Maifestspiele Wiesbaden

Party mit Tränen

Anna Netrebko gab am 5. Mai ihr Debüt als Abigaille in «Nabucco», das von einer Demonstration gegen die Sängerin begleitet wurde. Ein ukrainischer Opernliebhaber schildert seine – ganz subjektiven – Eindrücke

Boris Pekarski • 08. Mai 2023

Die Demonstranten warnten vor einem allzu starken Einfluss der russischen Kultur © Boris Pekarski

Es gibt schon witzige Zufälle: Ob sie auch zur Demonstration fahre, frage ich eine Frau im Bus auf der kurzen Strecke vom Wiesbadener Hauptbahnhof zum Staatstheater. Dass sich ihre Miene verfinstert, überrascht mich nicht, denn bei der Dame handelt es sich um die russischsprachige Buchautorin Alesia Shapovalova. Sie ist die Gattin des Dirigenten Michael Güttler, der abends eine konzertante Vorstellung von Giuseppe Verdis Oper «Nabucco» dirigieren wird. Die Güttlers mögen mich nicht besonders, weil ich mich nun seit mehr als einem Jahr gegen russische Künstler und Künstlerinnen äußere, die eine Nähe zum System Putin aufweisen oder aufgewiesen haben. Als gebürtiger Ukrainer, der seit mehr als zwanzig Jahren die deutsche Staatsbürgerschaft besitzt, verstehe ich nicht, weshalb solche Personen nach wie vor auf deutschen Opernbühnen auftreten.

Zahlreiche Ukrainer beäugen das Ehepaar skeptisch: Alesia Shapovalova begrüßte, um nur ein Beispiel zu nennen, 2014 Russlands Annexion der ukrainischen Halbinsel Krim in einem euphorisch formulierten Facebook-Kommentar. Die diesbezüglichen Screenshots bezeichnete Güttler kürzlich – in einem Kommentar in einem Facebook-Thread des Wiesbadener Kuriers, der offenbar von ihm selbst zwischenzeitlich gelöscht wurde – als „Fake“, aber ich kenne mehrere Personen, die bezeugen können, dass dieser Kommentar tatsächlich auf Shapovalovas Facebook-Seite zu lesen war, ebenso wie mehrere weitere heikle Kommentare zwischenzeitlich nicht mehr öffentlich verfügbar sind.

Der seinerzeit in der DDR geborene Michael Güttler wiederum war ab 2003 der Gastdirigent des Mariinsky-Theaters in Sankt Petersburg unter der Intendanz von Valery Gergiev (Güttlers englischsprachige Biografie auf der Mariinsky-Homepage wies ihn zumindest bis zum 25. Mai 2023 noch als regelmäßigen Gastdirigenten aus 1 ). Er sprang auch einmal an der Wiener Staatsoper ein, als Gergiev seinen dichten Zeitplan mal wieder nicht einhalten konnte. 

Michael Güttler, der in der kommenden Saison einige große Wiesbadener Produktionen dirigieren wird, soll Ambitionen auf den Posten des Generalmusikdirektors hegen. In einem Gespräch mit Volker Milch vom Wiesbadener Kurier bekräftigte der Dirigent kürzlich, in Russland derzeit aufgrund des „sinnlosen Kriegs“ nicht auftreten zu können bzw. zu wollen 2. Das ist natürlich ebenso zu begrüßen wie die Versicherung des Ehepaars Güttler, sich um ukrainische Flüchtlinge, darunter auch Kinder, zu kümmern. Als Ukrainer fragt man sich aber unweigerlich, wie das mit Shapovalovas kürzlich getroffener Aussage, wonach ihr die Verbreitung der russischen Kultur nach wie vor ein großes Anliegen ist, zu vereinbaren ist.


Ergreifende Demo

Eine Stimmung zwischen Volksfest und Trauer (für weitere Bilder in der PC-Ansicht auf das Foto klicken) © Boris Pekarski

