Chigiana International Festival

Legendäre Talenteschmiede

Die Accademia Musicale Chigiana in Siena ist nicht nur ein Treffpunkt junger Künstler in Meisterklassen. Auch dem Publikum wird einiges geboten

Stephan Burianek • 27. Juli 2023

Für das diesjährige Chigiana-Festival wurde auf dem Piazza del Campo von Siena eine große Bühne errichtet © Roberto Testi

Nicola Sani entschuldigt sich in perfektem Deutsch und mit einer Mischung aus Selbstmitleid und Ironie für die Unterbrechung unseres Gesprächs: „Um alles muss ich mich kümmern, sogar um die Blumen für die Künstler!“ Als Kulturmanager leitete er einst die Opernhäuser in Rom und in Bologna, als Komponist hält er die Lanze der Avantgarde hoch. Sani, der seinen Mitmenschen stets mit einer gewinnenden Herzlichkeit begegnet, bringt als künstlerischer Leiter der Accademia Musicale Chigiana seit bald neun Jahren Politik, Wirtschaft, Universitäten und Künstler in Siena zusammen. 

Ich treffe Sani im schmucken Innenhof des Palazzo Chigi-Saracini, dem Sitz der Accademia Musicale Chigiana, wo ein Café die belebten Straßen der Stadt vergessen macht. Vom Innenhof in den Palazzo führt eine steile Steintreppe, die bereits viele große Musiker hochgegangen sind: Gidon Kremer, Mischa Maisky, Angela Hewitt, Antonio Pappano, Lisa Batiashvili, das Hagen-Quartett und Fabio Biondi sind nur eine kleine, feine Auswahl jener, die nach den Chigiana-Sommerkursen ihre Karriere gestartet haben. Manche davon wurden später mit einem internationalen Musikpreis ausgezeichnet, den die Accademia von 1982 bis 2010 vergeben hat.


Geglückter Neubeginn

„Die ehemaligen Preisträger habe ich damals gleich als erste angerufen“, verrät Sani. Damals, das war im Jahr 2015, als Sani gebeten wurde, der weltweit einzigartigen Accademia eine Zukunft zu ermöglichen, denn diese war mehr als ungewiss: Ihr damaliger Eigentümer, die älteste Bank der Welt, war Pleite gegangen, und die traditionellen Musiker-Sommerkurse waren zwei Jahre lang ausgefallen. Auch das parallel zu den Kursen stattfindende Chigiana-Festival war kurzzeitig Geschichte. Sani dachte das Konzept in Anlehnung an die schweizerischen Akademiefestivals in Verbier und Luzern neu: Künftig sollten die Sommerkurse und das Festival miteinander verbunden werden. Die Musikwoche wurde auf zwei Monate ausgedehnt, und statt teuer eingeflogene Weltstars werden nun die Teilnehmer und die Lehrkräfte der Musikakademie zu Konzerten verpflichtet. 

Tabea Zimmermann, einst Chigiana-Preisträgerin und nun auch Lehrerin an der Accademia, trat im Konzertsaal des Palazzo Chigi-Saracini auf © Roberto Testi

Seither kommt man im Sommer als Siena-Besucher zu fast keinen Eintrittspreisen und oftmals im intimen Rahmen (aber mit empfohlener Reservierung) in den Genuss hochkarätiger Konzerte. Am Tag vor unserem Gespräch beispielsweise, da spielte die Bratschistin Tabea Zimmermann in einem phänomenalen Konzert Werke aus dem 20. Jahrhundert – und rockte trotz der außerordentlichen Sommerhitze mit dem vierten Satz aus Paul Hindemiths erster Bratschensonate („Rasendes Zeitmaß. Wild. Tonschönheit ist Nebensache“) den Neo-Rokoko-Konzertsaal des Palazzos. Es waren freilich auch Werke von Luciano Berio, darunter, seine „Sequenza VI“ und „Naturale“, immerhin steht die diesjährige Ausgabe des Chigiana-Festivals im Zeichen des 20. Todestages dieses bedeutenden italienischen Komponisten, der ebenfalls an der Accademia Chigiana unterrichtet hatte.

