Hermann Schneider

„Kunst ist Medizin, die auch bitter sein kann“

Der Intendant des Linzer Landestheaters spricht über Veränderungen im Publikum, neue Opern, Moral-Debatten, Trigger-Warnungen und möglichen Machtmissbrauch

Stephan Burianek • 18. März 2024


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Hermann Schneider: „Ein Theater ist nicht mehr selbsterklärend“ © Herwig Prammer

Sie haben soeben vor einer «Freischütz»-Aufführung zwei Adventspiel-Gewinnern eine Führung durch das Linzer Musiktheater gegeben.

Ja, es war ein sehr interessiertes, älteres Ehepaar. Sie meinten, sie gehen eigentlich nur ins Schauspiel. Na, dann schauen wir mal, wie es ihnen heute gefällt.

Es scheint als habe sich die Arbeit am Publikum in den vergangenen zwanzig Jahren stark verändert.

Ob Einführungsmatineen und -gespräche, eigene Publikationen oder direkter Kontakt – das gesamte Thema Vermittlung hat sich extrem entwickelt. Man merkt in der öffentlichen Debatte, dass ein Theater nicht mehr selbsterklärend ist. Das hat weniger mit Abrisskanten oder Bildungslücken zu tun, sondern einfach mit einem anderen Verständnis. Ich finde das gut, weil man dadurch niederschwellig wird und den Leuten die Scheu nimmt.

Das Theater ist gezwungen worden, eine einst bequeme Position zu verlassen.

Auch das ist gut, denn so denkt man als Theater darüber nach, warum und wie man das alles eigentlich macht. Es besteht nicht die Gefahr, dass man im Elfenbeinturm bleibt.

Aber wenn man mehr erklären muss, bedeutet das nicht auch, dass man sich vom Publikum heute weniger erwarten kann und dass man sich anders abholen muss?

Das ist sicherlich richtig, aber das hat auch mit Veränderungen in den gesellschaftlichen Werten und dem Bildungssystem zu tun. Das sage ich jetzt nicht, um mit dem Finger auf andere zu zeigen. Es wäre aber schade, wenn durch diesen Wandel eine Institution wie das lokale Theater abgekoppelt würde. Aber es stimmt natürlich: Man muss sich davor hüten, dass eine künstlerische Arbeit nicht überhaupt nur sozialpädagogisch verbrämt rezeptionsfähig wird. Darin sehe ich eine Gefahr. Was ich in diesem Zusammenhang spannend finde: Worum man sich alles bemühen muss, um dem Publikum eine zeitgenössische Oper nahe zu bringen, während der zeitgenössische Roman, vereinfacht gesagt, einfach nur in der Buchhandlung liegt!

Weil Sie die zeitgenössische Oper ansprechen: Es wirkt ein wenig so, als ob die Musik in den letzten Jahren zugänglicher, melodischer, geworden ist. 

Das glaube ich auch. Man ist weg von der Generation nach der Darmstädter Schule und nach dem Aufbruch der Neuen Musik aus der Mitte des 20. Jahrhunderts. Man hat gemerkt, dass man sich, ob bewusst oder unbewusst, in eine hermetisch geschlossene Außenseiterrolle begeben hat, aus der man selbst mit Vermittlungsversuchen nicht mehr herauskam. Heute gibt es keine ästhetischen Verbote mehr, und die Musik geht ohne ideologischen Scheuklappen auf die Leute zu. Man kann nun in einer neuen Oper auch mal D-Dur hören. Das finde ich gut.

Hermann Schneider: „Eine Zeit lang griff man gerne auf bekannte literarische Stoffe zurück“ © Herwig Prammer

Inhaltlich sehe ich bei neuen Opern aber keine Trends. Sie?

Nein. Eine Zeit lang griff man gerne auf bekannte literarische Stoffe zurück, um die Vermittlung zu erleichtern. Ich denke dabei etwa an Aribert Reimann, den ich sehr schätze, und seine Opern «Troades», «Lear», «Das Schloss» oder «Bernarda Albas Haus». Das gibt es in diesem Ausmaß nicht mehr.

Sie sind bereit fast acht Jahren der Intendant in Linz, davor waren Sie in Würzburg. Inwieweit hat sich abseits der Vermittlung, über die wir schon gesprochen haben, die Arbeit als Intendant in den letzten zehn Jahren verändert?

