• Magazin Klassik
  • Radio Klassik Stephansdom
  • # 24 | Frühling 2022
  • S. 6-8

Der selbstkritische Brahms

Text: Otto Biba

In: Magazin Klassik, # 24 | Frühling 2022, Radio Klassik Stephansdom, S. 6-8 [Hörermagazin]

Wenn ein Komponist sehr selbstkritisch ist, kann das nur gut für ihn und für sein Schaffen sein. Aber einen Blick auf die stille und weitgehende Selbstkritik von Brahms zu werfen, mag zu Staunen führen und das landläufige Bild von Brahms ergänzen.

Denn nach diesem traut man ihm gar nicht zu, so viele eigene Werke vernichtet zu haben, als er es tatsächlich tat. Bruckner gilt als der unsichere Zauderer, der immer wieder Änderungen an seinen Symphonien vornahm, teils aus eigenem, teils aufgrund von Einmischungen anderer. Und Brahms? Er brauchte gar nicht andere, stand er doch selbst sehr distanziert und kritisch seinem Schaffen gegenüber.

Auch bei ihm gab es Umarbeitungen, aber in viel größerem Maße als bei Bruckner. Ein paar Beispiele:

Die für kleines Orchester geschriebene Erste Serenade op. 11 hat er nach der gut aufgenommenen Uraufführung völlig neu für großes Orchester instrumentiert; von der ersten Fassung hat er seine eigene Partitur wie auch die bei der Uraufführung verwendeten Orchesterstimmen vernichtet. Diese sollte es nicht mehr geben. Warum er das gemacht hat, dazu hat er sich nicht geäußert, und weil wir die erste Fassung nicht kennen, fehlt uns auch jede Möglichkeit zur Spekulation. Ein anderes Beispiel: Das erste Klavierkonzert op. 15 war ursprünglich eine Sonate für zwei Klaviere, deren drei Sätze er mehrmals mit Clara Schumann gespielt hatte. Plötzlich entschloss er sich, daraus eine Symphonie zu machen; mindestens deren ersten Satz hat er komplett ausgearbeitet. Irgendwie gefiel ihm diese Idee aber auch nicht, und er machte aus dem vorhandenen musikalischen Material ein Klavierkonzert. Von der Sonate und der Symphonie ist nichts übriggeblieben.

Überarbeitungen von bereits öffentlich präsentierten Werken, wie bei Bruckner, gibt es auch bei Brahms. Das 1854 komponierte und noch im selben Jahr publizierte Klaviertrio op. 8 hat er 1889 überarbeitet. Was steckte da wirklich dahinter? Konnte er plötzlich nicht mehr zu diesem Jugendwerk stehen, zu allen anderen publizierten Jugendwerken aber schon? Weil man ja beide Fassungen kennt, gibt es genug Theorien über die Gründe der Umarbeitung. Aber überzeugend ist m.E. nach keine. Warum sollte man aber auch ins Innere eines Komponisten blicken können? Befriedigende Äußerungen von ihm gibt es dazu nicht, auch nicht zu folgendem Beispiel: Nachdem Brahms seine Erste Symphonie op. 68 insgesamt in acht Städten zu neun Aufführungen hat bringen lassen, arbeitete er den zweiten Satz völlig um, sodass er praktisch neu entstanden ist. So ließ er die Symphonie drucken. Seine Niederschrift der ersten Version des langsamen Satzes hat er vernichtet, die abschriftliche Dirigierpartitur und die Orchesterstimmen auch, aber je eine Stimme von Violine I und II sowie Viola hat er beim Wegwerfen übersehen; sie blieben also zufällig oder wider seinen Willen erhalten und lassen uns den enormen Unterschied zwischen dem erkennen, was bei der Uraufführung und den ersten nachfolgenden Aufführungen zu hören war, und dem, was schließlich gedruckt wurde.

