Dippel entdeckt
Ein Marienspektakel, oder: Die sinnliche Nonne
Meilenstein gegen das Märchenopern-Klischee: Die erste vollständige Aufnahme von Engelbert Humperdincks Hybridstück «Das Mirakel»
Roland H. Dippel • 22. Dezember 2025
Der Siegfried-Wagner-Prophet und Romantik-Experte Peter P. Pachl war derart verliebt in Engelbert Humperdincks und Karl Gustav Vollmoellers «Das Mirakel», dass er die Partitur zu Max Reinhardts Stummfilm unter seiner Intendanz der Berliner Symphoniker 2018 zur Aufführung brachte. Schon 2003 hatte Pachl mit der Sopranistin Rebecca Broberg eine leider wenig beachtete Pocket-Version der dialoglosen Szenenfolge aus Orchesterstücken und Chören im damals legendären Pflaums Posthotel Pegnitz vorgestellt. Es war eine verwegene und mutige Aktion, das durch gigantomanische Massenspektakel ehemals berühmte Opus derart zu schrumpfen.
Trotzdem wurde Pachls Low-Budget-Produktion dem spezifischen Talent Humperdincks weitaus besser gerecht als alle, die ihn aufgrund seiner Nähe zum Bayreuther Kreis sowie seiner zweitbekanntesten (Märchen-)Oper «Königskinder» für einen ewigen „Wagner light“ halten. Denn «Hänsel und Gretel» und «Königskinder» wurden erst durch einen mehrstufigen Entwicklungsprozess vom familiären Liederspiel bzw. vom experimentellen Melodram zu durchkomponierten Opern. Parallel war Humperdinck mit Partituren von „Der Richter von Zalamea“ bis Maurice Maeterlincks „Der blaue Vogel“ ein gesuchter Spezialist für Schauspielmusik – also eher kurzer, dramatisch schmiegsamer Formen von atmosphärischem, koloristischen und gestischen Charakter. Natürlich scheinen diese Eigenschaften auch in seinen Opern auf, entfalten sich aber mit kreativer Individualität vor allem in der Bühnenmusik zu «Das Mirakel».
Dieses erlebte am 23. Dezember 1911 im Londoner Olympia Theatre die Uraufführung, die Weltpremiere des Films folgte im Opernhaus Covent Garden am 21. Dezember 1912. Max Reinhardt verfilmte bei Wien seine stark gekürzte Inszenierung, welche er mit Hundertschaften von Musizierenden, Komparserie und Chorstimmen gerne an gotischen bzw. neogotischen Großgebäuden zur Aufführung brachte – in Europa, US-Amerika, am Broadway und bei den Salzburger Festspielen 1925.
Die Vorliebe Reinhardts für den Text verschaffte dem Autor, Filmpionier, Flugzeugkonstrukteur und Unternehmer Karl Gustav Vollmoeller (1878 bis 1948) den größten literarischen und später belletristischen Erfolg seines Lebens. «Das Mirakel» ist die zeitgemäße Adaption einer mittelalterlichen Marienlegende aus Caesarius' von Heisterbach „Dialogus miraculorum“. Sie handelt von der Nonne Megildis, die aus düsteren Klostermauern hinaus zu (fragwürdiger) Liebe und Lenz flieht. Ein Spielmann lockt Megildis von Mann zu Mann – vom Ritter zum Raubgrafen, vom Raubgrafen zum Königssohn, vom Königssohn zum König. Megildis ist in Licht und Schatten ein erotisches Idol, sie strauchelt im freien Fall als willfähriges Opfer der lüsternen Welt. Die Missbrauchte will mit ihrem Säugling ins Kloster zurück. Dort fiel ihre Abwesenheit nicht weiter auf, weil die Madonna (im Stummfilm verkörpert von Vollmoellers erster Ehefrau Maria Carmi) selbst Megildis' Stelle einnahm und nach deren reuevoller Rückkehr wieder als Statue auf ihren Sockel zurückkehrt. Megildis ist erlöst von einem im „Zwischenspiel“ der beiden Kloster-Akte mit satter Drastik ausgemalten Schicksal, das sie ähnlich beutelt wie Grete in Franz Schrekers «Der ferne Klang».
