• Magazin
  • Oper Frankfurt
  • Saison 2013/2014, Januar-Februar
  • S. 32-33

Essay

Über die Krise des Operngesangs

Text: Dieter David Scholz

In: Magazin, Saison 2013/2014, Januar-Februar, Oper Frankfurt, S. 32-33 [Publikumszeitschrift]

Wir leben in Zeiten, in denen Opernsänger kommen und gehen. Die Schallplattenindustrie und die Agenturen vermarkten die Sänger heute häufig wie Covergirls oder Laufsteg-Beaus. Sie werden immer schöner, immer jünger, immer schlanker, aber die Stimmen spielen oftmals nur noch eine untergeordnete Rolle. Es gibt mehr gefährdete, überforderte, früh verschlissene Stimmen denn je. Die Laufzeiten von Sängerkarrieren werden immer kürzer. Woran liegt das?

Elisabeth Schwarzkopf war eine Sängerin, die an sich selbst wie an ihre Schüler strengste Maßstäbe anlegte. Nicht viele Sänger hatten und haben die Chance, von so akribisch auf Perfektion bedachten Lehrern unterwiesen zu werden. Die Ausbildung an den heutigen Musikhochschulen lässt oft sehr zu wünschen übrig. Kurt Moll, einer der erfolgreichsten Bässe der vergangenen Jahrzehnte und erfahrener Gesangspädagoge beklagt: »Wichtig wäre an unseren Musikhochschulen, was an anderen Hochschulen im Ausland selbstverständlich ist, dass die Sänger jeden Tag Solounterricht im Singen bekommen. Bei uns haben sie leider manchmal nicht mehr als anderthalb Stunden in der Woche. Das ist viel zu wenig!!«

Auch Christa Ludwig, über Jahrzehnte eine der führenden deutschen Mezzosopranistinnen, zog kritisch Bilanz über ihre Erfahrungen mit dem Sängernachwuchs an den Hochschulen: »Zu mir kommen hin und wieder Sängerinnen, oder Möchtegernsängerinnen, die noch kein Engagement haben, die aber schon 34 Jahre alt sind. Die meisten sind 27 oder 28 Jahre alt. Es ist fast eine Seltenheit, wenn man einmal eine 24- oder 25-jährige Sängerin hat. In meiner Generation waren wir alle viel jünger. Einmal kam eine junge Japanerin und wollte einen Liederabend mit mir einstudieren. Sie hatte gerade ihren Magister in Komposition und Gesang gemacht. Und dann fing sie an zu singen. Sie sang wie Florence Foster-Jenkins! Ich musste mich zurückhalten, dass ich nicht lachte. Da frage ich mich: Warum sagt man ihr an der Hochschule nicht, dass ihre Stimme unmöglich ist?«

Aber selbst technisch perfekte Sänger, die eine »schöne Stimme« besitzen und alle Noten treffen, klingen oft austauschbar, unpersönlich, charakterlos. Renata Scotto hat bei einem unserer Gespräche den spöttischen, aber durchaus zutreffenden Begriff »plastic voices« gebraucht. Was sie meint: Es gibt etwas, was vielen heutigen Sängern fehlt, das, was die Italiener »Canto espressivo« nennen, das Singen mit der Seele. Magda Olivero, die Primadonna assoluta des veristischen Belcanto, sagte mir, als ich vor einigen Jahren das Glück hatte, Sie kennenlernen zu dürfen: »Wenn man einfach nur singt, ohne Herz oder Seele, bleibt es immer nur schöner Gesang. Aber die Seele muss singen, um die Seele des Publikums zu erreichen.« Anita Cerquetti, eine der nicht nur an der Mailänder Scala gefeierten Norma-Interpretinnen der 50er Jahre, hatte dafür ein schlichtes Rezept: »Man muss wissen, mit wem man singt, wovon man singt und für wen man singt. Dann finden sich gesanglicher Ausdruck, Farben und Bühnenausdruck von selbst.« Ein Rat, den sich viele heutige junge Sänger hinter die Ohren schreiben sollten.

Noch nie gab es so viele singende Kometen der Opernszene und der Schallplattenindustrie, deren Bahnen steil in den höchsten Opernhimmel schießen, aber sehr schnell verglühen.