Zimmermann ist nicht nur eine der Chigiana-Preisträgerinnen, sie gibt in der Accademia neuerdings auch zwei von 32 Meisterkursen, die jeweils zwischen einer und drei Wochen dauern. Weitere prominente Lehrer sind Salvatore Sciarrino (Komposition) und Lilya Zilberstein (Klavier). Rund vierhundert junge Musiker aus mehr als fünfzig Ländern nehmen das Angebot der Accademia Musicale Chigiana in diesem Jahr wahr. Während unseres Besuchs finden in der Basilica die Servi die Konzerte der Chorleitungsklasse unter Lorenzo Donati statt. Donati ist nicht nur ein langjähriger Chigiana-Haudegen, sondern außerdem Leiter des großartigen „Guido Chigi Saracini“-Chores der Kathedrale von Siena, der 2016 als Partner der Accademia nicht zuletzt zur Unterstützung der Meisterklassen gegründet wurde.


Berühmte Talenteschmiede

Sanis Handy läutet, leider dringend: Natürlich müsse es, tönt er, dem Dirigenten Daniele Gatti irgendwie möglich gemacht werden, mit dem Auto zum abendlichen Konzert auf den Piazza del Campo zu fahren, den muschelförmigen Platz im Zentrum von Siena. „Wir können ihn doch nicht zu Fuß gehen lassen!“ – Im toskanischen Touristenmagneten ist das selbst für die Prominenz keine Selbstverständlichkeit, da kann die eigens für eine TV-Liveübertragung aufgebaute Bühne noch so groß sein. 

Daniele Gatti, hier beim „Konzert für Italien“, hat in Siena sein pädagogisches Talent entdeckt © Roberto Testi

Daniele Gatti unterrichtet an der Accademia Chigiana schon seit 2016 und dirigiert am folgenden Abend erstmals ein großes Konzert in Siena – und zwar das Orchester des Maggio Musicale in Florenz, wo Gatti Chefdirigent an der Oper ist (siehe Infos unten). „Er hat hier sein Talent zum Unterrichten entdeckt, er ist ein phantastischer Professor“, versichert Sani. Zu Gattis Schülern zählten in den vergangenen Jahren beispielsweise Diego Ceretta, der ab der kommenden Saison die Funktion des Chefdirigenten des Orchestra Regionale Toscana (ORT-Orchestra della Toscana) ausüben wird. Cesare della Sciucca und Nicolò Jacopo Suppa sind weitere einstige Chigiana-Teilnehmer, die in Italien gerade Karriere machen. 

Die Dirigenten Tommaso Ussardi e Matteo Parmeggiani haben zudem in Bologna ein eigenes Orchester gegründet: Das Orchestra Senzaspine ist nun das Residenzorchester für den Kurs der Orchesterleitung. „Damit sind wir die einzige unter den vergleichbaren Akademien, die ein großes Orchester für die Studenten zur Verfügung hat“, sagt Sani sichtlich stolz, der auch darauf hinweist, dass Gatti mit seiner Tätigkeit eine lange Tradition fortführt, immerhin seien „die besten Dirigenten“ hier gewesen: Riccardo Chailly, heute Musikdirektor an der Mailänder Scala, lernte bei Franco Ferrara, auch Kirill Petrenko war ein Chigiana-Student.


Opern in Siena

Kooperationen mit anderen Institutionen wie der Kunstakademie Bera in Mailand, der Opern-Akademie in Verona und dem Maggio Musicale in Florenz ermöglichen zudem sechs abendfüllende Musiktheater-Produktionen. Darunter: Im historischen Teatro dei Rozzi führen die Teilnehmer der Gesangsklasse von William Matteuzzi Monteverdis Madrigal «Il combattimento di Tancredi e Clorinda» und Donizettis Farse »Il campanello di note» auf, Regie führt Cesare Scarton (29. Juli). Zwei Abende lang stellen Gattis Kursteilnehmer ihr Können im Rahmen einer „Trilogia Verdiana“ unter Beweis – gespielt wird im Teatro die Rinnovati (im ikonischen Rathaus gelegen) jeweils ein Akt aus den Verdi-Opern «La traviata» und «Rigoletto» sowie eine Szene aus «Falstaff», inszeniert von Lorenzo Mariani (31. Juli; 1. August). 

