Putins Propagandakünstler

Im Dienste des Bösen

Wer Anna Netrebko kritisiert, der muss erst recht den nicht minder gefeierten Bass Ildar Abdrazakov unter die Lupe nehmen. Für die Direktoren der führenden Opernhäuser in Europa ist es an der Zeit, endlich zu handeln

Stephan Burianek • 22. Februar 2023

Ildar Abdrazakov, hier auf einem Bild aus dem Jahr 2018, hat enge Verbindungen zum Kreml © Gil Zetbase, CC BY-SA 4.0

Wie die große, 2019 betagt verstorbene österreichische Kammersängerin Hilde Zadek wohl die aktuelle Situation einschätzen würde: Ein Sänger müsse ein globales Wissen haben, das weit über das eigentliche Fach hinausgehe und neben einem allgemeinen Verständnis für Kunst und einer Menschenkenntnis auch die Politik inkludiere, sagte sie in einem Ö1-Interview im Jahr 2011, das kürzlich erneut ausgestrahlt wurde. Ein Sänger müsse durch ein intensives Studium der Menschheitsthemen „zu einem wirklichen Menschen“ werden und nicht „bloß zu einem Sänger“, sonst sei er einer Verkörperung der jeweiligen Partie nicht gewachsen.1 Das leuchtet ein, immerhin wenden sich die gängigen Opern vorrangig gegen den Missbrauch von Macht und setzen sich für die persönliche Freiheit des Individuums ein – sowie für eine friedliche Koexistenz der Nationen und gegen kriegerischen Größenwahn. Diese Ideale sollte ein Künstler in unserer Gesellschaft mittragen.

Mit dem Angriff von Putin-Russland auf die gesamte Ukraine vor einem Jahr wurde die Frage virulent, inwieweit sich vor allem russische Künstler und Künstlerinnen öffentlich gegen diesen imperialistischen Akt der Aggression positionieren sollten. Auf den ersten Blick liegt die Antwort auf der Hand: Gar nicht, denn die Gefahr, in der regimekritische Personen schweben, dürfe keinem Künstler zugemutet werden. Zugleich sollte klar sein: Wenn ein Künstler menschenverachtende Positionen vertritt, dann ist darauf zu reagieren, schließlich geht es im aktuellen Fall nicht um Russland oder das russische Volk, sondern um ein genozidales Regime, das bereits seit vielen Jahren Oppositionelle und sonstige Minderheiten sowie unabhängige Journalisten verfolgt und tötet – und dem Westen mittlerweile offen feindlich gegenübersteht. Weder geht es hier um die Meinungsfreiheit noch um eine politische Richtung, sondern um nichts weniger als um die Verteidigung unserer bürgerlich-liberalen Gesellschaft, die Aufrechterhaltung einer rechtsbasierten internationalen Ordnung und um demokratische Grundprinzipien, die trotz aller Schwierigkeiten hoffentlich noch von der Mehrheit der Menschen in Europa mitgetragen werden.

Laut ist es in dieser Frage seit je her um Anna Netrebko, die den Krieg zwar über diverse Sprecher, aber mit teilweise relativierenden Wortlauten verurteilen ließ (siehe dazu auch den vielbeachteten Kommentar von Martin Kienzl). Zugleich postet die Sopranistin in ihrem öffentlichen Instagram-Profil in regelmäßigen Abständen fast schon trotzig wirkende Selfies mit national-russischen Symbolen und bezeichnete das vergangene Jahr ebendort als „besser als das Jahr zuvor“.2 Nur Zufälle? Wohl kaum. Befragen lässt sie sich zu diesem Thema nicht – eine diesbezügliche Interviewanfrage von opern.news wurde abgelehnt.

Wenn Uwe Eric Laufenberg, der die Netrebko in Wiesbaden bekanntlich für die kommenden Maifestspiele engagiert hat, seinen Kritikern eine „Moralhysterie“ vorwirft, dann klingt das wie das Argument einer Person, die keine nennenswerte Argumente vorzuweisen hat. Gut möglich, dass Laufenberg, der bereits in der Coronazeit lauthals gegen die Einschätzungen von führenden Virologen geschwommen ist, in dieser Causa nun ebenfalls einfach nur auffallen möchte.

Die Fokussierung auf Anna Netrebko lenkt von weiteren, ähnlich gelagerten Fällen ab. Es ist nicht fair, die russische Wahlwienerin zu kritisieren und andere Problemfälle einfach laufen zu lassen. Etwa Ildar Abdrazakov: Der in seiner Hochblüte stehende Bass ist nicht nur Exklusivkünstler der Deutschen Grammophon, sondern überdies ein beliebter Gast auf Putins Propagandaveranstaltungen. Etwa im Mai 2022, als er auf dem St. Petersburger Palastplatz bei einem kitschig-verklärenden Friede-Freude-Eierkuchen-Konzert mehrere Arien sang – wie übrigens auch der italienische Sänger Vittorio Grigolo – und sich abseits der Bühne sichtlich vergnügt auf Instagram-Fotos ablichten ließ. Damals waren die Massaker von Butscha und Irpin bereits bekannt. Nur fünf Tage zuvor hatte er auf einer nicht weniger riesigen Bühne auf dem Roten Platz in Moskau gesungen, auf einer Festveranstaltung vor dem Taktstock von Valery Gergiev, bei der auch der ehemalige KGB-Agent Wladimir Michailowitsch Gundjajew sprach, heute besser bekannt als kriegstreiberischer Patriarch Kyrill. Der Pianist Denis Matsuev spielte ebenfalls auf dieser Veranstaltung, bei der auffallend viele Zuschauerplätze frei blieben.3 Im September 2022 trat Abdrazakov im Rahmen des Östlichen Wirtschaftsforums in Wladiwostok auf, ebenfalls gemeinsam mit Gergiev. Bei dieser Veranstaltung begrüßte Putin die Kriegshandlungen als Reinigung von „schädlichen“ Elementen innerhalb Russlands.4

