• Krieg und Frieden
  • Staatstheater Nürnberg
  • Oper von Sergej Prokofjew, Saison 2018/19 (Auszug)
  • S. 31-35

Geschichtspanorama und Propagandaschinken

Text: Georg Holzer

In: Krieg und Frieden, Oper von Sergej Prokofjew, Saison 2018/19 (Auszug), Staatstheater Nürnberg, S. 31-35 [Programmheft]

Sergej Prokofjew war nicht nur einer der besten Komponisten des 20. Jahrhunderts, sondern auch ein Mensch mit einer Biografie, in der sich die dramatische Entwicklung seines Heimatlands zu seinen Lebzeiten widerspiegelt. Der Jungstar der Petersburger Musikszene hatte die junge Sowjetunion in den Bürgerkriegswirren nach der Oktoberrevolution verlassen, allerdings nicht als politischer Flüchtling, sondern mit dem Segen der Partei. Seit 1927 intensivierte er die Kontakte in die Heimat, verbrachte sogar mehrmals einige Monate dort. Dass er aber ausgerechnet im Jahr 1936 endgültig wieder in die UdSSR zurückkehrte, spricht für eine gewisse Weltfremdheit Prokofjews. In diesem Jahr erreichten Stalins Säuberungen einen ersten Höhepunkt, der Große Terror begann. Sich in einer solchen Zeit freiwillig in ein Land zu begeben, in dem jeden Tag Menschen abgeholt, eingesperrt und ermordet wurden, Namenlose genau wie Prominente, war ein unkalkulierbares Risiko. Bald lernte Prokofjew selbst die Tücken des Systems kennen, in dessen Hand er sich begeben hatte. Für die Sowjetunion war die Rückkehr des weltbekannten Komponisten zwar ein großartiger Propaganda-Coup, aber deshalb rollten ihm die Funktionäre noch lange keinen Teppich aus. Ständig musste sich Prokofjew für seine Musik rechtfertigen, denn er stand immer im Verdacht, nicht volkstümlich und verständlich genug zu komponieren.

Ein Dienst am Vaterland

Dabei war Prokofjew nur allzu bereit, am Wohl des sozialistischen Vaterlands mitzuarbeiten. Wurde er dazu aufgefordert, Musik für die werktätigen Massen zu schreiben, tat er das zuverlässig. Auch die Zusammenarbeit mit dem Regisseur Sergej Eisenstein und seine Filmmusiken für ihn dienten der sowjetischen Propaganda. Trotzdem wollte Prokofjew die Musik komponieren, von der er überzeugt war, die aber bei den offiziellen Stellen nicht immer auf Begeisterung stieß.

„Krieg und Frieden“, das größte Opernprojekt in Prokofjews Schaffen, war beides, Herzensprojekt und Dienst am Vaterland. Mit dem Gedanken, Tolstois großen Roman zu vertonen, hatte Prokofjew sich schon lange getragen, aber nun machte die Not des Zweiten Weltkriegs das Epos zum Stoff der Stunde. Die Parallelen zu Napoleons Überfall auf Russland 1812 waren frappierend. Wie einst Napoleon war Hitler im Land eingefallen, und wie Kutusow versuchte der „Generalissimus“ Stalin, unter größten Menschenopfern die Invasion aufzuhalten und zurückzuschlagen. Tolstois Roman, der mit dem Sieg der Russen endete, musste auf einen Leser der frühen 40er Jahre eine elektrisierende Wirkung haben. Gemeinsam mit seiner neuen Lebensgefährtin Mira Mendelson verwandelte Prokofjew den Roman in ein Libretto. Man merkt der Textfassung an, wie gut die beiden Autoren ihren Tolstoi kannten. Angesichts des Umfangs des Romans war klar, dass enorme Weglassungen nötig waren. So strichen Prokofjew und Mendelson den gesamten Handlungsstrang um Nataschas Bruder Nikolai Rostow, der im Roman großen Raum einnimmt. Sie konzentrierten sich im ersten Teil, dem „Frieden“, streng auf die Liebesgeschichte zwischen Natascha Rostowa und Fürst Andrej Bolkonski und Nataschas Verführung durch Anatol Kuragin. Im zweiten Teil, dem „Krieg“, fanden sie eine ebenso klare Struktur: die Vorbereitungen der Schlacht von Borodino (8. und 9. Bild), Kutusows Entscheidung, Moskau aufzugeben (10. Bild), die zunehmende Verzweiflung der Franzosen im brennenden Moskau und Pierres Gefangenschaft (11. Bild), Fürst Andrejs Tod in Nataschas Armen (12. Bild) und Pierres Befreiung sowie die Flucht der Franzosen aus Russland (13. Bild). Sie haben sich dafür entschieden, die Geschichte nicht zu Ende zu erzählen: Die künftige Verbindung von Pierre und Natascha wird nur angedeutet. Es fehlt der lange Epilog des Romans, in dem wir den neuen Paaren Pierre und Natascha, Nikolai Rostow und Prinzessin Marja Bolkonskaja (Andrejs Schwester) in ihrem täglichen Leben begegnen.

