Staatstheater Darmstadt
Liebe ohne Internet
Das Team um Regisseur Matthias Piro macht ein barockes Schäferspiel zum Open-Air-Barockspektakel mit Witz und Fantasie. Nicolas Kierdorf führt ein spiel- und sangesfreudiges Ensemble durch die Irrungen und Wirrungen von Liebe und Treue
Daniela Klotz • 13. Juni 2025

Eigentlich will Andrea doch nur Empfang, das ist im Mobilfunkzeitalter wirklich nicht zu viel verlangt. Auch nicht, wenn der klapprige Kleinwagen einfach irgendwo im Nirgendwo liegen geblieben ist. Die junge Frau wollte einfach mal raus aus dem Alltag, mal nicht Tagesschau mit dem Mann gucken oder Brote für die Kinder schmieren. Und jetzt? Jetzt sieht sie sich in Shorts und Nike-Shirt einer barocken Gesellschaft gegenüber, die gerade eine Pfeilbotschaft erhalten hat, die von einer geheimnisvollen Macht, die sich mit schnurrender Stimme aus dem Off als „A Punkt, M Punkt, W Punkt“ vorstellt, interpretiert wird. Ganz aufgeregt sind die Herrschaften und betrachten Andrea so selbstverständlich als Ihresgleichen, wenngleich sie aus einem „Tal der verlorenen Höflichkeit“ stammen muss, wie Andrea vermutet, hier in eine Cosplay-Session, ein erotisches Verkleidungsspiel oder einen Netflix-Dreh geraten zu sein. „Netflix“? ruft entsetzt der Kardinal. „Sie will uns verhexen“, raunt der Rest der Gesellschaft. Und schon sind wir mitten drin im runderneuerten Barockspektakel.
Andrea ist mit ihrem Wagen nämlich nicht einfach in einem mit vielen blumigen Accessoires entzückend ausstaffierten barocken Heckentheater des Darmstädter Prinz-Georg-Gartens gelandet (Bühnenbild: Lisa Moro und Leo Moro), sondern in Arkadien, dem mythischen Paradies, in dem die Menschen nichts Weiter zu tun haben, als glücklich und verliebt zu sein und den ganzen Tag mit ihren Schafen abzuhängen, wie A.M.W. am Ende des Abends formulieren wird. Dumm nur, dass in Arkadien keineswegs alles Idylle ist, was romantisch erscheint, weil sich die wichtigsten Menschen am Hof der Glückseligen bereits seit Längerem in eine amouröse Dreiecksbeziehung verstrickt haben und Andrea das emotionale Chaos nun komplettiert.
Was war passiert? Anna Maria Walpurgis (A.M.W.), politisch und künstlerisch hochbegabte und erfolgreiche Kurfürstin von Sachsen und Herzogin von Bayern, hatte 1754 ihre erste Oper «Il trionfo della fedeltà» (Der Triumph der Treue) am Dresdner Hof „herausgebracht“. Runde 270 Jahre später hat das Team um Regisseur Matthias Piro sich von Frieda Lange und deren Team eine neue Textfassung zur Neuedition von Andreas Luca Beraldo schreiben lassen, die die Grundlage für die musikalische Leitung von Nicolas Kierdorf am Pult des Staatsorchesters Darmstadt bildet.