Wie auch immer: Frau Shapovalova war auf der Demonstration, zu der die Initiative Europa-Union in Hessen aufgerufen hatte, natürlich nicht zu sehen. Die Versammlung galt vor allem Anna Netrebko, mit der das Ehepaar Güttler seit Jahren gut befreundet ist. Netrebko hat in der Vergangenheit mit ihrer jahrelangen Pro-Putin-Haltung einen Mindset propagiert, ohne den es nie zu Russlands zerstörerischen Angriffskrieg gegen die Ukraine gekommen wäre. Leider deutet nichts darauf hin, dass sie ihre Haltung ehrlich bereut, sondern sendet ganz im Gegenteil über ihr Instagram-Account in gelegentlichen Abständen klare Signale an den putinfreundlichen Teil ihrer Gefolgschaft (darunter beispielsweise ein Foto mit russischer Schärpe und Victory-Zeichen im Oktober 2022 oder ihre Aussage, das Jahr 2022 sei „ein gutes Jahr“ gewesen 3 ). In den deutschen Medien wird das zumeist ignoriert, vielleicht weil man der Diva jahrelang zugejubelt und sich dadurch selbst bis zu einem gewissen Grad schuldig gemacht hat. Dass Netrebko von radikalen Kräften in Russland für ihren Schlingerkurs derzeit geächtet wird, macht sie nicht zum Opfer, sondern zeigt lediglich, in wessen Dienst sie sich lange Zeit bereitwillig gestellt hat. Unabhängig davon sind Putins Glückwünsche zum 50. Geburtstag der Diva nach wie vor auf der Kreml-Homepage abrufbar – wäre sie dort in Ungnade gefallen, wäre dieser Eintrag längst gelöscht worden. 4

Die Stimmung auf der Demonstration, die auf dem Bowling Green vor den Kolonaden des Staatstheaters stattfand, war jedenfalls einmalig: Laut Polizei waren es rund 450 Teilnehmer, die teils folkloristisch gekleidet gekommen waren, viele mit Transparenten in den Händen, fast alle mit den ukrainischen Nationalfarben Blau und Gelb am Körper oder auf Fahnen. Das Gemeinschaftsgefühl beglückte, aber es wurden auch viele Tränen vergossen – die Bilder der russischen Gräueltaten wurden auf Plakaten in Erinnerung gerufen und dem eintreffenden Publikum später aus sicherer Distanz vor die Augen gehalten. Nicht wenige Teilnehmer hatten selbst persönliche Verluste zu beklagen, aber auch Deutsche kamen, entweder als Demonstranten oder als interessierte Beobachter.

Ein starkes und mutiges Zeichen kam von rund zwanzig Musikern des Hessischen Staatsorchesters, die sich vor der Vorstellung trotz vereinzelter Regentropfen, ihre Instrumente durch Helfer mit Schirmen geschützt, zu den Demonstranten gesellten und zunächst die Europahymne und dann aufs Schönste zweimal die ukrainische Nationalhymne spielten. Dem Intendanten des Staatstheaters, Uwe Eric Laufenberg, habe diese Aktion gar nicht gefallen, würde Ludger Fittkau in Deutschlandfunk Kultur später berichten.

Einige Orchestermusiker zeigten Haltung und gesellten sich zu den Demonstranten (für weitere Bilder in der PC-Ansicht auf das Foto klicken) © Boris Pekarski

Laufenberg ließ sich vor der Vorstellung unter den Kolonnaden sehen und dort in Interviews wissen, dass er keinerlei Verständnis für den Protest habe: „An der Frau Netrebko lassen sie sich ganz sicher an der falschen Person aus“, da es angeblich keinen Grund gäbe, den man ihr nachweisen könne 5 – was in Anbetracht der zahlreich dokumentierten Äußerungen und Handlungen der Sängerin fast schon skurril anmutet.

Fairerweise muss man erwähnen, dass Laufenberg die bei Putin-freundlichen Kräften verhasste Aktivistin Victoria Fischer, die zunächst trotz einer gültigen Eintrittskarte nicht ins Haus gelassen worden war, letztlich persönlich begrüßte, sich mit ihr fotografieren ließ und ihr nach der Pause Einlass gewährte.


Leicht erhältliche Eintrittskarten

Frau Fischer hatte ihre Karte übrigens erst wenige Tage vor der Vorstellung ganz regulär über die Homepage des Staatstheaters erworben. Das mag verwundern, denn laut offiziellen Angaben des Staatstheaters Wiesbaden sollen beide Vorstellungen innerhalb von 24 Stunden ausverkauft gewesen sein. Offenbar änderten in den Wochen darauf aber viele Opernliebhaber ihre Meinung – anders ist nicht zu erklären, dass in den Tagen und Wochen vor den Aufführungen nahezu permanent Karten im regulären Verkauf erhältlich waren. Auch am Tag nach der ersten Vorstellung würden, zum Zeitpunkt des Verfassens dieses Artikels, über die Homepage des Staatstheaters Karten für die Folgevorstellung am 7. Mai erhältlich sein. Ich habe meine Karte am 25. April gekauft, sie kostete 122 Euro.

