Voix Etouffées

Vergiss nie!

Der französische Dirigent und Komponist Amaury du Closel setzt sich seit vielen Jahren für die Verbreitung der Werke von Komponisten ein, die totalitären Regimen zum Opfer gefallen sind

Susanne Dressler • 26. Februar 2024

Amaury du Closel startete eine kulturelle Front gegen die russische Aggression © Rossen Donev

Sie haben vor zwei Jahren das Projekt „Musik! Krieg und Frieden in Europa“ im Rahmen von „Voix Etoufées“ (Erstickte Stimmen) ins Leben gerufen. War dafür der Angriff auf die Ukraine ausschlaggebend?

Seit zwanzig Jahren beschäftigt sich „Voix Etouffées“ damit, Komponisten, die Opfer des Nationalsozialismus und anderer Totalitarismen wie Stalinismus, Sowjetkommunismus, Faschismus, Franquismus oder Salazarismus in Europa im 20. Jahrhundert waren, wieder einen angemessenen Platz einzuräumen. Diese Forschungs- und Produktionsarbeit endet leider nicht in der jeweiligen historischen Periode. Sie knüpft immer an die Gegenwart an. Als 2022 die Invasion der Ukraine begann, war der Schock so groß, dass wir das Projekt, das wir bei der Europäischen Kommission einreichen wollten, komplett umwarfen. Mit etwa 30 Partnern aus 15 EU-Mitgliedstaaten, mit Bosnien-Herzegowina und der Ukraine – hier insbesondere gemeinsam mit der 2022 mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichneten ukrainischen Organisation „Center for Civil Liberties“ – startet eine kulturelle Front gegen die russische Aggression.

Wie sehen Sie das Projekt nun angesichts des Krieges in Israel und Gaza?

Das Pogrom vom 7. Oktober 2023 führt zu einer weiteren Destabilisierung des Westens. Es handelt sich um einen Angriff auf die einzige Demokratie im Nahen Osten, wobei die Interessen der russischen und iranischen Diktaturen eine beträchtliche Rolle spielen. Eine der Folgen des israelischen Gegenschlags, der als Reaktion auf den terroristischen Angriff auf das Land erfolgte, ist die extrem starke Entwicklung des Antisemitismus bei vielen NATO-Partnern, einschließlich der USA. Ein wichtiges Ziel unseres Engagements ist es hingegen, mit Aufführungen der Musik von Holocaust-Opfern dagegen anzukämpfen.

Der Angriff Russlands auf die Ukraine ist ein „Zivilisationsbruch“. Was kann man auf künstlerischer Ebene „auf breiter Front“ entgegensetzen?

Der Holocaust-Überlebende Boris Romantschenko wurde am 22. März 2022 von den russischen Streitkräften während der Bombardierung von Charkiw im Nordosten der Ukraine getötet. Das Schicksal dieses 96-jährigen Mannes, der unter anderem die Konzentrationslager Buchenwald und Bergen-Belsen überlebt hatte, widerlegt tragischerweise eine gewisse europäische Naivität. Diese Naivität glaubte, dass der Krieg mit dem Ende des Nationalsozialismus und der Sowjetunion vorbei sei. Seit Beginn der Invasion in der Ukraine hat Putin seine Aggression immer wieder als Kampf gegen den ukrainischen „Nazismus“ und die westliche Dekadenz gerechtfertigt. Dabei hat er absolute Gleichgültigkeit gegenüber den Menschenrechten und den Grundregeln des Völkerrechts zum Ausdruck gebracht. Desinformation und Revisionismus sind die Hauptwaffen der Kreml-Propaganda. Die Ukraine kämpft hingegen für die Wahrung der Werte der westlichen Demokratie und somit auch für die Europäische Union. Angesichts der Lügen der russischen Propaganda muss Russland nicht nur militärisch, sondern auch kulturell mobilisiert werden. Der Krieg in der Ukraine hat uns tragischerweise vor Augen geführt, wie wenig wir aus der Geschichte lernen können, wie schwer es ist, Fehler der Vergangenheit nicht zu wiederholen, und wie wichtig Erinnerungsarbeit ist. Leider zeigt sich in einigen illiberalen EU-Mitgliedstaaten eine Schwächung der Rechtsstaatlichkeit und der Grundfreiheiten. Zudem ist ein Anstieg von Antisemitismus, Fremdenfeindlichkeit und Anti-Europäismus zu verzeichnen. In diesem Kontext schleicht sich auch eine fortschreitende Amnesie gegenüber der Geschichte des Holocausts auf leisen Sohlen heran.