Egal ob Stummfilm oder Schauspielmusik oder die im Berliner Haus des Rundfunks 2024 entstandene Audioaufnahme: Humperdincks Musik setzt sich aus vielen liedhaften Perioden zusammen. Klare Harmonien und illustrierende Chorweisen bilden zuerst einen sonnigen Kontrast zur Handlung. Die Instrumentation enthält idyllische, später fahle Farben. Man hört zwar Humperdincks Schulung an Wagners Partituren, aber er zeigt hier wie in «Hänsel und Gretel» und «Königskinder» Vorlieben für geschlossene Perioden statt „unendlicher Melodie“ und für Diatonik statt Chromatik – zumindest in den Klosterszenen. Der stabile Weltplan ist im Dualismus von Schuld und Sühne, Aufruhr der Sinne und Seelenfrieden deutlich getrennt. Der Megildis lockende Spielmann steht in schroffem Kontrast zur lauteren Figur des Spielmanns in «Königskinder». Humperdinck variiert in «Das Mirakel» mit hoher Kontrastschärfe und sinnfälliger Geschmeidigkeit zwischen mild-langweiligem Kloster und böser Welt. In den „rezitativischen“ bzw. „kantablen“ Pantomimen hört man auch hier das für ihn typische Streicher-Schwelgen, exponierte Klarinettenmotive und schönheitstrunkene Horn-Sätze. Das Berliner Rundfunk-Sinfonieorchester unter Steffen Tast gestaltet mit passender Extrovertiertheit und so, als ob Humperdinck nicht allzu viel filigranen Feinschliff vertragen würde. Die Filmdramaturgie wird durch direkte Dramatik des musikalischen Zugriffs auch ohne die filmische Handlung plastisch.
Statt der Bezugnahme auf Wagner drängt sich ein anderer Vergleich auf – der mit Richard Strauss' fast gleichzeitig entstandenem Ballett „Josephs Legende“ op. 63 (Paris 1914). Harry Graf Kessler, der Ko-Autor zum Ballett-Szenarium Hugo von Hofmannsthals, war auch ein guter Bekannter des Autors Vollmoeller und leichtfertiger Beobachter von dessen hedonistischem Privatleben. «Das Mirakel» und „Josephs Legende“ ähneln sich in der frenetischen Darstellung einer im religiösen Kontext verwerflichen und während der ersten sexuellen Revolution nach 1900 mit exzessivem Voyeurismus in symbolistischer Ummäntelung dargestellten Sinnlichkeit. Eine weitere personelle Verbindung gibt es: Die Sängerin Anna Bahr-Mildenburg spielte Potiphars Frau in der Wiener Erstaufführung von „Josephs Legende“ und in der Serie von «Das Mirakel» bei den Salzburger Festspielen 1925 die Äbtissin. Die Erfolgsgeschichte der auf ein Massenpublikum zugeschnittenen «Mirakel»-Vorstellungen bestätigt, dass der Dualismus von Religiosität und suggestiver Sinnlichkeit nicht nur für intellektuelle Eliten eine elektrisierende Wirkung hatte.
Heute ist Humperdincks Musik zu «Das Mirakel» vergessen, weil es für das hybride Genre der Pantomime an Massenschauplätzen keine spezifische Betriebsform gibt. Angemessene Spielorte wären heute große Stadien, die Arena di Verona oder Domfestspiele. Vollmoeller schlachtete das Sujet – weiterer Beweis für die Beliebtheit der Pantomime – in einem dreiteiligen Roman aus. Den Plot schrieb er 1947, ein Jahr vor seinem Tod, unter dem Titel „Das Mirakel von Heiligenbluth“ nieder. In einer englischen Übersetzung von Louise Salm erschien dieser als „The Last Miracle“ 1949. Vollmoeller erweiterte die Handlung, ließ Megildis die Französische Revolution erleben, machte sie zu einer herausragenden Opernsängerin (Wer denkt da nicht an Emilia Marty in «Die Sache Makropulos» von Karel Čapek und Leoš Janáček und das Romanfragment „Der ewige Jude“ von Eugen Sue). Am Ende wird die ins Kloster zurückkehrende, von einem ausschweifenden Leben malträtierte Frau sogar zur Wundertäterin. Bei Erscheinen des Romans war Humperdinck bereits über 20 Jahre tot.
In der Nachkriegszeit verschwand Vollmoellers, Reinhardts und Humperdincks ästhetisches Experiment «Das Mirakel» vollkommen aus dem künstlerischen und kollektiven Gedächtnis. Die Gründe sind scheinbar paradox: Reinhardt war als Jude im Nationalsozialismus Persona ingrata. Nach dem Zweiten Weltkrieg gerieten suggestive Massenschauspiele und damit auch «Das Mirakel» aufgrund der nationalsozialistischen Bemühung um neogermanische „Thing-Spiele“ in ideologischen Misskredit. Und schließlich wurden Humperdincks experimentelle Werke durch das im „Dritten Reich“ etablierte Image des kinderaffinen Märchenoper-Komponisten schnell vergessen. Gerade deshalb ist diese Aufnahme auch ein wichtiger Anstoß zum Nachdenken über Rezeptionslücken.

Engelbert Humperdinck / Karl Vollmoeller: «Das Mirakel» (Pantomime in 2 Akten und 1 Zwischenspiel für Chöre & Orchester). Sophie Klussmann, Josette Micheler, Rundfunkchor Berlin, Kinderchor des Georg-Friedrich-Händel-Gymnasiums Berlin, Rundfunk-Sinfonieorchester Berlin, Steffen Tast – Capriccio C 5543 (2 CDs)