»Wenn ein Sänger heute schön ist und wenn er eine außergewöhnliche Stimme hat, ist er meist schon verloren«, sagte mir Brigitte Fassbaender unumwunden. »Heute gehören junge Sänger zur Wegwerfware. Wenn ein guter Sänger entdeckt wird und in die Fänge einer gewissenlosen Agentur oder Schallplattengesellschaft gerät, dann ist es aus. Dann wird so ein Name hochgepuscht und hingedroschen, bis er total verheizt und verbrannt ist. Und dann sind diese Stimmen in eine paar Jahren vollkommen kaputt.«

Die Versuchungen im heutigen Opernbusiness sind groß. Die legendäre Leonie Rysanek betonte in dem Gespräch, das ich kurz vor ihrem Tod mit ihr führte, dass ein junger Sänger vor allem das Wort »nein« zu lernen habe: »Und zwar »nein«, wenn einer kommt und einer 23-Jährigen sagt: »Also sie sind meine Traum-Elektra, sie singen die Elektra«. Das ist schierer Wahn­sinn. Natürlich kann das gut gehen. Ein paar Jahre. Es gibt ja ein berühmtes Beispiel. Ich will keinen Namen nennen. Aber die Strafe folgt auf dem Fuße. Es gibt vieles, was man machen kann, wenn man jung ist. Aber glauben Sie mir, ich habe immer, wenn ich zu viel oder falsche Partien gesungen habe, sofort die Rechnung serviert bekommen. Ich bin gar nicht der Meinung, dass es keinen guten Sängernachwuchs gibt. Im Gegenteil! Aber es gibt nur noch wenige unter den jungen Sängern, die sich ihrem Beruf in Demut, ja Devotheit hingeben und ihre Grenzen und Möglichkeiten respektieren.« Auch Carlo Bergonzi, einer der großen Tenöre des 20. Jahrhunderts, hat seinen Schülern vor allem Eines eingetrichtert: »Der größte Fehler, den ein Sänger machen kann, ist, das falsche Repertoire zu singen.« 

Christa Ludwig macht auch den Dirigenten schwere Vorwürfe: »Die Dirigenten haben heute oftmals gar nicht das Handwerk als Korrepetitoren oder Opernkapellmeister gelernt. Sie führen ein schnelllebiges Jetset-Dasein zwischen den Welten und Orchestern. Sie kümmern sich meist zu wenig um die Sänger, studieren mit ihnen nicht mehr persönlich die Partien ein und kennen nicht die Empfindlichkeiten und Bedürfnisse des menschlichen Stimmorgans. Es gibt nur noch wenige Dirigenten, denen eine Stimme am Herzen liegt. Sie haben gar keine Zeit mehr, sich intensiv mit Sängern zu beschäftigen. Und weil das Reservoir an Sängern heute so groß ist, und die Welt so klein, ist es vielen Dirigenten auch völlig egal, ob ein Sänger nach drei oder vier Jahren nicht mehr singen kann. Dann ist ja wieder ein neuer da.« Das Sängerkarussell dreht sich schneller denn je. 


Dieter David Scholz

Dr. Dieter David Scholz ist als Journalist, Redakteur, Moderator und Journalist für zahlreiche ARD-Rundfunkanstalten und für die Fachpresse wie Opernwelt, FonoForum, Das Orchester oder Neue Zeitschrift für Musik tätig. Daneben ist er Mitglied im künstlerischen Beirat der Kulturstiftung Sachsen-Anhalt und Jurymitglied der Opernwelt-Kritikerumfrage sowie des Preises der Deutschen Schallplattenkritik. Zu seinen Publikationen zählen: Richard Wagner, ein Europäer. Eine europäische Biografie (2006), Mythos Maestro (2002), »Kinder! schafft Neues!« – 125 Jahre Bayreuther Festspiele, 50 Jahre Neubayreuth« (2001), Richard Wagners Antisemitismus (Neuauflage 2000), Mythos Primadonna. 25 Diven widerlegen ein Klischee (1999) und Ein deutsches Missverständnis. Richard Wagner zwischen Barrikade und Walhalla (1997).

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