• Magazin
  • Oper Frankfurt
  • Januar/Februar 2012
  • S. 28-29

Türen öffnen für Neues!

Text: Anita Strecker

In: Magazin, Januar/Februar 2012, Oper Frankfurt, S. 28-29 [Publikumszeitschrift]

Der junge Straßenhändler Lazuli, im seidenen Morgenrock des Königs, hängt schon halb überm Balkon im Holzfoyer der Oper Frankfurt, bereit, sich in den Wandelgang hinabzustürzen. In letzter Sekunde können König Ouf und Sterndeuter Siroco alias Lappo, dienstältester Putzlappen im Musentempel und Star der Oper für Kinder, den Verzweifelten vom tödlichen Sprung abhalten. Nächste Szene. Eindringlich spricht Regisseurin Caterina Panti Liberovici dem unglücklichen Helden vor, wie er den Satz »…aber ich bin doch verliebt« herauspressen soll. Probe für die Kinderoper. Kindgerechte Adaption der Produktion L’Étoile, die parallel auf der großen Bühne läuft. Gerade mal zwei Wochen bleiben für die gesamte Produktion bis zur Premiere. Mehr Zeit ist nicht. Alle Vorstellungen sind in Nullkommanichts ausverkauft, so wie es auch die Konzerte für Kinder immer sind. Oder die Führungen, Probenbesuche, Künstlergespräche und Workshops für Schüler im Opernhaus. Und Schulen wetteifern, um sich eine Vorstellung zu sichern, wenn die Oper für Kinder von Frankfurt aus auf Tour geht. Musiktheater für Kinder und theaterpädagogische Angebote sind begehrt – und alle Opernhäuser bekennen sich dazu: »Kinder haben ein Recht auf Teilhabe an allen Formen von Kunst und Kultur«, bringt etwa Andrea Gronemeyer, Leiterin der Jungen Oper Mannheim, den Bildungsauftrag auf den Punkt. Und gerade das Musiktheater als Erzählform, die mit starken akustischen Bildern arbeitet und ähnlich dem Märchen keine explizite, sondern eine tiefenpsychologisch emotionale Wirklichkeitsbearbeitung ermöglicht, spreche Kinder und Jugendliche stark an. Da in Deutschland überdies immer mehr Kinder mit Sprachdefiziten leben oder nicht gut Deutsch können, gewinnen Musik- und Tanztheaterformen für Gronemeyer als integrative Kraft an Bedeutung, weil sie die Brücke zu Kunst und Kultur auch ohne Sprache schlagen – und zu zentralen Fragen des Miteinanders: Wie wollen wir zusammenleben? Wie definieren wir unsere Werte und Kultur der Gegenwart?

Auch die Oper Frankfurt stellt sich der Verantwortung, hat ihr theaterpädagogisches Angebot weiter ausgebaut, und ist neben ihrer Oper für Kinder inzwischen mit rund 60 Schulprojekten aktiv. Darunter szenische Workshops im Opernhaus, bei denen Jugendliche drei bis vier Stunden lang via Fantasiereise in die Welt des Stückes gleiten, selbst in Rollen schlüpfen, eigene Szenen einstudieren und sich diese gegenseitig vorspielen. »Am Ende ist jedem klar, warum zum Beispiel Tosca gar nicht anders kann, als Scarpia zu erstechen«, sagt Deborah Einspieler, Dramaturgin des Kinder- und Jugendprojekts. 

Wichtige kulturelle Bildungsarbeit, die alle wollen, zumal an Schulen Musik allzu oft aus dem Stundenplan gestrichen wird, Darstellendes Spiel erst gar nicht mehr im Lehrplan auftaucht. Und doch führen theaterpädagogische Angebote und Musiktheater für Kinder und Jugendliche vielerorts ein Schattendasein. Der Hauptgrund: fehlende Mittel. Angebote für Kinder sind wegen ermäßigter Tickets immer ein Minusgeschäft und Intendanten stehen unter dem Druck, im teuren Opernbetrieb gute Auslastungszahlen zu erreichen, hohes künstlerisches Niveau zu halten und die Abonnenten zu befriedigen.

