludwig XIV. ist für die Adligen Frankreichs eine Zeit des Wohlstands und des Vergnügens. Doch die Verschwendungssucht des selbstherrlichen und prachtliebenden Königs verliert immer mehr an Bodenhaftung. Zahlreiche Kriege bringen das Land zudem an den Rand des Staatsbankrotts. Nach Ludwigs Tod 1715 übernimmt Philipp II. von Orléans die Regentschaft für den noch minderjährigen Urenkel, den späteren Ludwig XV. In dieser Zeit der Régence werden dem Adel wichtige Ämter in Staat und Verwaltung entzogen und zumeist bürgerlichen Beamten übertragen. Die merkantilistische Wirtschaftspolitik fördert ebenfalls das Bürgertum, so dass es zum Träger des sozialen und ökonomischen Fortschritts wird. Der Geldadel beginnt dem Geburtsadel die Stellung streitig zu machen. Philipp versucht zudem, das marode Finanzsystem zu reformieren. Dies misslingt jedoch und führt zu einer veritablen Finanz- und Spekulationskrise.

Alte Werte und Bindungen an Religion, Monarchie oder Familie verlieren zunehmend an Bedeutung, Tugenden werden über Bord geworfen. Wieso, fragt Des Grieux seinen Vater im Roman, soll ich nicht falschspielen, wenn es der Herzog X und der Graf Y auch machen? Wieso darf ich keine Geliebte haben, wenn es doch beim Adel gang und gäbe ist? In Paris ist die Sittlichkeit nur noch eine Fassade, ganz im Gegensatz zu den Provinzen – aus denen kommt die Familie Des Grieux.

19. Jahrhundert

„Prévost hält die Erzählung selbst so in der Schwebe“, schreibt Kristina Maidt-Zinke, „dass sie ebenso als Liebesroman wie als gnadenlose Gesellschaftssatire wahrgenommen werden kann, als Moraltraktat wie als Melodram, als Sittengemälde, psychologische Studie oder früher Thriller.“ Während die einen ihn als zu libertin verbieten, empfiehlt noch Napoleon den Roman als abschreckende Erbauungslektüre für Dienstboten. Die Romantiker dagegen feiern Manons Geschichte als Sieg der Leidenschaft über die Vernunft. „Wer nicht liebt wie Des Grieux, das heißt gegebenenfalls bis zum Verbrechen, bis zur Schande, kann nicht sagen, dass er liebe“, begeistert sich Alexandre Dumas. In seinem Roman „Kameliendame“, die literarische Vorlage für Giuseppe Verdis „La Traviata“, spielt Prévosts Roman eine entscheidende Rolle. Auch hier gibt es eine Art Herausgeber, der angeblich bei der Wohnungsauflösung der Mätresse Marguerite das Buch von Prévost erwirbt. Tage später sucht ihn ein junger Mann auf und möchte den Band unbedingt zurückkaufen. Gefragt nach dem Grund, erzählt er seine Liebesgeschichte, die der Herausgeber dann aus dem Gedächtnis wiedergibt.

Manon

Rund 30 Jahre nach der Uraufführung von Verdis „La Traviata“ wird Jules Massenets Oper „Manon“ an der Pariser Opéra-Comique uraufgeführt. Es ist die Zeit der Dritten Republik, der französischen Gründerjahre. Das Großbürgertum strebt in die luxuriöse Welt des Adels, das Kleinbürgertum pflegt seine Tugenden, mit deren Hilfe es zu Großbürgern aufzusteigen hofft. Die Sehnsüchte der Manon scheinen denen des Bürgertums zu entsprechen: Reichtum und gesellschaftliche Anerkennung auf der einen Seite, bedingungslose romantische Liebe auf der anderen. Doch Massenet lässt keinen Zweifel daran, dass Aufstieg und Fall der Manon nicht nur in ihrem ambivalenten Charakter begründet liegen, sondern auch in der dekadenten Gesellschaft um sie herum. Gegenüber seinen Librettisten besteht er auf den Genreszenen im Kloster St. Sulpice und im Hôtel Transylvanie.

Geld entscheidet in dieser Gesellschaft, nach wessen Regeln gespielt wird. Während sich die Kleinbürger auf die Rolle der Voyeure beschränken müssen, wetteifern die Herren Morfontaine und Brétigny mit horrenden Ausgaben um Manons Gunst. Des Grieux scheint aus einer anderen, vergangenen Zeit zu kommen. Seine Vision von der Zukunft mit Manon ist ein kleinbürgerliches zurückgezogenes Leben in einem Häuschen am Waldrand. Mit den Gepflogenheiten in der Hauptstadt kommt er nicht zurecht – Lescaut ist sein Lehrmeister. Manons angeblicher Cousin schwimmt im Strom mit und weiß jede Situation, auch seine Cousine, für seinen Vorteil zu nutzen. Den Frauen bleibt in dieser Gesellschaft lediglich die Möglichkeit, gute Miene zum bösen Spiel zu machen, wenn sie auch etwas vom Kuchen abbekommen möchten. Ihnen bleibt dafür nicht viel Zeit, sie haben einzig ihre Jugend anzubieten: „Profitons bien de la jeunesse!“ – Lasst uns die Jugend nutzen, bevor sie vergeht!

