Theater Bonn

Tierisch gut

Zwei Rezensionen über den ausgegrabenen Geniestreich «Die Ameise» des tragisch zu früh verstorbenen Peter Ronnefeld | 2/2 – Joachim Lange

Joachim Lange • 16. Dezember 2025

Der Gesangslehrer Salvatore (Dietrich Henschel) verzweifelt an der Perfektion von Formicas Stimme (Nicole Wacker) © Bettina Stöß

Am Ende ist es eine Unachtsamkeit, die der sonderbaren Titelheldin der Oper das Leben kostet. Da wischt die Kellnerin eines Varietee-Theaters nämlich einen Tisch ab und entsorgt dabei ganz nebenbei die Ameise mit, die ein Gast gerade ganz bewusst auf der Tischplatte abgesetzt hatte. Diese Szene wäre nicht der Erwähnung wert, wenn es nicht ein besonderer Gast und eine spezielle Ameise gewesen wären und wenn dieser Akt gastronomischer Aufmerksamkeit nicht die finale Szene eines erstaunlichen Opern-Vierakters wäre.

Der Gast ist Maestro Salvatore, seines Zeichens ein gerade vorzeitig aus dem Gefängnis entlassener Gesangslehrer, der dort wegen eines Mordes einsaß, von dem man nicht so genau weiß, ob er ihn wirklich begangen hat. Die verunglückte Ameise hielt er jedenfalls in der erwähnten Szene für jene Gesangsschülerin Formica (was italienisch Ameise heisst), die ihm deren Mutter einst (noch in attraktiver Gestalt eines jungen Mädchens) wortreich vermittelt hatte und die dann angeblich von ihm ermordet wurde.

Was an eine Melange aus Franz Kafkas „Prozess“ und seiner „Verwandlung“ erinnert, ist die Konstellation des Librettos, das Richard Bletschacher zusammen mit dem Komponisten Peter Ronnefeld (1935-1965) für dessen Oper «Die Ameise» verfasst hat. Uraufgeführt wurde sie 1961 von der Deutschen Oper am Rhein in Düsseldorf. Zwei Jahre danach wurde der von vielen prominenten Kollegen hochgehandelte Dirigent und Komponist in Kiel zum jüngsten Generalmusikdirektor der Bundesrepublik ernannt. Sein Krebstod mit nur dreißig Jahren beendete eine in jeder Hinsicht vielversprechende Karriere.

Die im Programmheft zitierten Stimmen zur Uraufführung geben dankenswerterweise einen Eindruck von dem Pro und Contra, das seine Oper damals ausgelöst hat. Das Pro ist von heute aus betrachtete gut nachvollziehbar. Das Contra der Kritik wohl nur aus den dogmatischen Standards für neue Musik zu erklären, die eine Zeitlang jede Abweichung davon streng ahndete. 1969 wurde die Österreichische Erstaufführung der Oper am Landestheater Linz die bis jetzt letzte szenische Aufführung.

Nach 56 Jahren gebührt nunmehr der Oper Bonn und ihrem Intendanten Bernhard Helmich das Verdienst, das Werk in ihrer Reihe Fokus 33 wieder auf die Bühne gebracht zu haben. Diese Reihe nimmt sich vergessener Komponisten und deren Werken an. Mit den Auswirkungen des Jahres 1933 (die der Titel der Reihe in erster Linie meint) haben Ronnefeld und seine «Ameise» zwar nicht direkt etwas zu tun, vergessen sind sie aber dennoch beide.

