Staatstheater Darmstadt

Ein Versuch mit Performance

Mit «La Muette de Portici» nimmt Darmstadt eine Kasseler Produktion auf, die am Ende zu Recht in der Versenkung endet. Die heute fast vergessene Grand Opéra Auberts hätte Besseres verdient.

Daniela Klotz • 29. April 2025

Die Handlung ist bei Dittrich als Zeitreise gedacht. Im Bild: Chor-Tableau mit Alphonse (Ricardo Garcia) © Benjamin Weber

Es gibt Produktionen, über die zu schreiben so gar keine Freude macht. So viele Menschen haben sich so viele Gedanken gemacht – und doch „funzt“ das Ergebnis so gar nicht. Dabei hat alles so gut angefangen! Paul-Georg Dittrichs in Darmstadt übernommene Kasseler Inszenierung der «Stummen von Portici» beginnt in der Gegenwart. Hier und jetzt, mitten im Publikum, sitzt die blonde junge Frau, die, plötzlich ihrer selbst eingedenk, im Scheinwerferlicht auf die Bühne tritt, hinein in ein Zimmer, in dem sie den sie stumm machenden Einflüssen der Medien durch eigenbestimmtes „Daddeln“ begegnet. Figuren aus der Vergangenheit überwältigen sie, nehmen ihr Hab und Gut und bringen sie unversehens in das von den Spaniern besetzte Neapel, in dem Alphonse, des spanischen Vizekönigs Sohn, ihr historisches Alter Ego defloriert hat, aber Elvire, die spanische Prinzessin, heiraten soll. 

Der Jubelchor der Höflinge, Opernchor und Extra-Chor bestens einstudiert von Alice Meregaglia, erreicht den Prinzen Alphonse nicht, das Mädchen irrt von allen ungesehen umher, Elvire besingt ihr künftiges Glück. Sebastian Hannaks Bühnenraum wandelt sich erneut, diesmal kaum merklich vom Palastgarten zum Kirchenraum. Fenella, die Stumme, konnte sich aus der aus dem unstandesgemäßen Verhältnis resultierenden Haft befreien und trifft auf Elvire, der sie in Gesten berichtet, dass sie verführt und darob in Haft genommen wurde. Elvire, mit strahlendem Sopran verkörpert von Megan Marie Hart, möchte ihren glücklichsten Tag nutzen, wahrhaft Gutes zu tun und wird Fenellas Schutzengel. Der von Gewissensbissen geplagte Alphonse, nach anfänglicher Reserviertheit zunehmend freier gesungen von Ricardo García, und die unglückselige Fenella erkennen einander, Elvire ahnt das Schlimmste – die Grand Opéra ist in voller Fahrt. 

Das Erstaunlichste daran: Die Hauptrolle, von Aubert für eine Tänzerin konzipiert, wird von einer Puppe und den Puppenspielerinnen Franziska Dittrich und Lilith Maxion übernommen. Die blonde junge Frau aus dem Publikum ist eine der Spielerinnen. Ihre blonde Perücke ist modern mit Knuddeldutt am Scheitel, die ihrer Partnerin hat, wie die der Puppe, aufgerollte Locken an den Seiten. Die beiden Frauen sind Puppenspielerinnen und Akteurinnen in einem. Ihre Mimik fügt der Puppe das hinzu, was deren ungeheuer ausdrucksvolles, aber doch starres Gesicht mit den großen nahezu lebendigen Augen nicht leisten kann. Momente ungeahnter Poesie entstehen, wenn die Spielerinnen den Kopf der Puppe drehen oder die überlangen Arme in ausdrucksstarken Gesten bewegen. Die ganze Szenerie hat bis hier etwas vom Parsifal’schen Wandlungszauber. 