Amaury du Closel: „Alle europäischen Kriege des 20. Jahrhunderts waren von Völkermord geprägt“ © Rossen Donev

Das heißt, nichts ist wichtiger als die Erinnerung?

Das Projekt „Musik, Krieg und Frieden in Europa 1922-2022“ verweist bereits im Titel auf die entscheidenden Ereignisse in der zeitgenössischen ukrainischen Geschichte: 1922 markierte den Anschluss an die UdSSR und den Verlust der Unabhängigkeit des Landes, während 2022 der Beginn der russischen Invasion war. Alle europäischen Kriege des 20. Jahrhunderts waren von Völkermord geprägt, insbesondere natürlich der Holocaust. Darüber hinaus erinnern wir an die Massaker von Srebrenica in Bosnien und Herzegowina sowie im Kosovo, ebenso an Kriegsverbrechen, die derzeit in der Ukraine stattfinden. Unser Projekt stellt eine kulturelle Front gegen den Aggressor dar, mit dem Ziel, die europäischen Bürger dafür zu sensibilisieren, dass der russische Angriff auf die Ukraine tatsächlich einen tiefgreifenden Zivilisationskrieg darstellt, der die westliche Kultur und ihre Werte in Frage stellen will. Es mag unglaublich erscheinen, aber selbst unter den tragischsten Umständen spielt Musik eine grundlegende Rolle: Sie inspiriert zum Widerstand und lindert das Leiden der Gefangenen in Konzentrationslagern und der Zivilbevölkerung. Der völkermörderische Charakter der Ausrottung von Musikern und ihren Werken in den meisten Totalitarismen, nur weil sie Juden oder politische Feinde des Regimes waren, wird in allen Veranstaltungen des Projekts hervorgehoben: VERGISS NIE.

Musik kann also Frieden und Hoffnung geben?

Parallel zur Infragestellung der aus der Romantik stammenden Kompositionsmodelle begann mit dem Ende des Ersten Weltkriegs eine regelrechte Unterminierung der bürgerlichen Kultur, da sich diese als unfähig erwies, den Krieg und seine Gräuel zu verhindern. Am 3. Dezember 1918 schlossen sich bildende Künstler zur „Novembergruppe“ zusammen, um neue Ausdrucksformen in der Kunst zu finden und sie mit gesellschaftlichen sowie politischen Veränderungen zu verbinden. Diese Künstler waren jedoch nicht in der Lage, dem Aufstieg des Nationalsozialismus etwas entgegenzusetzen. Ich bin nicht naiv in Bezug auf die Fähigkeiten von Musik und Kultur, den derzeitigen totalitären Regimen oder sogar der Entwicklung illiberaler Regime in der Europäischen Union als Gefahr für die Demokratie entgegenzutreten. Dennoch gibt es zahlreiche Beispiele dafür, welche Rolle Musik in Konfliktsituationen oder politischen Umbrüchen spielen kann. Chor- oder Popgruppen aus den baltischen Staaten trugen mit der „Singenden Revolution“ zwischen 1987 und 1992 zur Unabhängigkeit dieser Staaten bei. Es gab nicht weniger als 48 Konzerte, darunter solche von der Heavy-Metal-Band Iron Maiden und dem Dirigenten Zubin Mehta, die während der Belagerung von Sarajevo unter dem Feuer der serbischen Scharfschützen stattfanden. Diese Veranstaltungen stärkten die Moral der bosnischen Bevölkerung und ihren Widerstandsgeist

Es heißt doch, auch „böse Menschen“ hören Lieder. Musik, aber auch die gesamte Kunst & Kultur, wird von Diktatoren instrumentalisiert, und man schaltet aus, was nicht ins Reglement passt. Auch Künstler. Wie geht man aber mit Künstlern um, die das System als Propagandisten in der ersten Reihe unterstützen?

Ich bin der Meinung, dass man den Künstler von seiner Biografie trennen muss. Andernfalls wären wir nicht mehr in der Lage, Werke von Komponisten wie Richard Wagner, Richard Strauss oder anderer Komponisten aufzuführen. Allerdings sollte man auch mit Vorsicht vorgehen. Mir wurde mehrmals vorgeschlagen, im Rahmen von „Voix Etouffées“ Opfer und kollaborierende Komponisten (z. B. Viktor Ullmann und Anton Webern) in das gleiche Programm aufzunehmen, was ich jedoch immer abgelehnt habe. Es handelt sich hier um eine Frage der persönlichen Ethik: Ich würde niemals Werke des Antisemiten Hans Pfitzner aufführen. Nachdem ich mich 25 Jahre lang für die Verteidigung der Opfer von Totalitarismen eingesetzt habe, kommt es für mich nicht in Frage, Komponisten zu spielen, die sich mit Diktaturen arrangiert haben. Ich bin zu alt, um meine Meinung zu ändern.

