• Jakob Lenz
  • Staatstheater Nürnberg
  • Kammeroper von Wolfgang Rihm, Saison 2018/19 (Auszug)
  • S. 21-26

Unglücksrabe und Revolutionär

Text: Georg Holzer

In: Jakob Lenz, Kammeroper von Wolfgang Rihm, Saison 2018/19 (Auszug), Staatstheater Nürnberg, S. 21-26 [Programmheft]

Der Dichter Jakob Michael Reinhold Lenz ist einer der großen Unglücksraben der deutschen Literatur. Seine Geschichte ist oft erzählt worden, weil sie so exemplarisch scheint: ein hochbegabter junger Mann, dem die Gunst des Augenblicks gehört, der sich zum richtigen Zeitpunkt in der vermeintlich richtigen Gesellschaft befindet. Unter den jungen Dichtern des „Sturm und Drang“ ist Lenz vielleicht der glühendste und unkonventionellste, dazu das größte dramatische Talent. Aber Lenz schafft den Absprung ins Establishment nicht. Während der von ihm bewunderte, ja angebetete Goethe im Fürstendienst Karriere macht, bleibt Lenz‘ Karriere stecken. So ist das mit der Bohème, irgendwann ist es vorbei mit dem revolutionären Kunstleben in der Mansarde. Dann hat der junge Künstler die Wahl: zu verbürgerlichen oder zum Berufsrebellen zu werden. Oder er geht vor die Hunde. Das passiert mit Lenz.

Es ist was faul

Lenz‘ Theaterstücke, insbesondere „Der Hofmeister“ und „Die Soldaten“, sind Meisterwerke des deutschen Theaters. Realistisch bis über die Schmerzgrenze, hoffnungslos, aber mitfühlend. Ein idealer Vertreter des „Sturm und Drang“ ist Lenz in künstlerischer Hinsicht: Seine Dramen sind sprachgewaltig, unaufgeräumt und gehen schonungslos mit ihren Figuren um. Sozialrevolutionäre Räuber und arschleckende Ritter gibt es bei ihm zwar nicht, aber die Welt, die er beschreibt, ist keine gute und menschenfreundliche. Im „Hofmeister“ wird dem Privatlehrer Läuffer so lange das Gehalt gekürzt, bis er sich nur noch erotisch Luft machen kann und sich schließlich selbst entmannt. In den „Soldaten“ wird die Kaufmannstochter Marie Wesener von einem moralisch verkommenen Offizier ins Unglück gestürzt. Es ist was faul in Lenz‘ Welt. Trotzdem enden seine Stücke versöhnlich. Der Dichter selbst dagegen findet für seine Existenz immer weniger einen versöhnlichen Ausweg.

Wer etwas von der Unruhe und Aufgewühltheit des lenzschen Geistes erahnen will, wird in seiner Lyrik fündig. Sicher, der hohe Ton, die Emphase und Überreiztheit der Bilder ist für die zweite Hälfte des 18. Jahrhunderts typisch. Doch merkt man Lenz‘ Versen an, wie sehr es in ihm gärt: ein Amalgam aus religiöser Schwärmerei, Feier des Naturerlebens und unglücklicher Liebe, so intensiv, dass es die Grenzen des lyrischen Ausdrucks zu sprengen droht. Man muss darin nicht gleich eine gefährdete Persönlichkeit erkennen, aber es verwundert nicht, dass eine solche dahinter steckt.

Von der Klassik ausgespuckt

Das größte Rätsel in Lenz‘ Leben ist die so genannte „Eseley“, von der Goethe schreibt, ohne darauf genauer einzugehen. Lenz muss irgendeinen Fauxpas begangen haben, der so schwerwiegend war, dass sich seine Freunde von ihm distanzierten – was ihnen vermutlich gar nicht so ungelegen kam. Denn Lenz war anstrengend in der Kompromisslosigkeit seines Lebens und Schreibens. Auch in seiner Armut. Finanziell kam der Dichter Lenz nie auf einen grünen Zweig und war oft von der Gastfreundschaft seiner Bekannten abhängig. Dazu die dauernden unglücklichen Liebesgeschichten, zunächst die unerwiderte Liebe zu Goethes abgelegter Flamme Friederike Brion, dann die nur von Briefen genährte Leidenschaft für Henriette von Waldner. Kurz: Lenz nervte. Aus Weimar, wo man ihn zuerst gern gesehen hatte, flog er im Dezember 1776 hinaus, auf Betreiben Goethes. Von da an tingelte er durch Deutschland und die Schweiz und kam schließlich nach Russland, wo er starb. Während seine Freunde auf mehr oder weniger einträgliche Posten gelangten, fand Lenz keinen Platz in der Welt.

Insbesondere Goethe hat Lenz, den Freund aus Straßburger Tagen, sehr unsanft fallen lassen. Offensichtlich war Lenz ihm peinlich. Vielleicht war er auch nicht unglücklich, einen Konkurrenten weniger zu haben, einen von erheblichem literarischem Talent. Vielleicht wollte der Staatsrat auch nicht gern an seine frühe Sturm-und-Drang-Phase erinnert werden. Jedenfalls findet sich in Goethes gut dokumentiertem Leben kein Hinweis darauf, dass er Lenz jemals vermisst hätte.

