Palazzetto Bru Zane
Grotesken unter Fresken
Dass die „leichte Muse“ weder seicht noch oberflächlich sein muss, zeigt der Palazzetto Bru Zane in Venedig mit seiner Konzertreihe „Folies parisiennes“ anlässlich des 200. Geburtstages von Hervé
Willi Patzelt • 02. Oktober 2025

Die „leichte Muse“ – wie unanständig dieser Begriff bereits klingt – hat keinen guten Ruf. Seit jeher gilt die Operette als seichte Unterhaltung, als musikalisches Konfekt ohne Nährwert, als bunte, etwas frivole Folklore am Rande des großen Kanons. Wer sich ernsthaft mit Musik beschäftigt, spricht lieber über Verdi oder Wagner, über Schostakowitsch oder Mahler – nicht aber beispielsweise über Couplets, die mit frivoler Anzüglichkeit kokettieren. Doch dieser Dünkel verkennt: In der Operette steckt nicht nur Witz, sondern auch Weisheit; nicht nur Spielerei, sondern fundierte Gesellschaftssatire; und oft mehr Mut zur Wahrheit als im großgestischen Pathos der ernsten Oper.
Dass dieser wertende Gegensatz zwischen leicht und schwer, zwischen E und U, ja gar zwischen seriös und unseriös nicht nur in der Sache unbegründet ist, sondern auch in einer törichten Weise unnötig, zeigt sich besonders schön darin, dass es ausgerechnet der Palazzetto Bru Zane in Venedig ist, der in diesem Jahr die „leichte Muse“ in den Mittelpunkt stellt. Zwar widmet man sich dort immer schon derselbigen, doch das nicht vorrangig: Die Operette steht gleichsam als Fleisch vom selben Fleisch neben der großen Oper. Alles vereint sich im Palazetto in dem Ziel einer fortwährenden Wiederentdeckung zu französischer Romantik. Schließlich ist dort vieles in kollektive Vergessenheit geraten – so auch einer der Gründerväter der Operette, Hervé (1825–1892), dessen Geburtstag sich in diesem Jahr zum 200. Mal jährt. Vor allem er steht im Mittelpunkt des diesjährigen Zyklus „Folies parisiennes“.
Ein Erfinder im Schatten
Hervé, mit bürgerlichem Namen Florimond Ronger, war Organist, Sänger, Librettist – und vor allem ein Pionier. Schon in den 1850er-Jahren entwickelte er Formen der komischen Mini-Oper, die als Keimzellen der Operette gelten. Er gründete sein eigenes Theater, die „Folies-Concertantes“, und brachte Stücke auf die Bühne, die mit den starren Vorschriften des Pariser Theaterwesens brachen. Denn im Zweiten Kaiserreich herrschten klare Regeln: Nur vier große Theater durften abendfüllende Opern spielen, kleinere Häuser wurden auf Kleinstformen reduziert, auf zwei Sänger beschränkt, auf triviale Stoffe verwiesen. Doch Hervé machte daraus eine eigene Kunst: Ein dritter Sänger trat beispielsweise kurzerhand aus dem Off auf, heroische Sujets wurden parodiert, das Groteske triumphierte über den Pomp.
Mit dem liberalen Theaterdekret von 1864 fielen diese Fesseln. Und so explodierte die Szene mit großen Werken: Hervé mit «L’Œil crevé», «Chilpéric» oder «Le Petit Faust», Offenbach mit «Orphée aux Enfers» und «La Belle Hélène» – zwei Rivalen, die sich gegenseitig befeuerten. Offenbach perfektionierte die große Operette für den Export, Hervé blieb der avantgardistische Erfinder, gewissermaßen der Außenseiter mit Hang zum Grotesken. Doch aus dem Schatten Offenbachs schaffte er es nie.
Groteske Kunst in politisch schwierigen Zeiten
Hervés «Le Petit Faust» aus dem Jahr 1869 wird dann im Dezember der Höhepunkt des Zyklus in Paris sein – eine grelle Parodie auf Gounods gefeierten «Faust», die das exzentrisch Groteske exemplarisch zeigt: Marguerite verliebt sich nicht in einen verklärten Tenorhelden, sondern in einen tölpelhaften Bauern; Mephisto ist kein metaphysisches Prinzip, sondern ein launiger Intrigant. Alles, was im Original erhaben wirkt, kippt ins Lächerliche – und nicht selten auch ins Antideutsche. Lediglich ein gutes Jahr vergeht nach der Premiere noch, bis Frankreich – von Bismarck dazu provoziert – Preußen im Streit über die spanische Erbfolge den Krieg erklären und an dessen Ende durch die deutsche Reichsgründung ausgerechnet in Versailles vollends gedemütigt werden wird. Es ist ein tragisches Ende auch der großen kulturellen Blüte Frankreichs in der zweiten Monarchie.
Jene vorangegangene große Operettenzeit, aus der heute eben nur noch Jacques Offenbach kollektiv präsent ist, hat aber eben auch jene heute vielfach vergessene Vorgeschichte: Die Pariser Café-Concert-Kultur, die sich ab den 1840er-Jahren rasant entwickelte, war eine Folge jener der kulturpolitischen Restriktionen. Die Texte waren dort doppeldeutig, oft derb, manchmal politisch gefährlich – und sie wurden gesungen in Räumen, die halb Konzertsaal, halb Wirtshaus waren. Der Staat wollte – es ist die Zeit um die Februarrevolution – Ordnung bewahren, und so war die Zensur streng: keine großen Besetzungen, keine Tragödien. Aber genau das gebar eine Kunst der Andeutung und des Spotts.
Französischer Flair in venezianischer Frührenaissance