Vor allem im Schauspiel werden wir viel stärker in eine moralisch-politische Debatte integriert. Ich denke, was in den 1960er-Jahren an gesellschaftspolitischen Engagement aufkam und im Hedonismus der 1980er- und 1990er-Jahre verschwand, ist und nun wieder da. Viele Debatten, die in der Gesellschaft aktuell geführt werden, wie Gender, Blackfacing, struktureller Machtmissbrauch, Rassismus, sexueller und sonstiger Ausbeutung, haben im Theater eine hohe Relevanz – und zwar gerade weil die meisten Stücke im Repertoire aus einer anderen Zeit kommen und zunehmend – auch innerhalb des Theaters – die Frage gestellt wird, ob und wie wir sie heute auf die Bühne bringen sollen. Heute hat man viel mehr Ebenen der Resonanz und Reflexion, auch in Verbindung mit den Medien und der Beschleunigung durch Social Media. Damit einhergehend hat sich auch die Debatte um die Arbeitsbedingungen am Theater gewandelt. Als ich in den 1980er-Jahren am Theater anfing, hat man nicht darüber nachgedacht, ob 60-Stunden-Wochen eine Ausbeutung wäre oder nicht bzw. ob das richtig ist oder falsch. Da herrscht bei Personen im Alter von zwanzig bis dreißig Jahren schon ein ganz anderes Verständnis hinsichtlich einer Work-Life-Balance. Und das ist auch richtig so.

Sie haben in Bezug auf moralisch-politische Debatten das Schauspiel hervorgehoben. In der Oper werden diese aber anders geführt, oder?

Ja, denn die wird weniger über die Akteure, sondern mehr über Medien und Dramaturgen geführt. Man könnte jetzt denken, die Ensembles in der Oper reflektieren nicht so wie im Schauspiel, aber das Gegenteil ist der Fall. Die sind viel weiter, weil die sowieso international und divers sind, dadurch anders reflektieren und eine andere Lässigkeit haben.

Ich hätte eigentlich vermutet, dass diese kulturelle Diversität bei gewissen Themen eher bremst. Zum Beispiel diese Russland-Debatte: Inwieweit sollen sich Künstler zu einem humanistischen Weltbild bekennen? Mein Gefühl ist, dass mächtige Personen in der Opernbranche sehr daran festhalten, dass man an solchen Fragen eben nicht rüttelt.

Das mag sein, aber das hat mehr mit Märkten, Agenturen und Geldern zu tun. Neulich wurde aber Currentzis von den Wiener Festwochen ausgeladen, plötzlich tut sich etwas. Aber wenn das nicht eine Ukrainerin und eine Frau gewesen wäre, dann wäre die Debatte wohl anders verlaufen. Das sage ich jetzt nicht hämisch oder zynisch, sondern ich finde es interessant, dass man gar nicht auf die Idee gekommen ist, das im Vorfeld zu reflektieren – so gut die Idee von Milo Rau auch sein mag zu sagen, man nimmt einen Russen und eine Ukrainerin, und die realisieren jeweils ein Requiem. 

War das vielleicht auch der Schauspiel-Regisseur, der an der Realität des klassischen Musikmarkts gescheitert ist?

Oder die Realität des Musikmarkts unterschätzt hat. An sich ist die Idee ja charmant, denn die Opfer gibt es ja auf beiden Seiten.

Dann müsste man halt einen Russen nehmen, der von den Ukrainern geschätzt und nicht durch das System Putin finanziert wird. Das gibt es ja doch einige.

Völlig richtig, das war wohl einen Tick zu wenig weit gedacht.

Hermann Schneider über Trigger-Warnungen: „Auch ich beuge mich hier dem Zeitgeist“ © Herwig Prammer

Ein Thema, das in letzter Zeit aufgekommen ist, betrifft die sogenannten Trigger-Warnungen. In Weimar wurde das Publikum beispielsweise im Zusammenhang mit einer Aufführung von Wagners «Fliegendem Holländer» vor „Nebel, Blut und Feuer“ gewarnt. Was halten Sie davon?