Wie steht es also nun um Künstler und totalitäre Regime?

Die Politisierung der Musik, die übrigens nichts mit der Beziehung zu tun hat, die Künstler mit den herrschenden Mächten eingehen, um Subventionen zu erhalten, ist relativ neu. Obwohl sie ihre Wurzeln im Nationalismus des 19. Jahrhunderts hat, trat sie vor allem nach dem Ersten Weltkrieg auf. Mit dem Aufkommen der „Kampfmusik“, die mit politischen Texten einher ging, liebäugelte ein Teil der Komponisten sowohl mit kommunistischen Parteien als auch mit Nazis oder Faschisten. Je nach Bedarf veränderte man das Wort zur Musik. Musik an sich ist grundsätzlich nicht politisierbar, weil sie, abhängig von den verwendeten Texten, rechts oder links sein kann. Diese Politisierung von Komponisten setzte sich bis in die 1990er Jahre fort. Jetzt nimmt diese Entwicklung ab, was mit der zunehmenden Entpolitisierung der westlichen Gesellschaften nach dem Fall der Mauer zusammenhängt. Die Ökologie hat die Führung übernommen, aber der Krieg in der Ukraine und die russische Bedrohung, die die osteuropäischen Länder (Baltische Staaten, Polen, Finnland, Schweden, Dänemark) besonders beunruhigen, könnten das Aufkommen militanter Musik wiederbeleben. Nur das Regietheater hält den politischen Diskurs und das politische Engagement seiner Akteure hoch, wie es zum Beispiel die Bayreuther Festspiele regelmäßig mit mehr oder weniger guten Ergebnissen beweisen. Das politische Engagement von Künstlern bringt oft große Enttäuschungen mit sich, wie die Folgen des Stalinismus für so engagierte Komponisten wie Hans Eisler oder Weggefährten der westlichen kommunistischen Parteien in allen Kulturkreisen (Kino, Theater usw.) gezeigt haben. Das Engagement von Künstlern ist keine Notwendigkeit, sondern eine Frage der Moral.

Worauf achten Sie bei der Programmierung der Abende besonders? 

Unsere Programme widmen sich ausschließlich Werken von Komponisten, die Opfer der europäischen Totalitarismen des 20. Jahrhunderts wurden, sei es des Nationalsozialismus (Hans Gál, Arnold Schönberg, Hanns Eisler, Paul Arma) oder des sowjetischen Kommunismus (Mieczyslaw Weinberg, Alexander Veprik, Arvo Pärt). Unsere musikalischen Partner für dieses Projekt sind das Orchestre Les Métamorphoses (Frankreich), I Solisti Aquilani (Italien), der Jauna Muzika Chor, das St. Chistophe Orchester aus Vilnius und das Nationale Kammerorchester von Litauen (Litauen), das Schlesische Kammerorchester und das Ensemble Porta Musicae aus Krakau (Polen), der 1. Frauenkammerorchester von Österreich, das Philharmonische Orchester Timisoara (Rumänien), das MAV Orchestra (Ungarn), die Sibelius Akademie (Finnland) und zahlreiche Solisten.

Wie finanzierten Sie das Projekt? 

Durch das europäische CERV-Programm (Citizens Equality, Rights and Values): Dank dieser Unterstützung konnten wir 25 Konzerte und ebenso viele Präsentationen und Debatten rund um das Projekt „Musik, Krieg und Frieden in Europa 1922-2022“ organisieren. Insgesamt erreichen wir direkt etwa 8.000 Zuhörer. Die Veranstaltungen fanden meistens rund um wichtige Daten des europäischen Gedächtnisses statt, wie die Befreiung von Auschwitz, Yom Ah Shoah, Europa-Tag, Novemberpogrome oder die Ausmerzung des Vilnius- oder Riga Ghettos. Am 9. Mai, am Europa-Tag, folgten in Straßburg über 2.000 neugierige Zuhörer aller Altersgruppen von sieben bis 80 Jahren nicht nur Werke der neuen Musik, sondern wussten auch zu schätzen, was sie alles zum Thema Verfolgung lernten. Diese Besucherzahl kann wahrlich als ein großartiger Erfolg gewertet werden.

