• Spielzeitung
  • Anhaltisches Theater Dessau
  • September-Dezember 2020
  • S. 16

Wie soll man zusammenleben, wenn man sich nicht ansehen darf?

Mit Malte Kreutzfeldt, dem Regisseur der Operninszenierung «Orphée», sprach Operndirektor Felix Losert

Interview: Felix Losert

In: Spielzeitung, September-Dezember 2020, Anhaltisches Theater Dessau, S. 16 [Publikumszeitschrift]

Gegenüber unseren gewohnten Abläufen ist jetzt vieles anders, auch auf der Bühne. Gerade wenn man etwa an Deine letzte Inszenierung bei uns – Cabaret – denkt. Wie findest Du Dich bei Orphée mit diesen neuen Bedingungen zurecht?

Keiner weiß, wie das jetzt in der Praxis funktioniert, das ist eine echte Herausforderung. Aber das geht im Moment ja den meisten Menschen so. Wir müssen genau planen und trotzdem offen bleiben für Veränderungen. Die ungewohnten Abstandsregeln sind speziell bei einer Oper wie Orphée aber auch eine Chance: Sich nicht berühren zu können, den Abstand nicht überwinden zu dürfen, sind ja gerade die besonderen Themen des Stückes. Die Berührung muss eben anders entstehen: Über die Musik zum Beispiel.

Wir erzählen von diesen Grenzen in Form eines Mythos – dem des Sängers Orpheus, der seine verstorbene Frau Eurydike dem Tod abringen möchte. Wir haben uns für die Oper Orphée entschieden, die Philip Glass, der Meister der Minimal Music, nach dem gleichnamigen Film von Jean Cocteau geschaffen hat. 

Bereits der Mythos erzählt so ergreifend von menschlichen Urerfahrungen. Ich bin mir sicher, dass sich die Menschen schon vor sehr langer Zeit ähnliche Geschichten am Lagerfeuer erzählt haben: dass jemand seinen geliebten Partner verliert und alles versucht, um ihn zurückzugewinnen. Und »alles« bedeutet wirklich alles: den Tod zu besiegen! Es bedeutet, auf der Reise ins Ungewisse vollkommen unbekannten Spielregeln gegenüberzustehen. Im griechischen Orpheus-Mythos ist der Held ein Sänger, ein gefeierter Star, dem sich bisher mühelos jede Tür geöffnet hat ...

Ein Held, dessen »Superkraft« der Gesang ist. Noch als er den Hades singend betritt, weicht der Höllenhund Cerberus vor ihm zurück.

Ja, aber genau das ist das Problem. Orpheus glaubt, dass ihm alles gelingt. Doch in dieser unbekannten Welt führt ihn seine Hybris in die Irre. Er darf Eurydike zwar aus dem Totenreich herausführen, muss aber eine Regel einhalten, die unsere aktuelle Situation auf die Spitze treibt: Nicht nur wird ihm auf dem Rückweg jede Berührung verboten. Er darf Eurydike nicht einmal anschauen, sonst muss sie für immer im Totenreich bleiben. Für seinen Film ging Jean Cocteau jedoch noch einen ganz entscheidenden Schritt weiter: Orphée und Eurydice sollen diese radikalen Distanzregeln für immer einhalten. Das schaffen sie nicht, das ist unmöglich. Wie soll ein Paar zusammenleben, wenn es sich nicht mehr ansehen darf? Metaphorisch ist das ganz stark: Die Partnerschaft zerbricht, wenn ein Partner nicht mehr gesehen wird. In seiner Persönlichkeit und in seinen Wünschen nicht wahrgenommen wird.

In der Oper gibt es Szenen, die die zwischenmenschliche Tragik ins Komische wenden – so, wenn das schreckliche Verbot in ein turbulentes Versteckspiel zwischen Eurydike und Orphée mündet. Solche menschlichen Bezüge waren Jean Cocteau wichtig. 

Ja, und er hatte eine geniale Idee. Orphée begegnet dem Tod nicht abstrakt und ungreifbar, sondern als Person. Und was für eine! Eine schöne, geheimnisvolle Prinzessin, die ihn verführen möchte. Orphées Schaffenskrise und die Probleme in seiner Beziehung, die ihn zweifeln lassen, wären schlagartig gelöst, wenn er eine Affäre mit dem Tod einginge.

Philip Glass ist spätestens in den frühen 1980er Jahren, als er die Musik zu dem Film Koyaanisqatsi komponierte, einem breiten Publikum bekannt worden. 

Koyaanisqatsi habe ich als Kind gesehen – meine große Schwester hat mich mit hineingenommen, allein hätten sie mich nach Hause geschickt. Ich war damals vollkommen baff. Und bin es bis heute: diese Bilder von Natur und chaotischer Zivilisation! Und dann die Musik von Philip Glass! Seitdem habe ich einen starken Bezug zu seiner Musik. Orphée war jetzt für mich allerdings eine Entdeckung. Ich denke, dass es da ist wie mit den geheimnisvollen Spiegeln bei Cocteau, die die Tore ins Jenseits sind: Diese Oper kann das Tor zur Welt von Philip Glass sein. Ich lade alle herzlich ein, mit uns hindurchzugehen!


Malte Kreutzfeldt studierte Regie an der Hochschule für Schauspielkunst »Ernst Busch« in Berlin. Anschließend übernahm er die Leitung des Schauspiels am Nordharzer Städtebundtheater. Dort entstanden zahlreiche Produktionen, und mit Händels Cesare in Egitto gab er auch sein Operndebüt. Seitdem ist er freischaffend tätig und arbeitet unter anderem am Schauspielhaus Kiel sowie an den Staatstheatern in Cottbus, Darmstadt, Nürnberg, Augsburg und Oldenburg. Am Anhaltischen Theater inszenierte er 2014 Shakespeares Komödie Ein Sommernachtstraum und im Februar dieses Jahres das Musical Cabaret.

Philip Glass gehört zu den bekanntesten und meistgespielten Komponisten des 20. Jahrhunderts. 1937 geboren und in Baltimore aufgewachsen, entwickelte er sich zu einem der bedeutendsten Vertreter der Minimal Music. Sein Lebenswerk umfasst neben 25 Opern und zahlreichen Instrumentalwerken auch preisgekrönte Filmmusik zu Klassikern wie Die Truman Show, Kundun oder The Hours – Von Ewigkeit zu Ewigkeit.