Die stumme Fenella wird von einer Puppe und zwei Puppenspielerinnen (Lilith Maxion und Franziska Dittrich) ausdrucksstark verkörpert © Benjamin Weber

Fenellas Flucht zu ihrem Bruder Masaniello wird erneut zur Zeit- und Raumreise: Inmitten der Parkettsitze ist ein Floß aufgebaut, das Puppe und Spielerinnen betreten, ein Vorhang vor der Bühne dient als Videowall, auf der das Geschehen auf dem Floß als Live-Aufnahmen zu sehen sind. Denn Fenella segelt nicht nur zu ihrem Bruder, sondern auch Richtung Brüssel. Dort hatte Auberts «Stumme» 1830 solchen Erfolg, dass sie der Fama nach zur Revolte führte: Nach dem dritten Akt stürmten die Leute aus dem Haus, das Ende der niederländischen Herrschaft war gekommen, der belgische Staat erstand.

In Darmstadt kommen nun die Menschen zum Einsatz, die „Aktionskarten“ erworben hatten. Sie werden aus dem Zuschauerraum fort und auf die Bühne geleitet, wo sie mehr oder minder Teil der Inszenierung werden. Zu Auberts Zeiten war es nicht unüblich, Zeitgenössisches mit Zeitgemäßem zu ergänzen, in Darmstadt werden die Partisanenhymne „Ciao, Bella, ciao“ und das Volkslied „Die Gedanken sind frei“ eingeflochten, während Masaniello und seine Genossen aufwieglerischen Gedanken nachhängen. Bis hierhin kann man nur zu gut verstehen, wie Auberts und Scribes auf einer wahren Begebenheit (Masaniellos Aufstand) beruhenden und aus dramaturgischen und politischen Gründen um eine fiktive Liebesgeschichte (Fenella und Alphonse) ergänzte Oper so wirkmächtig sein konnte, dass sie Revolutionen entfachte und, in zwölf Sprachen übersetzt, weltweit aufgeführt wurde. 

Zugleich versteht man ab da, wieso das einst so vielgespielte Werk heute fast vergessen ist: Werk, Regie und Puppe zerfasern. Das Werk, weil es mit all den dereinst zeitgemäßen Ballett- und Zwischenmusiken heute langatmig und redundant wirkt. Die Regie, weil sie dieses Manko als Chance begreift, die Oper für das Hier und Jetzt zu hinterfragen. Die Puppe, weil sie, statt in den Flammen des Vesuvs zu enden, auseinandergenommen wird.

Was passiert? Fenella hatte Masaniello berichtet, was ihr widerfahren war. Der zettelt den Aufstand der Fischer an. Doch das Blutvergießen steigt ihm mehr zu Kopf als die neugewonnene Macht. Er möchte weitere Grausamkeiten verhindern und wird von Pietro, Georg Festl, in völligem Missverstehen der Situation vergiftet. Interessanterweise steht Matthew Vickers, nachdem er sich stimmlich fast völlig verausgabt hat, als Masaniello daraufhin einen gesamten Akt lang starr auf einem Tisch, während um ihn herum die Revolution ihre Kinder frisst. 

Zu allem Überfluss hat Masaniello auch noch Alphonse und Elvire, die aus dem Palast fliehen mussten, Zuflucht gewährt. Die beiden hatten bereits zuvor Sonderaufgaben von der Regie bekommen: Ihr von heftigen Diskussionen unterbrochenes Versöhnungsduett war per Live-Video auf dem die Bühne verschließenden Videowall-Vorhang zu sehen. Mit der Sinnhaftigkeit dieser Versöhnung wurde auch diskutiert, wie zeitgemäß solch eine Handlung ist – auf Englisch, was an sich ja auch einer Aussage gleichkommt. Immerhin gab es für diese Musica Interupta ein paar Lacher.

