Teatro La Fenice

Gott sieht alles

Regie-Altmeister Pier Luigi Pizzi setzt Respighis musikalisch mitreißende, selten gespielte Kurzoper «Maria Egiziaca» (Maria von Ägypten) poetisch wie zeitgemäß in Szene

Stephan Burianek • 12. März 2024

Im ersten Teil bezahlt Maria (Francesca Dotto) eine Seefahrt mit ihrem Körper. Im Bild bezirzt sie Vincenzo Costanzo als Seemann © Roberto Moro

Ist das noch heilig oder schon Blasphemie? Soeben war Maria ein Engel erschienen, nun fühlt sie sich Jesus nahe, durchlebt das Martyrium seiner Kreuzigung, umräkelt anschließend das Objekt seiner Marter und spreizt dann vor dem Kreuz die Beine: Zu ekstatischen Klängen vereinigt sich Maria mit Jesus. Bei der Figur, die im venezianischen Teatro Malibran während zweier Zwischenspiele von der Tänzerin Maria Novella Della Martira ausdrucksvoll gedoppelt wird, handelt es sich freilich weder um die Mutter Jesu noch um dessen vermeintliche Geliebte Maria Magdalena. Auch jene heiliggesprochene Prostituierte, die nach einer Erleuchtung im vierten Jahrhundert mehr als vier Jahrzehnte lang als Eremitin in der Wüste gelebt haben soll und letztlich stark behaart und von ihren Sünden erlöst in ein Grab am Jordan gestiegen ist, das ihr zuvor ein Löwe gegraben haben soll, hat Maria geheißen – so will es zumindest eine Legende aus dem 13. Jahrhundert. 

Für aufgeklärte Menschen mag eine solche christlich-missionarische Handlung nur schwer zu ertragen sein, die vom Komponisten Ottorino Respighi als „Konzert-Triptychon“ bezeichnete Partitur ist aber ein purer Genuss. Das im Jahr 1932 in New York uraufgeführte, etwas über eine Stunde dauernde Werk ist musikalisch in der Spätromantik daheim und zugleich viel schlanker und effizienter instrumentiert als beispielsweise eine Richard-Strauss-Oper. Dennoch hätte der Bologneser die Sehnsüchte seiner Figuren, ihre versteckten Leidenschaften und ihre Melancholie, musikalisch kaum treffender in Töne setzen können. Respighis Beschäftigung mit der Musik des Barock und mit Renaissance-Madrigalen blitzt, wenn auch nicht als eindeutige Zitate, immer wieder auf, in die Orchesterfarben mischen sich immer mal wieder die metallischen Klänge eines Cembalos. 

Obwohl in drei Teile gegliedert, fließt «Maria Egiziaca» musikalisch wie ein kurzweiliger Einakter durch. Die Gesangslinien mögen für die Ohren des Publikums gefällig klingen, die für einen dramatischen Sopran gesetzte Titelpartie dürfte dennoch eine ziemliche Herausforderung darstellen. Francesca Dotto erfüllt diese Aufgabe erstklassig. Mit klarer Diktion flutet sie den Raum scheinbar mühelos und klingt dabei phasenweise so elektrisierend, dass im Publikum jeder den Atem anzuhalten scheint. Das liegt freilich auch an Respighis stellenweise stark soghafter Musik, die vom Fenice-Orchester unter der Leitung von Manlio Benzi mit Präzision und Transparenz packend realisiert wird.

Pizzis Bühnenbild besteht im Wesentlichen aus einem riesigen Bildschirm, auf dem sich der Regisseur u.a. selbst zitiert © Roberto Moro

