Baltic Opera Festival

Segel setzen!

Das Baltic Opera Festival unter der künstlerischen Leitung von Bass-Bariton Tomasz Konieczny lässt mit seinem ersten Programm aufhorchen

Susanne Dressler • 20. Juli 2023

4000 Zuschauerinnen und Zuschauer haben in der Waldoper bei Danzig Platz © Krzysztof Mystkowski

Es geht eine gemütlich ansteigende Straße bergauf, schattenspendende Bäume schützen vor der Juli-Hitze. Opera Lesná, die Waldoper in Sopot bei Danzig, liegt tief versteckt im Gehölz. Circa 4000 Sitzplätze bilden die Arena eines Amphitheaters, über das sich ein schützendes Dach wölbt, das einerseits an eine Welle der Ostsee erinnert, andererseits einem Ufo nicht unähnlich scheint. Mit dem Sommer 2023 ist das Festivalfieber in Sopot ausgebrochen, denn das Baltic Opera Festival ist am zweiten Juli-Wochenende über die Bühne gegangen. Der international renommierte Wagnersänger Tomasz Konieczny hat der in Polen sehr bekannten Opera Lesná mit dem neu gegründeten Festival wieder Leben eingehaucht. Rund um die 1909 gegründete Waldoper gibt es reichlich Stoff für Erzählungen. Gespielt wurde hier stets mit Leidenschaft vor bis zu 8000 Besucherinnen und Besuchern, zunächst meist romantische Opern.

Die attraktive Location zog Starsängerinnen wie Lotte Lehmann und berühmte Dirigenten wie Erich Kleiber oder Herbert Knappertsbusch an. Ab 1922 konzentrierte man sich auf die Aufführung von Richard-Wagner-Opern, und rasch wurde über das „Bayreuth des Nordens“ gesprochen. Künstlerinnen, Künstler und ein gut betuchtes Publikum ließen sich im Badeort Sopot in den Sommermonaten nieder. Der auch „San Remo des Nordens“ genannte Ort erfreute sich bereits seit Mitte des 19. Jahrhunderts großer Beliebtheit, insbesondere nachdem der elsässische Arzt Johann Georg Haffner ein Kursanatorium eröffnete. Die große weite Welt genoss entspannte Stunden im angenehmen Klima am Strand der Ostsee oder in einer der im typischen Bäderarchitektur des Nordens errichteten Villen und erfreuten sich abends über die Darbietungen auf der Bühne vor der malerischen Naturkulisse. 


Lange Schatten

Mit dem Regime der Nationalsozialisten verlor sich die Leichtigkeit des Seins auch für die Waldoper in Sopot. Eine andere Klientel besuchte die Vorstellungen, andere Künstlerinnen und Künstler agierten auf der Bühne, die Opera Lesná entwickelte sich zu einer der wichtigsten Spielstätten des Dritten Reiches. Diese Vereinnahmung der Naturbühne durch die Nazis schwebt auch heute als dunkler Schatten über der großartigen Location, die in den 1960er-Jahren umfangreich restauriert und für große Pop- und Jazzkonzerte sowie für TV-Übertragungen genutzt wurde. Mit der Neugründung des Festivals sollen nun die braunen Geister der Vergangenheit vertrieben werden.

Genau deshalb hat sich Tomasz Konieczny auch zum Auftakt seines Festivals für eine Aufführung von «Der fliegende Holländer» entschieden. Wagner-Opern sind in Polen nicht gerade ein Kassenschlager. Der polnische Starbariton will sich nicht nur der historischen Vergangenheit stellen, sondern seinen Landleuten auch die Musik des deutschen Komponisten näherbringen. Tomasz Konieczny hat eine Vision: „Wo immer ich einen Liederabend singe, stehen immer Werke von polnischen Komponisten auf dem Programm. Bin ich in Polen, werden Sie stets ein Stück eines Deutschen finden.“ Wie so oft gibt es auch praktische Gründe: Die Oper überzeugt im Gegensatz zu anderen Werken aus dem Wagner-Repertoire eindeutig mit einer Länge von zweieinhalb Stunden für die Open-Air-Aufführung.
 

Open-Air Deluxe

Andrzej Dobber gibt einen verlässlichen Holländer  © Krzysztof Mystkowski

Erst spät an diesem Sommerabend säuseln kühle Winde über das Publikum, während der «Holländer» als Untoter über die Bühne geistert und wieder einmal – das siebente Jahr ist angebrochen – an Land geht und sich eine Braut sucht. Eine, die ihm wahrhaftig treu ist, sodass er endlich erlöst werde. Er findet in Senta ein Opfer, denn deren Vater Daland gibt die Tochter leichten Herzens an einen seltsam anmutenden Fremden – das versprochene Gold überzeugt ihn. Schlecht für Erik, der Senta schon lange umwirbt, aber selbstverständlich keine Chance hat. Der „Bad Boy“ ist attraktiver, auch wenn er nichts erzählt, woher kommt, wohin er geht und was er überhaupt will. Sieben Jahre später ist er enttäuscht: Ist Senta etwa untreu geworden? Was bleibt dieser übrig, als sie von der Not ihres Mannes erfährt: Da nimmt sie sich doch lieber das Leben als ihn leiden zu sehen. Soweit so gut. Mit einem kräftigen Ruck wird das weiße Segel auf der Bühne zur Seite gerissen. Vier riesige Kulissenteile, die an stilisierte Bäume erinnern, werden für die verschiedenen Szenen über die Bühne geschoben. Ein Vorhang war übrigens immer auf der Open-Air-Bühne konzipiert. In früheren Zeiten flochten fleißige Frauenhände aus Blättern für die Zeit vor dem Vorstellungsbeginn einen Sichtschutz.