So bleiben viele notgedrungen im Ansatz stecken, Kindern die Zauberflöte oder den Barbier von Sevilla einfach in Kurzfassung und schillernder Kostümierung vorzusetzen. Nach dem Motto: Hauptsache bunt. Vielerorts werden als Dramaturgen für Kinderstücke ausschließlich Regieassistenten verpflichtet, weil sie nichts kosten. Und nahezu überall wird erst geplant und disponiert, wenn das Repertoire für die große Bühne steht – mit den verbliebenen Ressourcen, die Raum, Bühnentechnik, Orchester und willige Ensemblemitglieder bieten. Dass der Arbeit deshalb der Ruch anhaftet, nur Spielwiese für Anfänger zu sein oder für die, die es auf der Karriereleiter nicht weiterbringen, ist für den kunstästhetischen Bildungsanspruch fatal und in mehrfacher Hinsicht ein Dilemma. So scheuen sich Librettisten, Komponisten und Sänger öfter bei Produktionen für Kinder mitzumachen – schlicht aus Angst, in der Schublade »Reicht-nur-für-Kinder« zu landen.

Dabei geht es um Zukunft. Zum einen, um neue Publikumsschichten zu erschließen und Zuschauer von morgen zu gewinnen, denn die Realität ist ernüchternd. Das aktuelle Durchschnittsalter der Besucher ist um 20 Jahre älter, als es Umfragen von vor 20 Jahren ergaben. Anders formuliert: Das Publikum ist größtenteils dasselbe geblieben. Zum anderen geht es aber auch um Impulse für die künstlerische Weiterentwicklung.

Die Aufgabenstellung, wie Kinder und Jugendliche zu erreichen und zu begeistern sind, hat ganz neue, interaktive Formate und zeitgenössische Musiktheaterformen hervorgebracht und – aus der Not knapper Mittel heraus – neue Offenheit, ungewohnte Partnerschaften und kreative Lösungen. Plötzlich braucht es Stoffe und Sprache, die Kinder verstehen, die sie emotional erreichen, ihre Lebensrealität spiegeln. Es braucht sinnliche Reize und Performance, die mit der ganzen Bandbreite von Schauspiel, Musik und Tanz spielt. Es braucht pädagogisch geschulte Dramaturgen, die wissen, wie Kinder je nach Altersgruppe wahrnehmen und rezipieren. Wie man erzählen muss, um authentisch zu sein und dieses neugierig-offene, aber zugleich gnadenlose Publikum mitzunehmen und ihm zu eröffnen, was Theater in seiner ganzen Vielfalt ist und kann.

Ein hoher Anspruch, der an den Strukturen des Apparats Oper rüttelt. Schwierigkeiten beginnen schon bei den Räumen. Die Architektur mit großer Bühne, Orchestergraben und Publikumssaal für tausend und mehr Menschen, die den Opern und dem Rezeptionsverhalten des 19. Jahrhunderts entspricht, taugt nicht für moderne Kinderproduktionen, die von Nähe, von Interaktion leben und alle Gattungsgrenzen überschreiten. Da werden Musiker zu Darstellern auf der Bühne, werden mitunter Instrumente gebraucht, die die klassische Orchesterbesetzung nicht hergibt, sind Tänzer und Sänger vonnöten, die wie Schauspieler agieren. Kurz: es braucht Partner über alle Sparten und Institutionen hinweg, neue Spielorte, kreative Lösungen.