Nach der einhellig bejubelten Bonner Premiere der Inszenierung von Kateryna Sokolova (Regie), Nikolaus Webern (Bühne) und Constanza Meza-Lopehandía (Kostüme) und dem Einsatz von Daniel Johannes Mayr am Pult des Beethoven Orchesters, dem von André Kellinghaus einstudierten Chor und einem fabelhaften Protagonistenensemble kann man dem Vergessen getrost das Prädikat „zu Unrecht“ hinzufügen. Das gilt zumindest, wenn der Anspruch an Novitäten auch deren Theatertauglichkeit, das Mitreißende von Stilwechseln, Musik die für (und nicht gegen) Stimmen komponiertes Ariosos einschließt und so mit dem Eigensinn einer musikalischen Erzählweise zu spielen versteht, dass sie sich nicht an die Chronologie der Ereignisse halten muss, um ihrem eigenen Stern zu folgen.

Auch der Gefängniswärter Melter (Ján Rusko) will die „Ameise“ © Bettina Stöß

All das bietet die ausgesprochen abwechslungsreiche, aus heutiger Sicht gemäßigt moderne Musik, die immer auf das Orchester und seine Möglichkeiten setzt und sie auslotet. Eindrucksvoll sind die grandios auftrumpfenden, an die Wucht von Orff erinnernden Anfangs- und Schlussauftritten des Chors als sensationslüsterne Zuschauer erst im Gericht und dann im Varietee. Oder dann das betont sparsam karg instrumentierte orchestrale Zwischenspiel am Beginn des zweiten Aufzugs für das Klavier, Celesta und Streicher genügen. Völlig aus dem Rahmen fallen die beiden Mitgefangenen mit ihren lustigen Balladen, in denen sie ihre „Berufe“ als „Fassadendieb“ und „Taschenkletterer“ mit diversen erotischen Beutezügen verknüpfen. Das passt zu den vier Bezeichnungen der Akte als Atto drammatico, Atto lirico, Atto commediante und Atto tragico. Hier hatte einer große Oper mit Augenzwinkern im Sinne.

Von seiner Geschichte mit der Schülerin erzählt Salvatore im Gefängnis nur im Rückblick. Für den Ort des Gesangsunterrichts in seiner Villa werden einige Schwarz-Weiss-Hänger mit Fotos des Interieurs dem weiträumig opulenten Bühnensaal mit seinen Deckenbögen hinzugefügt.

Als Zentrum des Ensembles füllt Dietrich Henschel die Rolle des Maestro Salvatore mit stimmlicher Präsenz und darstellerischem Charisma voll aus. Wenn Susanne Blattert als die exaltierte Mutter und ihre Tochter Formica (mit bewusst eingesetztem Charme der jungen Frau: Nicole Wacker) bei ihm auftauchen, gibt er den Charmeur und vor Gericht den selbstbewusst Unschuldigen. Vor allem aber gelingt es ihm, den Übergang in eine andere Welt (nach dem Motto: „Nicht ich, sondern alle anderen sind verrückt“) mit Nonchalance glaubhaft zu vermitteln. Mit dem übrigen Personal werden die verschiedenen Sphären der Handlung ausgeschmückt. Das reicht von Ralf Rachbauer, der als Diener Salvatores immer mit Staubwedel bewaffnet zur Stelle ist über Mark Morouse, der als Professor Mezzacorce beim Prozess als Zeuge der Verteidigung auftritt, und Roland Silbernagl, der zwischen den Rollen als Verteidiger, Gefängnisgeistlicher und Gefängnisdirektor wechselt, sowie Ján Rusko als Gefängniswärter Melter bis hin zu Svenja Wasser als Staatsanwältin und Ausruferin und den beiden stummen Mimen Marina Rosenstein und Julius Westheide. Carl Rumstadt und Tae Hwan Yun machen aus ihren Berufsgaunern Fassadendien und Taschenkletterer ein balladeskes Kabinettstück. Der Chor profitiert bei seinen Beiträgen nicht nur von der Kostümpracht, sondern auch von der Choreografie von Sebastian Eilers. Am Ende bejubelt das Publikum eine überraschend abwechslungsreiche Opernausgrabung und all ihre Macher im Graben, auf und hinter der Bühne.


«Die Ameise» – Peter Ronnefeld
Theater Bonn · Opernhaus

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