Im Hause Masianellos nun haben Alphonse und Elvire von der Regie den Auftrag, ziellos über die Bühne zu torkeln (er) und mit oder ohne Handfeuerwaffe zu kreiseln (sie), während die Zwischenmusiken durch Aussagen Darmstädter Bürgerinnen (es sind tatsächlich nur weibliche Stimmen, was Glotal Stopps und Binnen Is an dieser Stelle zweckfrei macht) überspielt und unerfreulich überdeckt werden. Die wurden nämlich gefragt, für was sie ihre Stummheit überwinden, für welche Themen sie auf die Straße gehen würden. Wer wird gehört, wer hat etwas zu sagen, sei das Leitmotiv der Inszenierung gewesen, hatte Dramaturgin Teresa Martin gesagt. Drei Mal kommen die Bürgerinnen zu Worte. Ab dem zweiten Mal wäre ein beherzter Strich entschieden wünschenswerter gewesen. So muss man zu dem Schluss kommen, dass die Musik nichts zu sagen hat und kann nur bedauern, was man vom Staatsorchester unter Johannes Zahn nicht hört. Immerhin hat ja gerade die Musik mit ihren scharfen Kontrasten von Chor-Tableaus und emotionaler Intimität zur Wirkmacht der Oper beigetragen. Warum spielt man dann überhaupt die ganze Oper und pickt nicht gleich Versatzstücke für eine Performance raus?

Der Aufstand der Fischer unter Masaniello (Matthew Vickers) gerät zur Lackmusprobe für das Publikum: Würde wirklich einer zu den Waffen greifen? © Benjamin Weber

Dazu muss noch erwähnt werden, dass auf den inzwischen bis zur Reizüberflutung bespielten Videowänden auch noch Georg Büchner zu neuem Leben erwacht. Die Zeitreise der Inszenierung erreicht Darmstadt, als Büchner 1834 den Hessischen Landboten aussendet, um die Revolution in die Landbevölkerung zu tragen. Anscheinend schreibt er seither bei Kerzenlicht in seinem Sarg unter dem nach ihm benannten Platz vorm Staatstheater munter weiter, nur, um den Archäologen, die ihn als Zuspielung während der Inszenierung ausgraben, entgegen zu lachen und das Publikum zu fragen, warum es so romantisch glotze. Was wiederum die Frage aufwirft, was sich das Regieteam unter Romantik vorstellen mag. Immerhin ist die ganze Inszenierung ja ein Aufruf, auf die Barrikaden zu gehen, also Romantik im Sinne der Zeitgeschichte und nicht des Fenella-Alphonse-Elvire-Liebesdreiecks. Wobei die große Frage der Wahl der Waffen gilt. Zuvor fragte ein Spruchband nämlich, ob das Publikum bereit sei, zu den Waffen zu greifen, während die den Aufstand vorbereitenden Fischer ihre Waffen mit den Griffen Richtung Sitzreihen hielten. Die Antwort hierauf kann selbstverständlich nur ein „Nein“ sein. Das Wort als Waffe, sprich, die Einlassungen der Bürgerinnen, sind somit zwar ermüdend, aber auch zwingend folgerichtig.

Die Puppe verliert ob all dem Gewirr den Kopf. Eine Zeit lang trägt sie – Dalí lässt grüßen – einen ihrer Arme auf dem Hals. Da ist der von der zweiten Spielerin bewegte Kopf ohne Körper noch hochpoetisch. Zum Schluss bekommen Kopf und Arme jedoch ein Eigenleben, das eher an das Eiskalte Händchen der Adams Family erinnert als die gewünschte Aussage zu verdeutlichen. Bricht endlich (!) der Vesuv aus und beendet das Drama, fährt die Bühne samt Staffage in die Versenkung – eine Pointe von vermutlich unbeabsichtigter Ironie. Lautstarke Bravi und anhaltende Buhs hielten sich beim Premierenapplaus die Waage. 


«Die Stumme von Portici» – Daniel Auber
Staatstheater Darmstadt

Kritik der Premiere am 26. April 
Termine: 11./22. Mai; /9./14. Juni