Semperoper Dresden
Roadtrip durch eisige Seelenlandschaften
Poetisch eindringliches Musiktheater: «The Snow Queen» des dänischen Komponisten Hans Abrahamsen nach der gleichnamigen Märchen-Vorlage von Hans Christian Andersen
Werner Kopfmüller • 13. Dezember 2025
Wenn winters der erste Schnee fällt, sofern er hierzulande überhaupt noch fällt, sind zwei Szenarien vorgezeichnet. Erstens: Irgendwo liegt der Verkehr lahm, weil der Winterdienst manchmal schon bei wenigen Flöckchen kapituliert. Und zweitens: Es gibt weiterhin Kinder, die verzaubert sind, wenn sie die ersten Schneeflocken vom Himmel fallen sehen. Womit wir bereits beim Märchen «Die Schneekönigin» von Hans Christian Andersen wären, genauer: bei der Oper, die der dänische Komponist Hans Abrahamsen, Jahrgang 1952, aus Andersens Vorlage geschaffen hat. Darin zeigt sich der kleine Kay ganz fasziniert vom Schneegestöber, das er durchs Fenster von Großmutters Stube erblickt.
2019 erlebte «Snedronningen» (auf Dänisch) ihre Uraufführung an der Königlichen Oper in Kopenhagen, um nur Wochen später in einer englischsprachigen Fassung an der Bayerischen Staatsoper Premiere zu feiern. Die Dresdner Semperoper bringt das Stück nun, nicht ganz unpassend zur Vorweihnachtszeit, in einer Inszenierung von Immo Karaman.
Im Zentrum stehen die beiden Nachbarskinder Kay und seine Spielgefährtin Gerda, deren Kindheit zunächst unbeschwerter kaum sein könnte. Doch es kommt, wie es kommen muss: Ein Splitter aus dem verzauberten Spiegel der plötzlich erscheinenden Schneekönigin dringt Kay ins Auge und ins Herz, lässt ihn alles Lebendige und Menschliche verachten. Dem nicht genug, entführt ihn die Schneekönigin höchstselbst in ihr eisiges Schattenreich. Gerda macht sich auf, Kay zurückzuholen, begibt sich auf einen Roadtrip, der für die Heranwachsende zum Coming-of-Age wird.
Karaman verlegt diese Reise konsequent nach innen. Anstatt das Märchen episodenhaft auszubreiten, konzentriert sich die Inszenierung auf einen einzigen Raum: die zunächst noch behagliche Stube der Großmutter. Dieses Zimmer, von Arne Walther als variables Bühnenbild entworfen, vervielfältigt sich perspektivisch, kippt in die Tiefe, wird zum Tunnel, zur seelischen Landschaft. Wände und Fenster schützen nicht, nur ein massiver Holzschrank bietet Unterschlupf vor den Gefahren der Außenwelt.
Und so hat auch der Eispalast der Schneekönigin nichts märchenhaft Opulentes, sondern erscheint als kalte, bunkerartige Architektur aus Spiegelungen und Leere. Wo sich Karamans Regie bewusst reduziert gibt, eröffnet sie der Musik umso mehr Räume der Entfaltung. Und diese nutzt sie auch. Abrahams Klangsprache hat zumeist etwas sehr Tastendes, Vorsichtiges, schöpft dabei aus einem schlicht-fragilen Grundmaterial, das seine enorm verdichtete Komplexität nicht beim ersten Hören offenbart. Die Natürlichkeit seiner fein verwobenen Tonkunst resultiert aus einer penibel durchdachten Konstruktion, die auf Camouflage als Mittel zum Zweck keineswegs verzichtet. Oder wie Regisseur Immo Karaman dazu im Programmheft sagt: „Es wirkt zeitweise so, als ob ich in der Musik wie durch dünnes Eis einbrechen kann, wie auf einem zugefrorenen See, wo man nicht weiß, was sich in der Tiefe verborgen hält.“
Kristalline Transparenz trifft auf flirrende Flächen, Töne blitzen wie Lichtreflexe auf Eis, um sich im nächsten Moment in Schweigen aufzulösen. Doch es gibt auch die extremen Dynamiken, hauchzarte Pianissimi an der Hörgrenze, die mit Klangballungen aus Blech und Schlagwerk kontrastieren. Das Verblüffende: Trotz des riesig besetzten Orchesterapparats hat diese Musik nichts aufgesetzt Donnerndes, nichts vordergründig Aggressives.
