Národní divadlo, Prag

Ein ewiger Kampf

Nach Bratislava ist nun auch in Prag eine poetische wie zeitgemäße Interpretation von Verdis «Nabucco» zu sehen. Die Erstbesetzung ist Weltklasse

Stephan Burianek • 17. Februar 2024

Regisseur Pilař verweist unter anderem auf das Italien der 1930er-Jahre, als dort imperialistischer Größenwahn um sich griff © Zdeněk Sokol

Der babylonische König Nabukadnezar (Nabucco) hat mit seinen Soldaten soeben den Tempel der Hebräer in Jerusalem erobert, er wird ihn gleich niederbrennen und die Juden in die Gefangenschaft führen. Davor lässt er aber noch ein riesiges Bild schänden: Moses mit den zehn Geboten wird aus dem Rahmen gerissen und zerknüllt. Es ist nicht auszudenken, was passieren würde, stellte man auch nur ansatzweise etwas Ähnliches mit jenem Propheten dar, dessen verblendete Jünger den Juden heute das Überleben schwer machen. Ob vom Regisseur Tomáš Ondřej Pilař beabsichtigt oder nicht: Selten wirken Gut und Böse beziehungsweise Opfer und Täter in einem aktuellen Kontext derart klar determiniert wie in diesem starken Bühnenmoment in der prachtvollen Prager Staatsoper. 

Dort ist das Orchester mit dem nicht zuletzt bei Touristen beliebten italienischen Repertoire seit vielen Jahren bestens betraut. Während der „1. Premiere“ von Verdis «Nabucco» (in einer „2. Premiere“ wird in Prag stets kurz darauf die Zweitbesetzung vorgestellt) war kein Schnitzer zu hören, wiewohl unter der flotten, zupackenden Leitung von Andrij Jurkevyč eine vermeintlich osteuropäische Vehemenz freilich über einer italienischen Finesse triumphierte. 

Die Erstbesetzung ist erstklassig: Nabucco verkörpert der Georgier Nikolaz Lagvilava, dessen kräftiger und auch in hohen Attacken gut tönender Bassbariton bereits in Düsseldorf, Essen und Berlin (an der Komischen Oper) zu hören war. Auch einen derart profunden Bass wie Ivo Stánčev als hebräischer Hohepriester Zaccaria findet man ansonsten nur selten. 

Die Ukrainerin Oksana Nosatova gab als Abigaille ein großartiges Rollen- und Hausdebut © Zdeněk Sokol

Die bemerkenswerteste Leistung des Premierenabends lieferte aber Oksana Nosatova mit einem phänomenalen Haus- und Rollendebüt als Nabuccos vermeintliche Tochter Abigaille, denn sie ließ sich kaum anmerken, dass es sich hierbei um eine der forderndsten Sopran-Partien des Opernrepertoires handelt. Die Ukrainerin sang früher am Donezker Opernhaus (dort, wohin einst eine gewisse Anna Netrebko eine Spende hinschickte, um dann in St. Petersburg mit Putins Separatistenführer und der Separatistenflagge vor den Kameras zu posieren) – und bewies einmal mehr, dass die Weltklasse nicht nur bei den großen Plattenlabels zu finden ist (und eine bestimmte Russin mehr als ersetzbar ist, auch wenn das manche Kritikerkollegen offenbar nicht wahrhaben wollen). Nosatovas Timbre verfügt über einen wiedererkennbaren Stimmklang, inklusive von in dieser Partie idealtypischen, leicht vulgären Nuancen. Ihre Stimme wiederum ist trotz eines vergleichbar schlanken Klangs zu großer Intensität und Durchschlagskraft fähig. Nosatova baut die Partie auf einem technisch erstklassigen Fundament auf und meistert auch die Sprünge von den tiefen in die hohen Lagen problemlos.