Die berühmte Gavotte von Manon ist mit der Verwendung der alten Tanzform eine musikalische Reverenz an das 18. Jahrhundert. Massenet trübt sie allerdings immer wieder ins Moll, und so wird sie zum Abgesang nicht nur einer vergangenen Zeit, sondern auch der eigenen Lebenszeit. Massenets Manon ist sich jederzeit ihrer selbst und ihrer Handlungen bewusst. Ihre Perspektive, die in Prévosts Roman nicht vorkommt, liefert die Oper nach: Manons Verwirrung bei der Ankunft in Paris („Je suis encore tout étourdie“) spiegelt sich in einer unregelmäßigen, zögernden Melodiephrase; ihr Wissen um den Verlust, den der Verrat an Des Grieux mit sich bringt, kommt in der schlichten Arie „Adieu, notre petite table“ zum Ausdruck. Beide Melodien tauchen als Erinnerungsmotive immer wieder auf und lassen in Manons Innenleben blicken. Seismografisch folgt Massenet den Stimmungen seiner Titelheldin. Möglich wird dies durch die Form der Opéra-comique.

Opéra-comique

Die Opéra-comique ist eine spezifisch französische Opernform, die sich im späten 18. Jahrhundert als Gegenbewegung zur Grand Opéra entwickelt hat. Stofflich setzte man dabei weniger auf staatstragende Handlungen, sondern konzentrierte sich auf private und intimere Gegenstände. „Comique“ bedeutet dabei nicht „komisch“ – auch Georges Bizets „Carmen“ ist eine Opéra-comique –, sondern im Sinne von Honoré de Balzacs „Comédie humaine“ „menschlich“. Musikalisch orientierten sich die Komponisten an einfacheren, bisweilen liedhaften Formen und verwendeten – als wichtigstes Gattungsmerkmal – Dialoge und Melodramen. In „Manon“ nutz Massenet diese Möglichkeiten virtuos: Vom gesprochenen Wort über das Melodram zum Rezitativ und Arioso bis zur Arie, zum Ensemble und schließlich Chortableau – durch die feine Wahl seiner Mittel lenkt er die Aufmerksamkeit auf die Zwischentöne. „Mehr als 200mal, durchschnittlich zwischen jedem 20. und 30. Takt“, zählt Norbert Miller, „ereignen sich solche Umbrüche, die Massenet auf das sorgfältigste in seiner Partitur festhält und kommentiert. Jede Nuance der Intonation, jede Bewegung im Orchester, jede Phrasierung wird festgelegt, um so zwischen Musik, Text und szenischer Aktion ein vielfältig in sich verwobenes Kontinuum herzustellen.“

Manon-Versionen

Massenet war nicht der erste und nicht der letzte Komponist, der Prévosts Roman vertont hat. Er war aber sicherlich derjenige, der der literarischen Vorlage am nächsten gekommen ist. Michael William Balfe schreibt 1836 für das Drury Lane Theatre in London eine Version mit Happy End; Daniel François Esprit Auber (1856) erfindet für seine „Manon Lescaut“ einige neue Figuren, scheitert vor allem aber an den dramaturgischen Schwächen des Librettos. Knapp zehn Jahre nach Massenet schreibt Giacomo Puccini seine Oper, die sich ebenfalls bis heute im Repertoire hält. Puccini konzentriert sich vor allem auf das Liebesdrama der Protagonisten und auf die Konflikte, die in ihren Persönlichkeiten begründet liegen. Trotz der Nähe zu Prévost ist Massenets Version die einzige, die nicht in Amerika endet. In Prévosts Roman scheitert der Versuch, Manon auf dem Gefangenentransport zu befreien. Deswegen schifft sich Des Grieux ebenfalls in Le Havre ein. In der französischen Kolonie Louisiana geben sie sich als Ehepaar aus und können einige Zeit ein unbeschwertes, kleinbürgerliches Leben mit Beamtenposten und einigen gesellschaftlichen Kontakten pflegen. Als jedoch bekannt wird, dass sie in „wilder Ehe“ leben, wird ihnen Neid, Missgunst und Bigotterie zum Verhängnis. Sie müssen in die Wüste fliehen, wo Manon elendig verdurstet.

Auch in der bis dato neuesten Opernadaption wird auf diesen Tod in der Wüste verzichtet. Hans Werner Henze holt Manons Geschichte in seine Gegenwart, in die 50er Jahre. Sein Lyrisches Drama „Boulevard Solitude“ (1952) rückt wieder Des Grieux in den Mittelpunkt des Geschehens und erzählt von der Vereinsamung des Individuums in der Großstadtgesellschaft. Auch das ist „Die Geschichte von Des Grieux und Manon Lescaut“.

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