Was sich zuvorderst der vorzüglichen Leitung von Titus Engel verdankt, einem ausgewiesenen Spezialisten für Neue Musik. Engel hält Spannungen über weite Strecken in der Schwebe, lässt die Musik atmen, ohne ihr die scharfen Konturen zu nehmen. Nichts verschwimmt, nichts wird sentimentalisiert. Die Sächsische Staatskapelle wird so zum eigentlichen Erzähler des Abends, zum Resonanzraum für Gerdas Gefühlszustände aus Angst, Hoffen und Entschlossenheit.
Die Rolle der Protagonistin ist bei Louise McClelland Jacobsen bestens aufgehoben. Wie alle Partien, bewegt sie sich im Grenzbereich zwischen Singen und Sprechen, zwischen Linie und Fragment. Hell und verletzlich ist ihr Sopran zunächst, mit jähen dramatischen Ausbrüchen, ohne je zum Schärfeln zu neigen. Vom verunsicherten Mädchen zur selbstermächtigten jungen Frau reicht ihre Heldinnenreise, was stimmlich entsprechend beglaubigt wird durch ihren Gesang, der zunehmend an Intensität und Dringlichkeit gewinnt. Valerie Eickhoff als Kay überzeugt mit feinen Mezzo-Farben, bewegt sich schauspielerisch zwischen kindlicher Unbedarftheit und innerer Erstarrung.
Ungewöhnlich, aber gleichwohl wirkungsvoll gewählt ist die Besetzung der Schneekönigin mit Georg Zeppenfeld. Sein stets profunder, samtig schimmernder Bass verleiht der Figur eine Autorität jenseits üblicher Märchenbösewicht-Klischees. Weniger Verführerin als Naturgewalt, vor der es kein Entrinnen gibt, ist diese Figur. Daneben schlüpft Zeppenfeld in die Rolle des fürsorglichen Rentiers, dessen Auftreten – ganz im Kontrast zur Schneekönigin – der Oper einen Moment tief empfundener Empathie schenkt. Wandlungsfähig zeigt sich auch seine Kollegin Christa Mayer mit ihrer warmen Mezzo-Stimme, in den Rollen der Alten und der Finnenfrau sowie als Großmutter in schönster Strickjackigkeit. Simeon Esper setzt als bizarr kostümierte Krähe seine Akzente, unterstützt vom Sächsischen Staatsopernchor, der die komplexe, oft spröde Polyphonie sicher meistert.
Jegliche Märchen-Folkloristik versagen sich im Übrigen auch die Kostüme von Nicola Reichert, die in gedämpften Beige-, Grau- und Anthrazittönen gehalten sind. Was im Ergebnis nur dazu beiträgt, dass man nach knapp zwei Stunden Spielzeit nicht mit dem Gefühl nach Hause geht, einem Wohlfühl-Weihnachtsmärchen beigewohnt zu haben (dafür hat die Semperoper den „Nussknacker“ im Repertoire). Aber dafür unter dem Eindruck, Musiktheater von eindringlicher Poesie erlebt zu haben, das etwas Bleibendes zu erzählen weiß von der Kälte in der Welt da draußen – und von der menschlichen Wärme, die sie überwindet.
«The Snow Queen» (Snedronningen) – Hans Abrahamsen
Semperoper Dresden
In englischer Sprache
Kritik der Premiere vom 7. Dezember 2025
Termine: 18./22. Dezember 2025; 5./8. Januar 2026