Staatstheater Darmstadt

Am Ende keine Fanfaren

Noa Naamat transferiert die «Aida» in die Gegenwart, während Johannes Zahn den ursprünglichen Verdi’schen Klanggewalten huldigt. Das Ergebnis ist ein ambivalenter Abend

Daniela Klotz • 06. Oktober 2025

Kinder spielen in den Ruinen der Gegenwart © Nils Heck

Unbedarft fröhlich spielen die Kinder im Schutt um die Skelette eines Wasserturms und eines Gebäudes, das ein Kasernenhäuschen gewesen sein mag, herum. Überall hüpfen sie hin. Ptah und Isis halten wohl schützend ihre Hände über sie. Denn kaum hat das Spiel begonnen, eilen besorgte Eltern geduckt herbei, ihre Leben riskierend, um die Kleinen zu bergen. Ein Mädchen verliert dabei seine Puppe. Die Mutter kehrt um, sie zu holen, eine Explosion zerreißt die Klänge der Ouvertüre, tot liegt die Mutter, fast teilnahmslos reagiert die Kleine, Krieg und Sterben sind das ihr von Kleinauf eingeschriebene Schicksal.

Für das Staatstheater Darmstadt hat die in Israel geborene, international renommierte und ausgezeichnete Regisseurin Noa Naamat Verdis «Aida» in die Gegenwart geholt. Oper muss relevant bleiben, lautet ihr Diktum. Deswegen also kein altägyptisches Flair, sondern neuzeitliches Endzeitszenario. Verdi hatte Ähnliches intendiert: Die «Aida» 1870/71 als Auftragswerk Ismail Paschas für die Eröffnung des Kairoer Opernhauses und gleichzeitig als Abgesang auf die Grand Opera schreibend, orientierte der Komponist sich akribisch an der langen Historie Ägyptens und konterkarierte doch Auftraggeber und Zeitgeschichte. „Orientalisch“ anmutende musikalische Farbgebungen zeichnen die Stimmung der Priester, des Volks, der Massen. Im Hinblick auf Le Bon visionär. 

Die drei Protagonisten Aida, Radamés, Amneris stehen komplett außerhalb dieses Zirkels. Bekanntermaßen liebt Amneris Radamés, der jedoch hoffnungslos Aida verfallen ist. Umgekehrt ist es nicht anders. Ihr Vater Amonasro wird Aida für einen Moment nicht mehr seine Tochter heißen, ehe er sich auf musikalisch sublimste Weise entschuldigt. Die „kalte Klangpracht“ (Zitat aus dem Begleitheft) der kriegslüsternen Gesellschaft trifft in der «Aida» auf die nur von zartester Instrumentierung „umzupfte“ innerer Geschichte dreier Menschen, die sich nichts mehr wünschen als Frieden. „Pace, Pace“ sind die letzten Worte des Librettos. Amneris zeichnet in Darmstadt das Wort mit Blut auf die Wand des Grabs ihres unerreichbaren Liebsten. Irina Ignata macht die Pharaonentochter zur Tolkien‘schen Kriegerprinzessin. Stolz, skrupellos und doch verletzlich. 

Aida (Megan Marie Hart, links) erinnert sich an ihre Kindheit. Da waren die grünen Wälder ihrer Heimat bereits Kriegsschauplatz © Nils Heck

Was für eine Gemengelage. Wenn Amneris Aida ihre Freundschaft anbietet, möchte man dem fast glauben, doch Megan Marie Hart tut gut daran, dies als Aida nicht zu tun. Zu tief sind die Gräben – die Wünsche nach Frieden und nach Vergeltung stehen diametral zueinander. Johannes Seokhoon Moon hat trotz gewohnter stimmlicher Kompetenz als Pharao wenig entgegenzuhalten. Matthew Vickers, als Radamés sehr wohl zu einer schönen Italianità und Strahlkraft fähig, mit den Klanggewalten zu kämpfen, die Johannes Zahn und das Staatsorchester Darmstadt aus purer Spielfreude heraus entwickeln. 

Die «Aida» ist ein durch und durch ambivalentes Werk. Wer in Darmstadt dabei war und andere Inszenierungen noch im Kopf hat, musste schmerzlich bemerken, dass ihm womöglich nie aufgefallen war, dass es in dieser Oper um Liebe in Zeiten des Krieges geht. Entkleidet von allem orientalisierenden Bombast wird in Naamats Inszenierung noch mehr deutlich: Dieser Zustand ist keine Momentaufnahme. Am Ende, als Aida und Radamés den Tod als einzig mögliche Utopie „erleben“, spielt ein mit einem grünen T-Shirt bekleideter Junge mit der Puppe des kleinen Mädchens, dass immer wieder als das Kind Aida erscheint – ein schönes Zeichen, dass die Hoffnung auf Frieden nie stirbt. Irgendwann wird es klappen mit Aida und Radamés, mit Romeo und Julia, mit dem Tod und dem Mädchen. Aber: Noch spielt der Junge mit der Puppe „Flugzeug“. Die Utopie ist also maximal eine regressive, die glückliche Zukunft in weiter Ferne. Entsprechend schwebt die Szenerie auf der Bühne, die Bettina John (auch verantwortlich für die Kostüme) gemeinsam mit Noa Naamat gestaltet hat, auch irgendwo im Nirgendwo all der Kriege, die derzeit die Menschheit beschämen.