Frieda Lange macht aus den barocken Rezitativen moderne Texte mit Humor und Lokalkolorit, zugegebenerweise verpasst sie der armen Andrea ein paar zu viele skatologische Exklamationen. Ein bisschen fantasievoller könnte Nike Tiecke als Andrea/Nice schon fluchen, als sie so unvermittelt in das Heckentheater, sprich das Geschehen platzt. Andererseits kann es die stärkste Frau zur Verzweiflung bringen, wenn sie als Nymphe verkannt für den Empfang bei Hofe vorbereitet wird, anstatt Mobilfunk-Empfang zu erhalten. Und das ausgerechnet noch vom Hirten Tirsi, Clara Kreuzkamp, der sich prompt in die jetzt Nice genannte falsche Nymphe verliebt, obwohl doch Clori, Jana Baumeister, immer noch in ihn verliebt ist, was wiederum Fileno, Cláudia Pereira, rasend macht, der Clori nicht erst, seit die sich von Tirsi getrennt hat, liebt.
Weil sie ziemlich schnell Lunte riecht, startet Clori umgehend eine Intrige. Andrea/Nice wird in ein barockes Kostüm gepresst, und ein Maskenball soll ihr letzter Auftritt sein. Eine von Clori gefälschte Pfeilbotschaft belegt, dass Nice Tirsi verhext hat, und nun soll die Hexe brennen oder zumindest in die eiserne Jungfrau gesteckt werden. So gesehen durfte Clori auch keine Zeit verlieren, Tirsi war schon dabei, mit Nice in deren Wagen zu steigen und Arkadien zu verlassen. Denn irgendwie hat er mitbekommen, dass man da alles hat und doch nichts. Wer sich nicht bewege, spüre seine Fesseln nicht, hatte Nice gesagt und damit den Denkprozess bei Tirsi in Gang gesetzt. Die Hofgesellschaft ertappt die beiden in flagranti auf dem Dach des Kleinwagens – Skandal!

Jetzt steckt Nice in der eisernen Jungfrau. Eines der beiden niedlichen auf Wägelchen autark herumrollenden Schafe wird geopfert, viel Theaterblut fließt, der Kardinal entdeckt seine Liebe zu seinem Messdiener und zu SM-Praktiken. Die Hofschranzen, Statisterie des Staatstheaters Darmstadt, die zunächst geziert tanzten und durch den Garten wandelten, hatten mit den abenteuerlichsten Geräten Jagd auf die arme Nice gemacht und können blutrünstig das „Finale“ jetzt kaum erwarten. Doch da bricht das „T“ aus der Leuchtschrift über der Szene und zum nunmehrigen „Triumph der Reue“ erscheint A.M.W., die Kurfürstin in persona von Markus Schubert aka Tante Gladice und zieht den Arkadierinnen und Arkadiern die Hammelbeine lang. Sie sollen keine Spiegel fremder Träume sein, rät die Erschafferin ihren Figuren, sondern sich vom Staub befreien – und sich vor allem auf den wahren Sinn und Wert der Treue besinnen. Andreas/Nices „Gepferd“ ist auf einmal wieder flott für den Ritt zurück nach Büttelborn, und das Barockensemble ist ein buntes Völkchen der heutigen Zeit geworden. Am Ende hat jeder etwas gelernt.
Das Konzept, das Schäferspiel zum Open-Air-Barockspektakel zu machen, ist aufgegangen. Dem Publikum bleibt nach dem ganz reizenden Abend, bei dem Sonnenschein und Vogelzwitschern ein bestens aufgelegtes, mitreißend spielend und filigran mit gut austarierter Verstärkung singendes, junges Ensemble begleiteten, noch eine nicht unwichtige Erkenntnis: Wer den Besetzungszettel genau studiert und im Heckentheater genau hingesehen hat, merkte, dass in Lisa Moros barocken Kostümen ausnahmslos weiblich zu lesende Personen stecken. Nicht wegen der von der Komponistin und Librettistin geforderten Stimmlagen, sondern, weil das Regieteam damit zeigen wollte, dass es auch Arkadien ohne Treue des/der Einzelnen zu sich selbst in Rollenzwängen erstarrt und es daher immer lohnt, hinter die Fassaden von Menschen und Gesellschaften zu blicken.
«Der Triumph der Treue» (Il trionfo della fedeltà) – Maria Antonia Walpurgis
Staatstheater Darmstadt
Kritik der Premiere am 11. Juni
Termine: 19./22./25./28. Juni, 2. Juli