Der Regie-Altmeister Pier Luigi Pizzi schafft in dieser Produktion das Kunststück, sich trotz seiner Treue zur originalen Handlung niemals in die Gefahr zu begeben, museal zu wirken. Im Gegenteil: Die gesamte Bühnenrückwand besteht aus einem riesigen Bildschirm, auf dem mittels handwerklich raffinierter Videos nicht nur die Ortswechsel vollzogen werden (Hafen, Grabeskirche in Jerusalem, Wüste und Jordan), sondern die der Handlung zudem eine künstlerische Ästhetik und Tiefe verschaffen. Diese Lösung könnte freilich budgetäre Gründe haben, denn karg ist auch die restliche Bühne, die im Wesentlichen aus einer zweistufigen Rampe, im ersten Teil mit einem Kahn, besteht. Umso faszinierender ist, welche poetische Wirkung Pizzi mit diesem Setting zu kreieren versteht. Der Regisseur und Ausstatter in Personalunion hat sich für die Videos, die vom Unternehmen Sound Light aus Pesaro realisiert wurden, vom Kunstmaler und Bühnenbildner Fabrizio Clerici (1913-1993) inspirieren lassen, wie im Programmheft in einem Interview zu lesen ist, das während der Proben mit ihm geführt wurde. Die bewegten Bilder greifen Motive aus Clericis Gemälden auf, die dem phantastischen Realismus zugerechnet werden können. Clerici hatte sich stark mit ägyptischen Motiven beschäftigt, daher etwa der Obelisk, der in der ersten Episode aus dem Meer aufsteigt. Kreuze fehlen in Clericis Werken allerdings, und um dieses Manko auszugleichen, griff Pizzi auf einen „Wald“ aus Kreuzen einer eigenen Inszenierung zurück (der Massenet-Oper «Thais»), die vor zwanzig Jahren in Venedig zu sehen waren.

Das eingangs beschriebene, musikalisch ekstatische Zwischenspiel erinnerte Rizzi an die berühmte Bernini-Skulptur „Verzückung der heiligen Theresa“, die sich bis heute in einer Kirche in Rom befindet. Sexualisiert werden bei ihm aber auch die Männer: Die Seefahrer, an die sich Maria ranmacht, um auf die Schifffahrt mitgenommen zu werden, tragen oben Tank-Tops und unten Leder-Röckchen – und singen ebenfalls wunderbar: Als Seemann (Marinario) erfreut Vincenzo Costanzo, der später auch den Lepkrakranken singt, nicht zuletzt mit sonoren Höhen. Einer seiner Gefährten (Un altro compagno) ist Luigi Morassi, der mit seinem kräftig-kernigen Tenor vor allem als Armer (Il Povero) im zweiten Teil glänzt. 

In alter italienischer Operntradition werden diese Figuren sprachlich überhöht, singen also ungeachtet ihrer sozialen Stellung in poetischem Opernitalienisch. Mit dem Libretto von Claudio Guastalla war Pizzi, der während der monatelangen Vorbereitung laut eigener Aussage mit sich um eine schlüssige Interpretation dieses Werks gerungen hatte, aber nur bedingt zufrieden. Guastella komme an die Qualität seiner großen Vorgänger nicht heran, meinte der Regisseur, außerdem sei seine „obskure“ Sprache heute unzugänglich. Man entschloss sich für diese Produktion daher zu einem Sakrileg und ersetzte kurzerhand mehr als dreißig Wörter, auch mit dem Ziel, die Sangbarkeit des Textes zu erhöhen.

Nach Jahrzehnten in der Wüste erteilt ein Abt (Simone Alberghini) der gewandelten Maria (Francesca Dotto) die Absolution © Roberto Moro

Unabhängig davon wirkt die poetische Ausdrucksweise bei zwei Figuren stimmig, die ohne weiteres als dieselbe Figur gesehen werden können: Mit einem etwas fahlen Timbre verfügt der solide Simone Alberghini als Pilger (Il pellegrino) sowie am Ende als Abt Zosimus (L’abate Zosimo) stimmlich nicht ganz über jene Autorität, die diese Partien eigentlich erfordern. Einen schönen Effekt liefert indes der Chor des Hauses (Einstudierung: Alfonso Caiani), der an den drei Stellen seines Einsatzes zwar nicht zu sehen ist, aber – gleichsam aus «Parsifal»‘scher Höhe – aus dem Off singt. Das wirkt vor allem im dritten und letzten Teil, in dem ein Augapfel – Gott sieht alles – Marias Treue von höchster Stelle verbürgt und Pizzis bis dahin höchst poetische Inszenierung vor kitschigen Sonnenuntergangswolken ein Ende findet.

Als sich der Regisseur nach der zweiten Vorstellung beim Schlussapplaus überraschend dem Publikum zeigte, mischten sich ein paar Buhs in den kurz aufbrausenden Jubel. Es darf darüber spekuliert werden, was diese Leute auszusetzen hatten. War ihnen die Inszenierung zu konventionell gewesen? Oder gar zu modern? Sicher scheint einmal mehr: Im Extrem finden Gegensätze zusammen.


«Maria Egiziaca» (Maria von Ägypten) – Ottorino Respighi
Teatro La Fenice · Teatro Malibran

Kritik der Vorstellung am 10. März
Termine: 12./14./16. März

 


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