Als Koproduktion mit der Salzburger Universität Mozarteum wird nicht nur «Dido und Aeneas» gezeigt, sondern darüber hinaus ein neues Werk, das an Purcells Oper anschließt: Bei «Elissa» handelt es sich um eine neue Komposition für alte Instrumente von Henry Fourès. Das passt wiederum gut zu einer von Simone Fontanelli geleiteten neuen Meisterklasse, in der sich ebenfalls alles um die Komposition für alte Instrumente dreht.


Spannende Orte

Die Konzerte, die von Barock über die Romantik zu Zeitgenössischem so ziemlich alles abdecken, finden nicht nur an unterschiedlichen Orten in Siena, sondern auch außerhalb statt. Eine besondere Veranstaltung wird sicherlich das Symphoniekonzert des Orchestra Senzaspine in der Klosterruine von San Galgano (jeweils die 3. Symphonie von Schubert und Brahms, 9. August), aber auch die Chianti-Classico-Konzerte auf diversen Weingütern versprühen einen eigenen Reiz.

Der Palazzo Chigi-Saracini ist nicht nur der Sitz der Accademia Chigiana, sondern auch ein einzigartiges Museum © Stephan Burianek

Wer in Siena ist, der sollte außerdem eine Führung durch den Palazzo Chigi-Saracini buchen, denn bei einem Rundgang durch die altehrwürdigen Repräsentationsräume atmet die Geschichte auf jedem Tritt: Der bronzene Abguss einer Komponistenhand (Alfredo Casella) da, eine Originalpartitur (Ottorino Respighi) dort, und eine kleine aber feine Musikinstrumentensammlung gibt es auch. Nur die unzähligen Fotos historischer Musikprominenz im Kabinett neben dem Konzertsaal sind verschwunden – sie werden aktuell digitalisiert.

Außerhalb des Sommers produziert die Accademia Musicale Chigiana neben sporadischen Saisonkonzerten unter dem Titel „Micat in Vertice“ weitere Programminseln, etwa Orgelkonzerte im Oktober und im November und ein Frühlingsfestival im Juni. Bei letzterem füllen internationale Studenten, die sich die Kurse an ihren Unis für ihr Musikstudium anrechnen können, das Programm. Ebenso wie die Profis in den Meisterklassen dürfen sich diese mitunter an den historischen Musikinstrumenten aus der Chigiana-Sammlung versuchen, die neben dem nicht mehr spielbaren, weltweit ältesten Cembalo ein sehr wohl noch wohlklingendes Stradivari-Cello beinhaltet – für touristische Besucher ist dieses Instrument in einer Glasvitrine des Museums freilich ein Tabu. 

Wer das Chigiana-Festival im kommenden Sommer besuchen möchte, der braucht bei der Planung indes ein wenig Geduld, denn das Programm steht – und das ist wohl der einzige Wermutstropfen – in der Regel erst ungefähr ein Monat vor dessen Beginn (Anfang Juli) fest.


Das Chigiana International Festival 2023 läuft bis zum 2. September // www.chigiana.org 


Weitere Infos

Daniele Gatti dirigierte am 19. Juli gemeinsam mit dem florentinischen Orchestra Maggio Musicale und der Chigiana-Pianistin Lilya Zilberstein ein „Konzert für Italien“, das vom öffentlich-rechtlichen Fernsehsender RAI live gesendet wurde und bis 31. Dezember 2023 auf der RAI-Internetseite kostenlos als Stream zur Verfügung steht.

Der Palazzo Chigi-Saracini ist ein einzigartiges Museum mit kostbaren Kunstwerken und Memorabilia. Täglich finden einstündige Führungen auf Italienisch und Englisch statt. Reservierungen sind erforderlich (Info: visite@chigiana.it).

Seit 1939 veröffentlicht die Accademia Musicale Chigiana wissenschaftliche Aufsätze in ihrem Journal of Musicological Studies. Die aktuelle Ausgabe basiert auf den Vorträgen eines Internationalen Symposions im Dezember 2021 zum Thema „Musik und Macht im langen 19. Jahrhundert“ (Nr. 52, 2022, italienisch und englisch). // www.journal.chigiana.org


 


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