Die Aufführung war schlechter als ich es erwartet hatte. Der Kritiker Manuel Brug würde später in einem Facebook-Kommentar schreiben: „Anna Netrebko ist mehr Abigaille, als sie dachte: verwöhnte, böse, machtgierige Prinzessin-Göre, die bekommt, was sie will (...) mit (...) vielen wackeligen Noten, vulgärer Geschmack“.6 Tatsächlich klang sie in der Höhe gut, auch wenn sie die Spitzentöne immer nur sehr kurz traf. In der tieferen Tessitura fand ich ihre Stimme allerdings unerwartet unangenehm. Auch schien sie die Partie nicht sehr gut einstudiert zu haben, denn in dem Oktett gegen Ende des ersten Akts schritt sie kurzerhand zur Seite und schnappte sich einen Notenständer – bei einer Gage von angeblich 100.000 Euro schon sehr peinlich. Güttler wiederum dirigierte gehetzt und wahnsinnig laut, ganz so, als ob er sichergehen wollte, dass kein Laut der Demonstranten ins Innere gelangen könne. Vielleicht war ich an diesem Abend besonders kritisch, jedenfalls machte die Besetzung auf mich generell keinen sonderlich guten Eindruck.

Die Polizei schirmte die Opernbesucher von den Demonstranten ab (für weitere Bilder in der PC-Ansicht auf das Foto klicken) © Boris Pekarski

Eigentlich buhe ich nach einer Opernvorstellung nicht, aber diesmal konnte ich nicht anders. Offenbar zweifelten auch Teile aus dem regulären Publikum an der Qualität der Aufführung, denn es äußerten sich am Ende nicht nur die wenigen im Zuschauersaal anwesenden ukrainischen Aktivisten negativ – in die „Bravos“ mischten sich mehrere „Buhs“ (auch wenn manche Opernkritiker die Missfallsbekundungen in ihren Berichten elegant übergingen). Beim Verlassen des Theaters gegen 22:30 Uhr hatten noch rund hundert Demonstranten ausgeharrt und dem Publikum laute „No Netrebko“- und „Schande“-Rufe mit auf den Weg gegeben. 

Mir ist wichtig darauf hinzuweisen, dass Netrebko zwar die bekannteste russische Sängerin mit Verbindungen zum Kreml ist, aber bei weitem nicht die aktivste oder radikalste. Die Liste von russischen Künstlern, die im Westen auftreten und Putins Entscheidungen bis heute aktiv unterstützen, ist lang. Nicht nur für ukrainische Künstler ist es schwer, mit solchen Menschen die Bühne zu teilen. Auch Künstler beispielsweise aus dem Baltikum oder Polen, die der russischen Sprache mächtig sind, wähnen sich regelmäßig im falschen Film, wenn sie in diversen Foren und Telegram-Kanälen mit dem Westen feindlich gesinnten Äußerungen mancher russischer Künstler konfrontiert werden. Aus Wien berichten ukrainische Landsleute von einem Sänger, der mit einer Russland-Fahne bei einer Pro-Putin-Demo mitspaziert ist. Es ist kaum vorstellbar, dass Intendanten von solchen Fällen nichts mitbekommen. Sie sollten sich dieser Problematik stellen.


Boris Pekarski wurde in Kyjiw in der Ukraine geboren und lebt seit über 30 Jahren in Stuttgart. Der seit Kindheitstagen begeisterte Musiktheater-Besucher arbeitet hauptberuflich als Architekt.

Aufgezeichnet von Stephan Burianek, veröffentlicht nach Autorisierung des Autors

Dieser Artikel wurde am 5. Juni 2023 und am 12. Dezember 2023 redaktionell verändert.

 

Verweise
 

2 Siehe „Dirigent Güttler gegen ‚Krieg in der Sphäre der Kultur‘“, Wiesbadener Kurier, 28. Februar 2023 (Paywall)

3 Anna Netrebkos Instagram-Post vom 30.10.2022 und Instagram-Post vom 27.12.2022 

4 Putins Glückwünsche zum 50. Geburtstag von Anna Netrebko vom 18.09.2021 sind nach wie vor online unter http://en.kremlin.ru/events/president/news/66716 

5 „Protest gegen Netrebko-Auftritt in Wiesbaden“, Deutschlandfunk Kultur, 06.05.2023

6 Facebook-Post von Manuel Brug


 

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