Selbstkritik, Umarbeitung, musikalische Reste-Verwertung, all das können wir besonders gut an der Missa canonica in C-Dur beobachten, an der Brahms von 1856 bis (mindestens?) 1861 gearbeitet hat. Es war eine katholische Messe mit Credo (wahrscheinlich nicht mit dem Gloria), die Brahms verschiedenen Freunden zu unterschiedlichen Zeiten zugänglich gemacht hat, womit sie von ihm als Werk anerkannt war. Es scheint auch Fassungsvarianten mit und ohne Orgelbegleitung des vier- bis sechsstimmigen Chores gegeben zu haben. 1870 bat er die Messe von dem befreundeten Karl Reinthaler zurück. Danach verlieren sich fast alle ihre Spuren; nur zwei Autographe des Benedictus und zwei abschriftliche Chorstimmen dazu blieben erhalten. Vom Kyrie, Sanctus, Benedictus und Agnus Dei tauchte 1983 eine Abschrift des Brahms-Freundes Julius Otto Grimm auf, die ich für das Archiv der Gesellschaft der Musikfreunde in Wien erwerben und danach (mit Berücksichtigung der bereits bekannten Autographe des Benedictus) im Verlag Doblinger, Wien, veröffentlichen konnte. Hat Brahms überhaupt gewusst, dass sich Grimm, dem er 1857 diese vier Sätze zur Ansicht übersandt hat, diese abgeschrieben hat? Sind Credo (und eventuell Gloria) bleibend verloren? Hat das Kyrie überhaupt zu dieser Messe gehört? Ist es vielleicht der Rest oder das Fragment einer anderen eigenständigen Messvertonung? Fragen über Fragen. Die zwei autographen Niederschriften des Benedictus sind wohl nur deshalb erhalten geblieben, weil Brahms um diesen Satz leid war und er die musikalische Substanz schließlich 1877 in der Motette „Warum ist das Licht gegeben den Mühseligen“ op. 74/1 verwertet hat. Alles andere hat er offensichtlich vernichtet.

Im Freundeskreis wusste man, wie rigoros Brahms in der Vernichtung eigener Werke sein kann, aber auch um die Zweitverwendung von Teilen solcher Kompositionen, ob sie nun niemandem oder ganz wenigen Auserwählten bekannt waren oder nicht. Daher wucherten alle möglichen und unmöglichen Gerüchte, was sich in welchem Werk angeblich wieder finden ließe, freilich ohne dass man Beweise dafür gehabt hätte. Wenn Brahms immer wieder darauf hinwies, dass er Skizzen und Entwürfe grundsätzlich nicht aufhebe, so war und blieb dies bis heute ein Thema für alle Interessenten an Brahms. Seine am Ende eines Sommeraufenthalts in Ischl kryptische Äußerung in einem Brief, vor seiner Abreise sei viel Notenpapier die Traun hinuntergeschwommen, hat die Fantasie beflügelt, ob dies verworfene Werkniederschriften oder Skizzen und Entwürfe waren. Manchmal wurde er auch konkreter. So vertraute er zum Beispiel seinem Jugendfreund Alwin Cranz an, er habe vor der 1873 erfolgten Veröffentlichung seiner in diesem Jahr auch uraufgeführten Streichquartette op. 51 – die ersten und einzigen, die wir kennen – bereits über zwanzig Streichquartette (und nebstbei auch mehrere hundert Lieder) komponiert gehabt: „Es ist nicht schwer, zu komponieren, aber es ist fabelhaft schwer, die überflüssigen Noten unter den Tisch fallen zu lassen.“ Steckt in den beiden Quartetten die eine oder andere ältere Substanz (was die Brahmsforschung nicht ausschließt) oder hat er restlos alle früheren vernichtet? – Mehrere Klaviertrios, von denen Robert Schumann zumindest wusste, hatten übrigens dasselbe Schicksal wie diese Streichquartette.