Der Tenor Josef Moravec konnte ihr als Ismael, den Abigaille gerne hätte, aber nicht bekommt, lediglich hinsichtlich seiner Stimmkraft das Wasser reichen. Ansonsten sägte er an den Noten der Partitur vorbei, war selten am Punkt. Eine Wonne war indes Markéta Cukrová als seine Bühnenpartnerin Fenena. Sie interpretierte Nabuccos wahre Tochter vor allem in ihrer Arie „Oh dischiuso è il firmamento“ mit lyrischer Sanftheit sowie einem nahezu engelhaften Timbre und konnte sich in den dramatischen Momenten ungeachtet dessen problemlos Gehör verschaffen.

Ein Glücksfall ist auch die Inzenierung, die als Koproduktion mit dem Nationaltheater in Bratislava im vergangenen Herbst dort ebenfalls ins Repertoire aufgenommen wurde. Pilař lässt die Handlung in einem Museum spielen, was bei solchen historischen Stoffen zwar längst keine Neuigkeit mehr darstellt, in diesem Fall aber eine ganz eigene Wirkung entfaltet. An ihren Kippas und den weißen Fäden, die an ihrer schwarzen Kleidung herunterhängen, erkennt man, dass es sich bei den Museumsbesuchern um Juden handelt, die die ausgegrabenen und in Vitrinen präsentierten Objekte aus babylonischer Zeit begutachten. Die modisch gekleideten Damen wiederum erlauben eine zeitliche Einordnung auf die 1930er-Jahre. Die Inszenierung spielt also in einer Zeit, als die Juden – 2.500 Jahre nach der babylonischen Gefangenschaft – noch immer keinen eigenen Staat hatten. In Pilařs Inszenierung werden sie mit ihrer eigenen Leidensgeschichte konfrontiert.

Todesengel verstärken die beklemmend-poetische Wirkung der Inszenierung © Zdeněk Sokol

Später, wenn Abigaille ihren vermeintlichen Vater vom Thron gestoßen hat und in ihrem mit Gobelins ausgekleideten Palast eine gediegene Cocktail-Party feiert, macht eine italienische Aufschrift über einer Tür klar: Wir befinden uns in Rom in der Zeit des Faschismus, als dort ein größenwahnsinniger Duce, ähnlich wie heute in Moskau, imperialistischen Phantasien nachging (Stichwort: Äthiopien-Feldzug). Und wenn die Juden in Decken gehüllt und angeführt von ihrem Hohepriester Zaccaria mit einem Koffer in der Hand hoffnungsvoll ihrer Vernichtung entgegenschreiten, dann ist der Verweis zum Nationalsozialismus mehr als offensichtlich. All das passiert aber nicht plakativ sondern in einer höchst ästhetischen Weise, die beispielsweise dadurch gekennzeichnet ist, dass Pilař und sein Team gänzlich auf die bekannten Symbole verzichten: Man sieht keine Hakenkreuz-Schleife, keinen faschistischen Gruß, keinen Judenstern. Stattdessen verstärken von Martin Šinták choreografierte Todesengel in braunen Militärhosen und -stiefeln mit schwarzen Flügeln und Pestmasken, die zeitweise an Gasmasken erinnern, die beklemmend-poetische Wirkung. 

Man fragt sich: Warum sieht man derart elegante und zugleich politisch klug gelöste, nicht mit dem Zeigefinger schwingende und dennoch dramaturgisch schlüssig durchdachte Produktionen so selten im deutschsprachigen Raum? Fest steht: Bei ihren Prag-Besuchen vernachlässigen Opern-Insider oftmals die Staatsoper zugunsten des Nationaltheaters, in dem das tschechische Repertoire gepflegt wird, und dem Ständetheater, in dem Mozarts «Don Giovanni» seine Uraufführung hatte. Das kann ein Fehler sein, wie dieser Abend von Weltformat zeigte.


«Nabucco» – Giuseppe Verdi
Národní divadlo (Nationaltheater, Prag) ∙ Státní opera (Staatsoper)

Kritik der „1. Premiere“ am 15. Februar 2024
Termine: 21./27. Februar; 8./15./21./29. März; 24./28. April; 12. Mai; 1./26. Juni; 22. September; 24. November 2024; 30. Januar 2025

Diese Inszenierung wird in dieser Saison auch am Slowakischen Nationaltheater in Bratislava an den folgenden Terminen gezeigt: 11./12. Mai