Wie läuft Ihr Projekt 2024 weiter?

Es ist nun fast abgeschlossen. Wir haben bisher zehn Veranstaltungen organisiert, darunter zwei Kolloquien in Kaunas und Helsinki zum Thema „Musik und Krieg“ und, wie bereits erwähnt, etwa 25 Konzerte insgesamt. Drei Veranstaltungen in Barcelona, Budapest und Bratislava stehen noch aus. Danach bereiten wir ein neues Projekt vor, das etwa 30 Partner aus den 27 EU-Mitgliedstaaten für 20 Veranstaltungen zusammenbringen sollte. Ziel ist es Antisemitismus zu bekämpfen, der in Europa immer stärker um sich greift.
 

Dieses Interview entstand im Februar 2024 im Zuge eines Mail-Austauschs zwischen Paris (Closel) und Wien (Dressler).

 


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Amaury du Closel, geboren 1956 in Frankreich, ist Komponist und Dirigent. Seine musikalische Ausbildung erhielt er von 1975 bis 1980 in Paris bei Max Deutsch. Die vielseitige Karriere als Dirigent und Orchesterchef erstreckt sich über nationale und internationale Bühnen. Er leitete Orchester in Deutschland, Großbritannien, Korea, Polen, Österreich, Griechenland, Rumänien, und vielen anderen. Zwischen 1991 und 2014 war er regelmäßig Gastdirigent des Radioorchesters Rumäniens. Amaury du Closel schuf bis 2010 eine beeindruckende Anzahl von Werken, darunter drei Auftragskompositionen der Französischen Kulturministerium. Zu seinen bedeutenden Werken gehören „Cinq Poèmes Expressionistes“ von 1993 für Mezzosopran und Orchester sowie ein Liederzyklus aus dem Jahr 1995, basierend auf Gedichten von Else Lasker-Schüler, für Tenor und Orchester. Sein Werk „Sechs Gedichte von Paul Celan“ aus dem Jahr 1996 wurde von Radio France aufgenommen. Er widmete seine 1998 entstandene Komposition „Abîmes“ (Abgründe) für Violoncello dem renommierten Henri Dutilleux, und sie wurde von der Cellistin Barbara Marcinkowska aufgeführt. Sein letztes Werk „Stolpersteine“ wurde 2022 uraufgeführt und auf CD aufgenommen.

Neben seiner Arbeit im klassischen Bereich hat Amaury du Closel auch die Filmmusik für verschiedene Stummfilme komponiert, darunter „La Dixième Symphonie" von Abel Gance und „Michel Strogoff“ (Der Kurier des Zaren) von Victor Tourjansky aus dem Jahr 1926. Amaury du Closel hat sich auch als Autor profiliert und veröffentlichte das Buch „Erstickte Stimmen. ‚Entartete Musik‘ im Dritten Reich“, Böhlau Verlag. Im Laufe seiner beeindruckenden Karriere erhielt Amaury du Closel verschiedene Auszeichnungen. Er wurde außerdem 2005 mit dem Goldenen Ehrenzeichen für Verdienste um die Republik Österreich und im Jahr 2021 dem Bundesverdienstkreuz am Bande der Bundesrepublik Deutschland geehrt.

Das 2003 von dem Komponisten und Dirigenten Amaury du Closel gegründete Projekt „Voix Etouffées“ ist eine Initiative, die sich mit der Erinnerung an Komponisten befasst, die Opfer der europäischen Totalitarismen des 20. Jahrhunderts wurden, insbesondere des Nationalsozialismus und des sowjetischen Kommunismus. Der Name „Voix Etouffées“ bedeutet übersetzt „Erstickte Stimmen“ und bezieht sich auf die Künstler, deren Werke aufgrund politischer Verfolgung, Diskriminierung oder Unterdrückung zum Schweigen gebracht wurden. Die Veranstaltungen im Rahmen von "Voix Etouffées" finden in verschiedenen europäischen Städten statt und bringen Künstler, Orchester, Chöre und Partner aus verschiedenen Ländern zusammen. Ziel ist es, ein breites Publikum zu erreichen und die Bedeutung der Musik im Kontext von Freiheit, Menschenrechten und Demokratie zu betonen. 2023 gründete du Closel das Projekt „Musik! Krieg und Frieden in Europa“.

www.voixetouffees.org


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