Trotz der patriotischen Absicht seines Stücks hatte Prokofjew bei den Funktionären wenig Glück. Er komponierte sehr schnell, was verwunderlich ist angesichts der Größe der Aufgabe und Prokofjews schlechten Gesundheitszustands. Schon 1943, also noch mitten im Krieg, spielte Prokofjew dem Komitee des Bolschoi Theaters Auszüge aus der Oper am Klavier vor. Die Reaktion war verhalten. Die Funktionäre wollten mehr Vaterländisches. Prokofjew, der das Stück möglichst bald auf der Bühne sehen wollte, fügte Märsche ein und Volkschöre wie den Epigraf. Eine Aufführung kam trotzdem nicht zustande. Im Gegenteil, es kam noch schlimmer: 1948 wurde Prokofjew, gemeinsam mit seinen sehr prominenten Kollegen Schostakowitsch und Chatschaturian, vom Politbüro des „Formalismus“ bezichtigt. Das hieß, dass man seine Musik als unhörbare geistige Selbstbefriedigung ansah. Ein schwerer Schlag für Prokofjew und kein gutes Vorzeichen für eine Aufführung von „Krieg und Frieden“. Tatsächlich sollte Prokofjew die Uraufführung nicht mehr erleben. Erst zwei Monate nach seinem Tod gab es im Mai 1953 eine gekürzte Fassung am Teatro Comunale in Florenz. Eine weitere unvollständige Fassung folgte in Moskau, bis dann endlich, am 15. Dezember 1959, die ungekürzte Uraufführung am Bolschoi Theater über die Bühne ging.

Privates und Politisches

Wie Tolstoi verzahnt Prokofjew in „Krieg und Frieden“ die individuellen Lebensgeschichten seiner Figuren unauflöslich mit den großen historischen Ereignissen. Im ersten Teil sehen wir junge (und auch ein paar alte) Menschen, die dem Frieden nicht gewachsen sind. Materielle Sorgen haben sie nicht (abgesehen von der Familie Rostow, deren Oberhaupt ständig das Familienvermögen verzockt), aber sie können mit dieser Freiheit nichts anfangen. Fürst Andrej flieht vor der großen Sinnlosigkeit, die er empfindet, zuerst in den Militärdienst, dann in die Politik, dazwischen in die Ehe; überall wendet er sich enttäuscht wieder ab. Natascha flüchtet in Liebesgeschichten, die ihr das Herz brechen. Pierre, der schwerreiche Erbe, begibt sich am offensivsten auf Sinnsuche. Er versucht, die Lebensbedingungen seiner Bauern zu verbessern (womit er scheitert, aber das verheimlicht man ihm), er engagiert sich als Freimaurer, er heiratet eine schöne Frau, die ihm bald völlig fremd wird.

Der Krieg löst nicht alle Probleme dieser Figuren, aber er zeigt ihnen eine Richtung. Tolstois Moral ist unheimlich: Es braucht manchmal eine Katastrophe, um den eigenen Weg zu finden. Fürst Andrej geht noch einmal in den Krieg und erlebt ihn diesmal als sinnvoll, weil es nicht mehr um strategische Fragen geht, sondern um die konkrete Rettung des Vaterlands. Ihn kostet dieser Krieg das Leben, aber sterbend findet er mit Nataschas Hilfe den Lebenssinn, den er so lange vergeblich gesucht hat. Natascha findet im Einsatz für die Verwundeten von Borodino ihre Erfüllung. Und Pierre versteht durch seine Begegnung mit dem einfachen Mann Platon Karatajew, dass die Unterschiede zwischen den Menschen nicht in ihrer sozialen Stellung liegen, sondern darin, ob sie etwas vom Leben begriffen haben oder nicht.

Ein Anti-Kriegs-Stück

So könnte man auf den Gedanken kommen, dass der Krieg in Tolstois und Prokofjews Sicht sogar etwas Positives und Produktives haben kann. Aber davon sind Roman und Oper weit entfernt. Im Gegenteil: Die Sinnlosigkeit und Lächerlichkeit des Krieges sind allgegenwärtig. Diese Sinnlosigkeit bündelt sich in der Figur Napoleons, der um des Kriegführens willen Krieg führt und einen gewaltigen Feldzug letztlich nur entfesselt, um die Legitimation seiner zweifelhaften Herrschaft zu sichern. Schon früh in seiner Karriere, als er noch nicht Kaiser, sondern erst Konsul war, hat Napoleon sehr offen zugegeben, dass der Krieg seine Daseinsberechtigung war: „Ein Erster Konsul ist nicht vergleichbar mit diesen Königen von Gottes Gnaden, die ihre Staaten als Erbteil ansehen. Er braucht spektakuläre Aktionen und also den Krieg.“ Im 9. Bild wirkt das Hauptquartier der Franzosen nicht wie die Zentrale einer perfekten Kriegsmaschine, sondern eher wie ein Hühnerhaufen. Im 10. Bild, das in unserer Inszenierung bis auf die große Kutusow-Arie gestrichen ist, stellen sich die russischen Generäle noch dilettantischer an, was wohl auch der Wirklichkeit entsprach. Der Krieg erscheint hier nicht als etwas Heroisches, als Zustand, der den Menschen zu Tapferkeit und Leistung herausfordert, sondern als Betätigungsfeld von inkompetenten älteren Herren. Einen Sinn bekommt er höchstens im Volkskrieg, in der Abwehr des Aggressors, im ganz konkreten Kampf um die eigene Freiheit und Selbstbestimmung. Tolstoi wusste beim Verfassen seines Romans, dass der Schulterschluss zwischen Eliten und Volk 1812 nur ein kurzes Intermezzo gewesen war. Auf längere Sicht hatte der Sieg über die Franzosen nicht zu verbesserten Lebensbedingungen der Bauern und Arbeiter geführt. Nach dem Sieg der Alliierten über Hitler-Deutschland war es ähnlich: Noch viele Jahre nach dem Krieg war das Volk der Sowjetunion ärmer und geknechteter als vorher. Bessere Zeiten sollten kommen, zumindest in bescheidenem Maß. Aber das hat Prokofjew, der am selben Tag wie sein Quälgeist Stalin starb, nicht mehr erlebt.

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