Zurück in die Gegenwart: In einem überdimensionalen Badezuber rollen die Seeleute mit Daland heran. Im Hintergrund ist der echte Wald zu sehen – geheimnisvoll werfen die Blätter unter einer geschickten Beleuchtung Schatten und wiegen sich sanft im leisen Wind. Die Szenerie verändert sich nur geringfügig. Senta darf einen Bollerwagen mit kleinen Püppchen statt Spindeln spazieren führen, und später schleppt sie eine lebensgroße Puppe des Holländers hinter sich her. Apropos Senta: Ricarda Merbeth lässt an Dramatik und Stimmvolumen an nichts fehlen. Glaubhaft ist die verhängnisvolle Verblendung, die sie für Liebe zum Holländer hält. Franz Hawlata singt einen soliden Daland und Stefan Vinke überzeugt als Erik.

Ein Vögelchen zwitscherte zunächst, dass Tomasz Konieczny die Partie des Holländers übernehmen könnte, sang er doch die Generalprobe. Doch dann ließ er davon ab, denn auch Bayreuth will in den nächsten Tagen mit einem straffen Programm bewältigt werden. Sein Landsmann Andrzej Dobber ist ein verlässlicher Holländer, der insbesondere mit Merbeth gemeinsam einige sehr ergreifende Szenen zeigte. Das lag allerdings sicherlich auch an dem noblen und fein ziselierten Dirigat des 84-jährigen Marek Janowski. Er, der bisher aus dem Graben heraus noch keinen «Holländer» dirigierte, hatte das Festspielorchester fest im Griff und wurde – wie alle Protagonisten – am Ende des Abends von den mehr als 3000 Besucherinnen und Besuchern bejubelt.


Und Spaß darf sein

Tomasz Konieczny wollte einen polnischen Komponisten im Festival zeigen: Karol Szymanowskys «Lotterie für Ehemänner oder Verlobter Nummer 69» © Krzysztof Mystkowski

Der Eröffnungsabend des Festivals widmete sich einer beinahe vergessenen Operette des polnischen Komponisten Karol Szymanowsky: «Lotterie für Ehemänner oder Verlobter Nummer 69». Auch das gehört zum Konzept von Tomasz Konieczny. Unbedingt soll bei seinem Festival auch ein Werk eines polnischen Komponisten präsentiert werden. Und das ist gut so. Die Handlung der flotten Operette ist ziemlich nebensächlich, weil man spätestens nach einer Stunde vergessen hat, um was es eigentlich gehen soll. Grundtenor: Es gibt zu wenige Männer für zu viele heiratswütige Frauen. Also überredet ein geschickter Geschäftsmann die Damenwelt zum Kauf von Losen, um auf diese Weise einen zukünftigen Ehemann an Land zu ziehen. Die ins Ohr gehenden Operettenmelodien schwappen flott durch die Opera Baltyka in Danzig und verbreiten gute Laune. Das liegt auch an den spielfreudigen und sehr guten jungen Sängerinnen und Sängern und an der sehr einfalls- und finessenreichen Regie, die keinen Spaß auslässt, aber niemals banal wird. Ein vergnüglicher Abend, der einem weiteren Wunsch des künstlerischen Festivalleiters gerecht wird: Junge Talente sollen im Rahmen des Baltic Opera Festivals gefördert werden.


Eine Perle im Norden

Wer neugierig auf neue Festival-Locations geworden ist, wird beim Baltic Opera Festival fündig. Für Konieczny war es bei der Namensfindung wichtig, dass die „Ostsee“ darin ihren Platz findet. Er möchte bei der Gestaltung und Programmierung alle Länder einbeziehen, die an diesem Meer liegen und knüpft schon fleißig Kontakte. Erfreuliche Zukunftsperspektiven und viel Raum für Kurz- oder Langurlaube in einer sehr interessanten Region. Die zu 95 Prozent von der russischen Armee zerstörte Hafenstadt Danzig ist wie ein Phönix aus der Asche neu entstanden. Spaziert man durch die Straßen mit den prächtigen Gebäuden und zahlreichen Kirchen, scheint es kaum vorstellbar, dass diese pastellfarbenen Häuser mit ihren eleganten Verzierungen, das grüne und goldene Tor, die Marienkirche wieder aufgebaut sind. Liebevoll ausgestattete Cafés und Lokale sowie Gastgärten machen das Leben hier bunt und einladend. Das Festival im nächsten Jahr wird ein Werk von Giacomo Puccini in der Waldoper präsentieren, auf den Rest des Programms darf man ehrlich gespannt sein. Die Eleganz und das quirlige Leben der Hafenstadt erleben, entspannt im Meer baden und abends Kunst genießen – man sollte sich Sopot für den kommenden Sommer bereits jetzt im Kalender vormerken, denn was will man mehr?


«Der fliegende Holländer» – Richard Wagner
«Lotterie für Ehemänner oder Verlobter Nummer 69» – Karol Szymanowsky 
Baltic Opera Festival ∙ Baltische Oper / Waldoper Sopot

Kritik der Vorstellungen am 14. und 17. Juli 2023