Vor diesem historischen Hintergrund entfaltet der Zyklus „Folies parisiennes“ ein lebhaftes Panorama der französischen Operettenkunst. Der Samstagabend steht unter dem Motto „French Touch“ – und das Programm erfüllte die Erwartungen vollständig. Das Quatuor Opale mit Jennifer Courcier, Éléonore Pancrazi, Enguerrand de Hys, Philippe Estèphe und Emmanuel Christien am Klavier präsentierte Nummern beispielsweise aus Hervés «Chilpéric» und «Alice de Nevers», Offenbachs «Orphée aux Enfers» und «Les Brigands» sowie Werke von Messager, Delibes, Varney und weiteren.
Diese Auswahl ist mehr als ein buntes Nummernkabarett: Sie zeigt in komprimierter Form, wie breit das Spektrum der französischen „leichten Muse“ tatsächlich ist. Zwischen den ironisch funkelnden Stücken eines Hervé, den pointierten Buffo-Duetten Offenbachs und den eleganten, salonhaften Miniaturen von Planquette oder Roger spannt sich ein Bogen, der von der drastischen Parodie bis zur feinen Gesellschaftssatire reicht. Gerade im Nebeneinander wird sichtbar, dass Operette nicht einfach ein Nebenprodukt der großen Oper ist, sondern eine eigenständige, vielgestaltige Kunstform, die mit Tonfall, Rhythmus und Textwitz den Puls einer ganzen Epoche einfängt. Und dann ist da der Saal: der Kapitelsaal der Scuola Grande San Giovanni Evangelista. Gold, Fresken, sakrale Gravität – vor dem Altar mit Kreuzreliquie und einer Statue des Evangelisten Johannes findet parodistische Operette statt. Ein herrlicher Widerspruch, fast ein kleines Spektakel für sich.
Musikalisch springt der Funke über
Nicht nur wenn Jennifer Courcier die Eurydike im „Duo de la mouche“ aus «Orphée aux Enfers» – an diesem Abend noch das bekannteste Stück – singt, springt sofort der Funke über: Ihre Koloraturen sind spitzbübisch, nie nur schön, sondern immer auch mit ironischem Unterton. Philippe Estèphe ist dazu ein sehr ausdrucksstarker, herrlich lasziver Jupiter. Éléonore Pancrazi mit ihrem großen Mezzo verbindet ihren warmen Ton mit dramatischem Witz, während Enguerrand de Hys in „Un ténor sans engagement“ die ironisierten Berufsnöte eines Sängers gewissermaßen fast schon in einem Näheverhältnis von Operette und Liedkunst hochironisch und musikalisch mitnehmend demonstriert.
Und Emmanuel Christien am Klavier übernimmt weit mehr als die Begleitung: Er zeigt eine immer wieder durchaus orchestrale Farbpracht, zeichnet markante Rhythmen und lässt die ungeahnt vielschichtigen Klangnuancen das Paris des 19. Jahrhunderts regelmäßig aufscheinen. So wird der Abend zu einem lebendigen und farbenreichen Streifzug durch die Leichtigkeit und den Esprit der französischen Musiktradition.

Mitreißender Witz und intime Verspieltheit
Und doch ging es im Paris des 19. Jahrhunderts sogar noch kleiner besetzt, aber nicht minder hintersinnig zu. Unter dem Konzerttitel „Witz und Verspieltheit“ öffnen Marc Mauillon und Pascal Sanchez die Welt der Café-Concerts. Mauillon singt Couplets, die kokett mit Doppeldeutigkeiten spielen, und vermeintlich Tugendhaftes ironisch in Frage stellen, aber auch satirische Soldatenlieder, die die Militärpose in scharfen Spott auflösen.
Sanchez begleitet auf einer romantischen Gitarre des 19. Jahrhunderts – zart, intim, manchmal fast flüsternd. Das Timbre erinnert daran, dass diese Musik nie für große Säle gedacht war, sondern eben für kleine Räume, für das gesellige Miteinander bei Wein und Tabak. Es muss damals schon sehr lustig zugegangen sein. Mauillon kostet jedenfalls jede Pointe aus, ohne je ins Derbe zu kippen und jener Teil des Publikums, der des Französischen mächtig ist, biegt sich vor Lachen.
Hervé als Motor einer Ästhetik des Absurden
Beide Abende führen aber schlussendlich gewissermaßen zu Hervé zurück. Er ist der Erfinder, der Exzentriker, der Außenseiter, der das Groteske zum Prinzip erhebt. Hervé und seine Zeitgenossen – Komponisten, von denen zum größten Teil wohl noch nie jemand gehört hat – entlarven die Pose, die Überhöhung, die falsche Erhabenheit. Dass sie das Publikum zum Lachen bringen, genau darin liegt der Ernst.
So zeichnet sich in Venedig ein Bild, das nicht nur eine Epoche vergegenwärtigt, sondern auch einen künstlerischen Impuls, der bis heute trägt: Die leichte Muse ist nicht leichtfertig. Sie ist ernst in ihrem Witz, tief in ihrer Oberflächlichkeit, und gerade darin von zeitloser Relevanz. Denn wer dabei ist, versteht: Diese Musik ist keine Randerscheinung, sondern ein Spiegel der Gesellschaft. Sie lacht, wo es weh tut. Sie parodiert, wo sich der Ernst zu wichtig nimmt. Und sie beweist, dass auch die frivolste Operettenarie im Freskenglanz der Scuola Grande noch immer ihre Schlagkraft entfaltet. Ein Bild, das wohl auch gesellschaftlich kaum sinnbildlicher sein könnte!
Konzertreihe „Folies parisiennes“
Palazzetto Bru Zane, Venedig
Dieser Artikel basiert auf Konzerten in der Scuola Grande San Giovanni Evangelista und im Palazzetto Bru Zane am 27. und 28. September