Manches, was er nicht unter den Tisch, aber zerrissen in den neben dem Schreibtisch stehenden Papierkorb hat fallen lassen, hat übrigens seine Hausfrau Celestine Truxa aus diesem an sich genommen und nicht verbrannt. Zu wenig, wollen wir heute sagen. Wenigstens das Wenige, sollten wir dankbar bemerken. Ja, durfte sie denn das, mag sich der eine oder andere denken. Man solle sich diesbezüglich keine Gedanken machen, hat mir einmal der Maler Rudolf Hausner erklärt; im Nachhinein wäre es jedem Künstler um ein aus vermeintlicher Überzeugung vernichtetes Werk leid.

Lange könnte man noch über das selbstkritische Vorgehen von Brahms schreiben, noch viele Beispiele ließen sich anführen. Wahrscheinlich nur einmal wollte er sogar (wie Bruckner) auf andere hören: Ein Streichquintett in f-Moll ließ er unter Freunden zirkulieren, um deren Urteil zu erbitten; selbst das Joachim-Quartett hat es geprobt. Die Rückmeldungen der Streichinstrumentenspieler waren nicht durchwegs positiv. Die Ratschläge und Empfehlungen hat Brahms dann aber nicht so wie erwartet befolgt, sondern er hat das Streichquintett zum Klavierquintett op. 34 umgearbeitet und die erste Version vernichtet. Meist hat er jedoch seine Selbstkritik und sein Auswahlverfahren aus sich selbst gespeist. Ein solches Auswahlverfahren dürfte es besonders bei seinen Orgelwerken gegeben haben. Bei den elf (eine ungewöhnliche Zahl) Choralvorspielen op. 122 scheint er nicht lange vor seinem Tod Vorhandenes und neu Komponiertes für eine Sammlung zusammengestellt zu haben. Es ist unwahrscheinlich, dass bei dieser Redaktion, für die allein das Notenpapier und die Datierung neuer Stücke spricht, nichts „unter den Tisch“ gefallen wäre. Ein Choralvorspiel und eine Fuge (WoO 7 und 8) hat er lange nach ihrer Entstehung bei einem gegebenen Anlass publiziert, fast so, als hätte er in eine Lade oder Mappe gegriffen und geschaut, ob es darin Passendes zur Freigabe für diesen Publikationsanlass gäbe. War in dieser Lade oder Mappe – bleiben wir bei diesem Bild – wirklich nicht mehr an Orgelmusik? Hat Brahms bei diesen beiden Werken und auch bei Opus 122 nicht ausgewählt, sondern genommen, was da war? Wenn wirklich noch mehr da war (was nicht unwahrscheinlich ist, weil er die Orgel gespielt und kurzzeitig an eine Organistenlaufbahn gedacht hat), dann hat er den Rest verschwinden lassen. Die Liste der verlorenen Werke ist bei Brahms so lange wie bei keinem anderen Komponisten. Es sind groß besetzte Instrumentalwerke, Kammer- und Klaviermusik verschiedenster Art, Chorwerke, mehrstimmige Gesänge und Lieder. Das sind Werke, von deren Existenz wir konkret wissen, noch größer ist die Dunkelziffer, für die es nur vage Andeutungen oder überhaupt keinen Existenznachweis gibt. Soweit wir sehen, ist von diesen Kompositionen kaum etwas in Verlust geraten. Brahms hat sie vielmehr – aus von uns nicht zu beurteilenden Gründen – nicht in sein definitives Oeuvre aufnehmen wollen und daher bewusst vernichtet. Wenn das eine oder andere Werk doch „nur“ verloren ist, dürfen wir hoffen, dass es vielleicht durch Zufall doch noch gefunden wird? Ist es denkbar, dass von einem Werk, das Brahms verworfen hat, doch noch einmal eine zu authentifizierende Abschrift eines Freundes auftaucht? Wohl kaum, aber die Brahms-Forschung ist jedenfalls ein spannendes Gebiet.