Die Debatte kennt man eigentlich seit der Mitte des 20. Jahrhunderts in Bezug auf die Märchenliteratur. Mord, Totschlag und Kannibalismus in Grimms Märchen hat man versucht, tiefenpsychologisch zu deuten. Das sind natürlich auch Relativierungen, und die Geschichten sind, was sie sind. Ich finde das problematisch, denn man zieht der Kunst damit den Zahn und begibt sich damit in eine „Kuschelecke“. Aber auch ich beuge mich hier dem Zeitgeist, weil das ebenfalls ein Mittel der Vermittlung ist, und man Leute auf das zu Erlebende vorbereitet.

Das ist für ein Theater wohl auch eine Gratwanderung. Einerseits muss man politisch mit der Zeit gehen, andererseits sollte man nicht politisch überkorrekt werden, um nicht den eigenen, auf der Bühne verhandelten Debatten zu schaden.

So ist es. Besonders problematisch finde ich es, wenn diese Diskussion eine Kategorie des Schreckens oder der Grausamkeit betrifft, die auch in ästhetischer Hinsicht seit der schwarzen Romantik existiert – Stichwort: «Der Freischütz». Darf man das Hässliche, das Monströse zeigen? Und ist das nicht nur ein moralischer Fingerzeig auf das Böse, sondern auch eine ästhetische Kategorie? Ich denke, die Trigger-Warnungen entstehen aus einem Sicherheitsdenken, wie bei den Beipackzetteln, die Medikamenten in erster Linie aus versicherungstechnischen Gründen beigelegt werden. Ich finde das schade, denn Kunst ist Medizin, und die kann auch bitter sein.

Inwieweit sollen jene, die diese Medizin verabreichen – gemeint sind die Künstler – in historischer und ethischer Hinsicht gebildet sein, also im Sinne unserer Tradition einen humanistischen Kompass haben? Darf man das verlangen? Soll man es vielleicht sogar?

Das ist eine spannende Frage, aber zunächst denke ich, dass die primäre Tugend ein gutes Spiel, ein guter Tanz oder ein guter Gesang sein sollte. Dafür engagiere ich ja einen Künstler oder eine Künstlerin. Die Problematik entsteht ja vor allem dann, wenn ein Künstler oder eine Künstlerin irgendwann eine Person des öffentlichen Interesses wird und dann aufgrund des medialen Interesses eine gewisse Relevanz erfährt. Das können Sie gerade sehr gut in den USA sehen, wo die Republikaner plötzlich nervös sind, weil sich der Popstar Taylor Swift für Präsident Biden ausspricht. Ich halte es für ein Missverständnis, dass man der Meinung ist, dass ein Sänger, ein Fußballspieler, oder wer auch immer die „richtige“ politische Gesinnung haben muss.

Aber kann es für unsere Gesellschaft nicht gefährlich werden, wenn eine Person ihren Einfluss dafür nutzt, sich beispielsweise gegen freiheitliche oder demokratische Werte auszusprechen?

Das ist schon richtig, und an diesem Punkt stellt sich die Frage: Kann, wird und soll unsere Gesellschaft das aushalten, und wie geht man mit einem solchen Diskurs um? Kann oder soll ich einer solchen Person den Mund verbieten? Wenn sich ein Star privat äußert, dann wird das von der Allgemeinheit ja als öffentlich verlautbarte Meinung wahrgenommen. Das ist natürlich problematisch. Wenn ein Mitarbeiter meines Theaters an problematischen Veranstaltungen teilnehmen würde, dann würde ich ihm das untersagen, weil das dann negativ auf das Theater ausstrahlen würde. Diese Grenze kann man ziehen, denke ich. Aber man kann einzelnen Personen nicht verbieten sich öffentlich zu äußern, da kommt man dann in eine absurde Dialektik.

Hermann Schneider über Trigger-Warnungen: „Der moralische Anspruch an Intendanten hat sich zurecht gewandelt“ © Herwig Prammer

Sie sind nicht nur Intendant, sondern auch Dramaturg, Regisseur und Librettist. Aktuell gibt es zwei Fälle in Deutschland von Regisseuren, die zugleich Intendanten waren und ihre eigene künstlerische Arbeit offenbar über das Wohl ihrer Theater gestellt haben. Wie sehr sieht man sich als Künstlerintendant verleitet, das Theater für die eigenen Zwecke zu benutzen – oder anders gefragt: Wie vereinbar sind alle diese Funktionen miteinander?