Immer mehr Opernhäuser stellen sich der Herausforderung. Schubkraft entwickelt die AG Musiktheater für Kinder, unterstützt von Assitej, der Internationalen Vereinigung des Theaters für Kinder und Jugendliche, und dem Kinder- und Jugendtheaterzentrum Deutschland, die sich 2009 in Mannheim gegründet hat. Und das Netzwerk wächst. Von Basel bis Berlin schließen sich immer mehr Opern- und Theaterhäuser an, um angesichts allseits knapper Kassen Konzepte, Erfahrungen und Produktionen auszutauschen, Projekte und Kooperationen anzustoßen. Das Netzwerk fordert zudem, Theaterpädagogik und Musiktheater fürs junge Publikum als eigene Sparte anzuerkennen, mit eigenem Budget, und Angebote im Spielbetrieb gleich berechtigt mitzuplanen. Neue Offenheit heißt die Herausforderung. Unter diesem Stichwort lenkt die theaterpädagogische Arbeit den Fokus auf einen weiteren wichtigen Zugang zum Musiktheater. Und das im Wortsinn: mit »Mitmach«-Formaten, die Kinder und Jugendliche auf die Bühne holen. Basierend auf der simplen Erkenntnis, dass, wer einmal selbst szenisch gearbeitet hat, auf der Bühne gespielt, gesungen oder musiziert hat, nachhaltig offen und interessiert ist, sich mit Kunst auseinander zu setzen. Die Anstrengung lohnt, eröffnet einen Reigen an Möglichkeiten, einerseits das eigene Haus zu öffnen, sich andererseits an ungewohnten Orten zu präsentieren. So plant die Oper Frankfurt für Juni 2012 mit ihrem Orchester und Schülern aus Bad Homburg gemeinsame Konzerte im Zoo-Gesellschaftshaus und im Kurhaus Bad Homburg. In Stuttgart führen krebskranke und gesunde Kinder ein selbst erarbeitetes Stück über Abschied und Tod auf. In Dortmund »entern« Schüler mit der zeitgenössischen Kinderoper Cinderella die große Bühne des Staatstheaters. Drei Beispiele ambitionierter Musik- und Theaterpädagogik, die in England längst Alltag ist, hohen Stellenwert genießt und entsprechend auch Sponsoren findet. Und: Theaterpädagogik richtet sich dort bewusst auch an Erwachsene. Das Royal Opera House in London etwa beschäftigt elf Theaterpädagogen, hat im nahen Thurrock ein eigenes Education-Center aufgebaut und scheut sich nicht vor ungewöhnlichen Aktionen wie ein komplettes Dorf – vom Kind bis zum Greis – einzuladen, eine Musiktheaterproduktion zu erarbeiten Die Arbeit für und mit Kinder(n) hat ein neues Genre hervorgebracht. Einen »Unruheherd und Störenfried, der ständig den gesamten Apparat in Frage stellt«, wie Hans-Peter Frings, neuer Leiter der Jungen Oper Dortmund, sagt. »Und damit einen fantastischen Ort für Kreativität, von dem beständig Innovation und Impulse ausgehen, die für das gesamte Theater fruchtbar sein können.«

Für Jens Joneleit etwa, den Komponisten der Kinderoper Schneewitte, wäre das überfällig. Er fordert mehr Zeitgenössisches auch auf großen Bühnen: »Da liegt für mich der große Schwachpunkt bei den Intendanten und Operndirektoren, dass sie den Kindern und Jugendlichen neue Opern zwar erlauben,(…) aber auf ihren großen Bühnen nur auf ›Museum‹ setzen.« Ein Kinder- und Jugendprogramm mache erst Sinn, »wenn es einen Prozess entwickelt, in dem die Opernhäuser ihr Repertoire endlich mal erneuern«.

Ein Anspruch, der der Oper Frankfurt gleichfalls am Herzen liegt, um Auseinandersetzung anzustoßen und ein Publikum jenseits der klassischen Operngänger anzusprechen: mit unbekannten oder modernen Opern, mit ungewöhnlichen Produktionen wie der Entführung aus dem Serail in türkisch und deutsch vorige Spielzeit. 2014/15 folgt eine Produktion für Jugendliche im Bockenheimer Depot – Herausforderung auch für Erwachsene.