Mit Lenz‘ Person verschwand zunächst auch seine Literatur aus dem Fokus. In seiner Autobiografie „Dichtung und Wahrheit“ sprach Goethe den Bann aus: „Lenz jedoch, als ein vorübergehendes Meteor, zog nur augenblicklich über den Horizont der deutschen Literatur hin und verschwand plötzlich, ohne im Leben eine Spur zurückzulassen.“ Eine ausgesuchte Gemeinheit in jeder Hinsicht. Wie kann man von einem Autor, dessen bedeutende Werke schwarz auf weiß vorliegen, behaupten, er habe keine Spur hinterlassen? Worin auch immer seine Motive bestanden: Goethe wollte eine „damnatio memoriae“ des Jakob Lenz. Diesen Dichter sollte es nie gegeben haben.

Büchner entdeckt Lenz

Insofern ist es kein Wunder, dass nicht die damals noch junge Disziplin der Germanistik Lenz im 19. Jahrhundert wiederentdeckte, sondern ein anderer Dichter. 1835, also mehr als 40 Jahre nach Lenz’ einsamem Tod auf einer Moskauer Straße, wurde Georg Büchner auf ihn aufmerksam. Das Herzstück seiner Erzählung „Lenz“ ist der Bericht des Pfarrers Oberlin über Lenz‘ kurzen Aufenthalt in seinem Haus, aus dem – in meist wörtlichem Zitat – etwa die Hälfte von Büchners Text besteht. Oberlin schildert darin das Abgleiten seines Gastes in den Wahnsinn, an dessen Ende ein Schub paranoider Schizophrenie steht. Für Büchner, der über die Revolution nicht nur schrieb, sondern auch politisch für sie kämpfte, war dieser Jakob Lenz ein in doppelter Hinsicht interessanter Fall. Als Mediziner interessierte ihn an Lenz der Zusammenhang zwischen gesellschaftlichem Außenseitertum und Geisteskrankheit. Der Dichter verzweifelt daran, künstlerisch an den Rand gedrängt und sozial stigmatisiert worden zu sein. Als Schriftsteller fühlte sich Büchner dem anti-klassischen und anti-idealistischen Literaturbegriff von Lenz nahe: Literatur soll nicht schön sein, sondern wahr. Dazu muss der Dichter Erfahrungen machen und die Welt in Literatur verwandeln – nicht wie sie sein sollte, sondern wie sie ist. Diese entschiedene Ablehnung jeglicher Schönfärberei in der Kunst verbindet Lenz mit Büchner.

Seit der Veröffentlichung von „Lenz“ 1836 segelt Jakob Michael Reinhold Lenz in Büchners Windschatten durch die deutsche Literatur und hat es damit nicht schlecht getroffen. Auch wenn seine Stücke nicht zum innersten Repertoire der Spiel- und Lehrpläne gehören, werden sie doch gelesen und an Universitäten erforscht.

Bertolt Brecht entdeckte den „Hofmeister“ im Exil und spielte das Stück in einer eigenen Bearbeitung 1949/50 am Berliner Ensemble, womit er dem Interesse an Lenz einen wichtigen Impuls gab. Schwer zu sagen, ob es Brecht war oder einfach der Zeitgeist, der Jakob Lenz in den 1960er und 70er Jahren wieder zu einem literarischen Star machte. Die revolutionsverliebten Achtundsechziger fanden ihn im Schlepptau ihrer Idole Büchner und Brecht und erhoben ihn zum Anti-Klassiker im besten Sinne. Wenn ein NS-verstrickter, mächtiger Groß-Ordinarius wie Benno von Wiese über Lenz schrieb, er sei „das tragisch scheiternde Genie neben dem großartigen Gelingen Goethes“, musste einem Germanistik-Studenten, der etwas auf sich hielt, natürlich das Messer in der Tasche aufgehen. So entstand das Lenz-Bild, das heute noch vorherrscht: Lenz als der Hochbegabte, Gefährdete, den seine früheren Freunde fertigmachen wollten, nachdem sie selbst zu Spießern geworden waren. In diesen Zusammenhang passt auch, dass der Kölner Komponist Bernd Alois Zimmermann „Die Soldaten“ 1965 zur Grundlage einer revolutionären Oper machte. Wenn jemand Verkrustungen aufbrechen und Lebenslügen entlarven will, wird er in Lenz‘ Leben und Werk schnell fündig.