Es gibt scheinbar Direktoren, die sich aufgrund ihrer arbeitsrechtlichen Stellung, ihrer strukturellen Funktion oder ihrer Arbeitsverträge für unantastbar halten und das dann ausnutzen bzw. sich zum Größenwahn verführen lassen. Zum Intendantenjob gehört natürlich eine gewisse Reife. In meinem Vertrag steht, dass ich pro Jahr eine Gastinzenierung machen kann, wenn ich es möchte. Ich bin jetzt in meiner achten Spielzeit und mache erst zum zweiten Mal etwas woanders. Mehr würde ich von meinem Pensum her auch gar nicht schaffen und würde es daher für unredlich halten, denn mein Job ist hier in Linz. Wenn ich im Sommer in meiner Freizeit ein Libretto schreibe, dann ist das natürlich mein Privatvergnügen. Das ist meine Haltung. Aber wer überprüft eine solche Haltung? Ich möchte auf die konkreten Fälle, auf die Sie anspielen, jetzt nicht eingehen, aber auch da wird es Aufsichtsräte, Politiker oder Personalräte gegeben haben, auf die man vielleicht nicht rechtzeitig gehört hat. Der moralische Kompass ist oftmals schwierig einzuschätzen, aber hier ist die Politik gefragt, um für ein System einer unabhängigen Aufsicht zu sorgen. Was aber sicher stimmt: Das Berufsbild und der moralische Anspruch an Intendanten hat sich zurecht gewandelt.

Was ich als Journalist dazu jetzt sagen muss: Die meisten Skandale, die in letzter Zeit hochgekommen sind, waren mir schon seit Jahren bekannt, weil innerhalb der Branche viel gesprochen wird. Ich habe mich oft gefragt, warum diese nicht viel früher thematisiert wurden, denn der Schaden für die Branche wird durch Zuwarten letztlich umso größer. Ein Grund dafür ist wohl, dass sich Betroffene zumeist nicht trauen, offen zu sprechen und Journalisten auf der anderen Seite sogenannte Slapp-Klagen befürchten müssen.

Vor allem sollte man nicht unterschiedliche Maßstäbe ansetzen. Man kann beispielsweise nicht auf der einen Seite einen bekannten Opernsänger bejubeln, der in der MeToo-Debatte aufgefallen ist und andererseits kritisieren, dass ein Rammstein-Konzert mit Till Lindemann stattfindet. Die Definition von Grenzen müssen jedenfalls diskutiert werden, und das ist ein weites Feld. Man wird sich auch mal fragen müssen, und das sage ich ohne Zynismus, ob wir bestimmte Werke überhaupt noch aufführen können. 

Aktuell diskutiert man wieder über bestimmte Passagen in Mozarts «Zauberflöte», die als frauenfeindlich oder rassistisch gewertet werden („Weil ein Schwarzer hässlich ist“). Wie bewerten Sie das? Kann oder soll man Passagen verändern?

Oder eine Trigger-Warnung schreiben (lacht). Ich persönlich finde nicht, dass man das ändern soll, aber man muss sich inszenatorisch dazu verhalten. Genau dazu ist ja das „böse“ Regietheater in der Lage. Das haben wir ja alle mittlerweile gelernt und uns performative Techniken und Rezeptionsmechanismen angeeignet. 
 

Das Interview wurde im Februar 2024 im Foyer des Linzer Musiktheaters geführt.


Herrmann Schneider wurde in Köln geboren und studierte Germanistik, Philosophie, Musik- und Theaterwissenschaften in Tübingen und München. Nach Jahren als Regieassistent, Spielleiter und Opernregisseur in Aachen übernahm Schneider am Theater Eisenach seine erste Intendanz. Von 2004 bis 2015 war Schneider Intendant des Mainfranken-Theaters in Würzburg. Seit 2016 ist er Intendant des Landestheaters Linz. In seiner Ära in Linz wurden mehrere Opern uraufgeführt, für manche davon lieferte Schneider das Libretto, wie beispielsweise für «Die andere Seite» von Michael Obst.