Der Zugriff ist unbestritten packend. In der Pause zwischen erstem und zweitem Akt donnern die feindlichen Flieger durch die Sitzreihen, Einschüsse kommen näher, ein Mensch (ein Soldat hinter einer Schutzmaske, ein Zivilist in seinem Versteck?) atmet schwer. „Ich war als kleines Kind beim Angriff auf Mainz dabei, ich kann mich an dieser Darstellung nicht delektieren, es ist zu nah“, raunt ein alter Herr seinem Nachbarn zu. Vermutlich sind die Standing Ovations am Ende auch Ausdruck des unbedingten Willens, Krieg zu verhindern, wenn man nur kann.

Kann man? Das ist die Frage, die das Publikum mit nach Hause nimmt. Bei Aida, Radamés, Amneris kommen zu den äußeren Kriegsgeschehen noch die inneren dazu. Man muss auch noch Amonasro hinzunehmen, um irgendwie zu verstehen. Aris Argiris hat einen Geschlagenen darzustellen, doch seine Stimmgewalt allein zeigt an, dass der momentane Sieg der Ägypter nicht das Ende vom Lied ist. So lange den ungerecht Unterlegenen Lebensmut gegeben ist, werden sie sich erneut erheben. Was auch sonst…

Aida (Megan Maie Hart) liebt Radamés (Matthew Vickers) und der sie. Doch auch Amneris (Irina Ignata) will in den Kriegshelden für sich gewinnen © Nils Heck

Getrieben werden sie alle von ihren Erinnerungen und Dämonen, genannt Götter. Indem Naamat die Priester, diese grausamen Diener des Himmels, zu gut gedrillten Soldaten umdeutet, lässt sie einen Perspektivenwechsel geschehen, der erst einmal verdaut werden will. Priester – Krieger – Märtyrer. Ein ewig unheilvoller Kreis schließt sich. Zaza Gagua als ebenso Amneris ergebener wie sonst unerbittlich-uneinsichtig-brutaler Ramfis steht da ausdrucksstark im Mittelpunkt der von Guillaume Fauchère bemerkenswert präparierten Chorwelten, die in ihrer Einheitlichkeit zeitweise die Qualitäten gregorianischer Choräle annehmen. Das Rad des Schicksals steht eben seit Jahrtausenden nicht still. Ofeliya Pogosyan gibt der Hohepriesterin die Stimme, die das aus dem Off eindrucksvoll verdeutlicht. 

Dazu hat Naamat weitere faszinierende Bilder im Gepäck. Doch manches dämpft die hohen Erwartungen an diese so hochgelobte Regisseurin. Selbstredend gibt es in deren Konzept keine Ballette. Stattdessen wird exerziert oder mehr oder minder bewegt herumgestanden. Ist das der Respekt vor der Vorgabe, die Konzession an das Publikum, oder sind es Manschetten vor der eigenen Courage? Die Inszenierung muss der Regisseurin nahegehen, schlicht ergebnisbezogen wäre eine gestrichene Ballettmusik besser gewesen als eine von mechanischen Geräuschen imitierter Schnellfeuerwaffen gestörte redundant wirkende. 

Überhaupt muss man leider eine bemerkenswerte Insensibilität Verdis Musik gegenüber zumindest diskutieren. Schon die zarten Anfänge der Ouvertüre gehen im Getrappel des Kinderspiels nahezu unter. Später gibt es immer wieder gut gedachte, aber beeinträchtigende Momente. Das besagte Kinderspiel oder das Säbelgerassel während der Ballettmusik etwa, aber auch die Einspielungen, während die Fanfaren den Triumphmarsch vom Rang herab intonieren. Interessanterweise meinte bereits zitierter Herr, da könne er auch ins Kino gehen. Das wäre nun wieder auch nicht gut. Um aktuell zu bleiben, muss Oper sich auch mit neuen technischen Möglichkeiten auseinandersetzen. «Aida» nie wieder spielen, weil ihre Geschichte abgelaufen ist? Oder sie nur noch in irgendwelchen fremdgewordenen Konservierungen erleben? Dann lieber so mit gut Luft nach oben. Das Darmstädter Publikum hat den Ansatz ja immerhin mitgetragen und stehend applaudiert. 

 

«Aida» – Giuseppe Verdi
Staatstheater Darmstadt 

Kritik der Premiere am 4. Oktober 2025 
Termine: 18. Oktober; 9./28. November; 13/20. Dezember 2025, 6. Februar 2026