Rihms Kammeroper „Jakob Lenz“ In diesem Kontext steht auch die Kammeroper „Jakob Lenz“ von Wolfgang Rihm und Michael Fröhling aus den Jahren 1977/78. Das Libretto besteht vor allem aus Gedichten von Lenz und aus Zitaten aus Büchners Erzählung. So wird einerseits eine fortlaufende Geschichte erzählt, andererseits in Lenz‘ Kopf geblickt. In diesem Kopf sieht es nicht gut aus: Dort treiben sich Stimmen herum, die den Dichter in den Wahnsinn treiben. Insofern lässt sich „Jakob Lenz“ als musikalische Pathologie lesen, die das Abgleiten eines Menschen in die Geisteskrankheit beschreibt. Aber noch mehr wird deutlich, dass die Welt und Lenz nicht zusammenpassen – und das liegt weniger an Lenz als an der Welt. Sie überschüttet ihn mit Eindrücken, die er wahrnehmen muss und die zu sortieren ihm nicht gelingt. Lenz ist nicht in der Lage, sich mit der Außenwelt zu arrangieren. Er bleibt „konsequent“, so sein letztes Wort in der Oper, das er siebzehneinhalb Mal wiederholt. Während seine Freunde Karriere machen, bleibt er konsequent. Aber mit Konsequenz macht man sich keine Freunde und handelt sich ein mühsames Leben ein, das wissen wir auf dem Theater spätestens seit Molières „Menschenfeind“.

In den 40 Jahren seit seiner Uraufführung ist Rihms „Jakob Lenz“ zu einem modernen Klassiker geworden. Es war der erste Geniestreich eines Komponisten, dessen Werke seitdem aus den Opernhäusern und Konzertsälen nicht mehr wegzudenken sind. Um die künstlerische Qualität und Bedeutung von „Jakob Lenz“ muss man heute nicht mehr streiten. Deshalb gerät leicht aus dem Blick, dass das Stück zu seiner Zeit durchaus kontrovers war: Ein junger, damals gerade 25-jähriger Komponist schrieb eine Oper, in der es Figuren gab, in der es Psychologie gab, in der nicht mit seriellen Verfahren, sondern auch mit Zitaten komponiert wurde. Eine Musik, die das Innenleben der Figuren lebendig machen wollte. War das nicht ein Rückfall in die Romantik? Ein Kotau vor dem traditionellen Opernpublikum? So schlimm ist es dann nicht gekommen. „Jakob Lenz“ ist auch heute noch ein Werk, das sowohl die Sängerinnen und Sänger als auch das Publikum herausfordert und nicht zum Mitpfeifen verleitet.

Kein „Operchen“

Auffällig ist die Stimmbehandlung, die Rihm vor allem vom Sänger der Titelrolle verlangt: schreien, flüstern, im Falsett singen, dann aber zum romantischen Schönklang zurückkehren. Die Instrumentation ist klar und reduziert, es fehlen die Orchester-Grundinstrumente Geige und Bratsche. Holzbläser, Blechbläser, Schlagzeug, Cembalo und drei Violoncelli stellen das Orchester von „Jakob Lenz“. Es ist eine Kammeroper, aber, wie Rihm betont: „Kammeroper heißt nicht: Operchen. Es ist vielmehr – ähnlich dem Verhältnis Kammermusik/Sinfonie – eine andere Art, musikalisch auf der Bühne zu reden.“ Das Cembalo und einige Zitate aus Volksliedern verweisen auf die Lebenszeit des historischen Lenz, ebenso traditionelle musikalische Formen wie Sarabande, Ländler und ein Rondo.

Zwei Figuren aus Lenz‘ Biografie hat der Librettist seiner Hauptfigur zugeordnet. Der erste, Pfarrer Oberlin, ist der, dem wir den Augenzeugenbericht von Lenz‘ Aufenthalt im elsässischen Waldersbach und damit auch Büchners Novelle verdanken. Johann Friedrich Oberlin (1740-1826) war protestantischer Theologe, Sozialreformer, Pädagoge und Menschenfreund, der im Elsass versuchte, die Lebensbedingungen der Armen nachhaltig zu verbessern, indem er sie zu ertragreicherer Landwirtschaft anleitete. In der Oper meint Oberlin es zweifellos gut mit Lenz, rutscht in dessen Augen aber schnell in die Rolle des Vaters (Lenz stammte aus einem Pfarrhaus), dessen Erwartungen er nicht erfüllen zu können glaubt. Christoph Kaufmann (1753-1795) ist nicht als großer Schriftsteller in die Geschichte eingegangen, gilt aber als Erfinder des Begriffs „Sturm und Drang“. Er war eine schillernde Persönlichkeit, der sich ohne nennenswerte Kenntnisse als Arzt, Gesundheitsapostel und Theologe betätigte, durchaus mit einigem Erfolg. Er kann als Gegenbild zum skrupulösen Lenz gesehen werden. Sein Literaturgespräch mit Lenz, in dem sich die beiden über den Realismus in der Literatur streiten, ist eine Schlüsselszene sowohl in Büchners als auch in Rihms Lenz-Version.

Der entscheidende dramaturgische Kunstgriff des Stücks aber sind die Stimmen. Sie sind viel mehr als nur eine Illustration von Lenz‘ Schizophrenie, sind für ihn sowohl Außenwelt als auch Innenleben, sie kommentieren, verstärken, verunsichern, kurz: Sie sind das Scharnier zwischen Lenz und der Welt, das einfach nicht passen will. Am Ende der Oper sind sie es, die Lenz dazu auffordern, „konsequent“ zu sein. Wohin ihn diese Konsequenz führen wird, diese Frage beantwortet das Stück nicht mehr.

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