Bei den Salzburger Festspielen trat Abdrazakov zuletzt im Jahr 2018 auf, in Rossinis «L’italiana in Algeri» an der Seite von Cecilia Bartoli, der nunmehrigen Direktorin der Opéra de Monte-Carlo, wo Abdrazakov im April dieses Jahres wieder singen wird © Ruth Walz / Salzburger Festspiele

Als wäre diese Optik nicht schon verheerend genug, orten russische Quellen Abdrazakov in einem engen Kreis um Russlands Verteidigungsminister Sergei Schoigu, was auch ein Video zu belegen scheint, das ihn jovial mit dem Verteidigungsminister und anderen Künstlern, wie der „Volkskünstlerin“ und Sopranistin Hibla Gerzmava, tanzend und singend bei einer ausgelassenen Neujahrsfeier zeigt (wiewohl nicht gesichert ist, aus welchem Jahr dieses Video stammt).5

Zu diesem Gerücht passt es gut, dass Abdrazakov nicht, wie ursprünglich geplant, am 29. Dezember 2022 an der Mailänder Scala den Boris Godunow in Mussorgskis gleichnamiger Oper sang, sondern stattdessen bei einer Gala im Irina-Viner-Usmanova-Gymnastikpalast in Moskau bei einer Festveranstaltung auftrat, die seinen Namen im Titel trug. Irina Winer-Usmanova ist Mitglied im Obersten Rates der Putin-Partei „Einiges Russland“. Zum Zeitpunkt des Konzerts heulten in der gesamten Ukraine wegen russischen Raketenangriffen die Sirenen.

Die Nähe Abdrazakovs zur russischen Führung ist offenkundig und wenig verwunderlich, immerhin wird das alljährliche „Ildar Abdrazakov International Festival“, bei dem junge Talente gefördert werden sollen, von der russischen Kulturförderung mitfinanziert. Putin richtete eine Grußadresse an das Festival. Bekanntlich wird die Kunst in Russland, ebenso wie der Sport, als Propagandamittel missbraucht. Am Erscheinungstag dieses Artikels gibt Abdrazakov ein Konzert in Sotschi, im Rahmen eines Festivals, auf dem auch Teodor Currentzis dirigiert und mit dem gleichsam der Jahrestag des Angriffs auf die gesamte Ukraine „gefeiert“ wird. (Hinweis vom 24.02.2023: In einer früheren Version war zu lesen, dass Abdrazakov und Currentzis in demselben Konzert in Erscheinung treten, das war falsch.)


München und Mailand sind jetzt gefragt

Natürlich könnte man jetzt einwenden: Was soll Abdrazakov denn machen? Sich gegen Putin auszusprechen würde seine Gesundheit und jene seiner Nahestehenden womöglich gefährden. Was uns das allerdings zeigt: Ildar Abdrazakov braucht den Westen nicht. Aber braucht der Westen Künstler wie Ildar Abdrazakov? Wir kennen die Gespräche nicht, die Abdrazakov mit den Verantwortlichen der Mailänder Scala oder der Bayerischen Staatsoper, wo Abdrazakov in dieser Saison trotz allem immer noch auftreten soll, geführt hat. Vielleicht hat er sich in vertraulichen Vieraugengesprächen glaubhaft von den Völker- und Menschenrechtsverletzungen distanziert. Klar ist aber, dass jeder Künstler, der im Westen auftritt und in Russland Propaganda betreibt, das Regime ein Stück weit legitimiert. 

Auch wenn ein Vergleich mit dem Nationalsozialismus immer heikel ist, so liegen gewisse Parallelen zum „putinistischen“ System auf der Hand: die Kinderverschleppungen, die oben erwähnten Massaker, der im Westen weitgehend unbemerkte, von stetigen Aufrufen zur Eskalation begleitete Hass in den monopolistischen Propagandamedien – all das ist die Spitze eines Eisbergs, der vielleicht erst in einigen Jahren besser sichtbar werden wird. Wir sprechen nicht von einem Phänomen, das in absehbarer Zeit beendet sein wird und das es lediglich durchzutauchen gilt. Wir sprechen von Akten der Barbarei, die zu nachhaltigen Verhärtungen in den internationalen Beziehungen geführt haben und deren Auflösung im besten Fall Jahre dauern wird, ob man das nun wahrhaben möchte oder nicht. Engagements von Mitläufern, Nutznießern und Unterstützern aus der ersten Reihe sind, auch wenn es uns Fans schmerzen mag, im liberalen Europa nicht mehr tragbar. Das sollten ein Jahr nach dem Beginn des zynisch „Spezialoperation“ genannten Angriffs auf die gesamte Ukraine auch die Direktoren der genannten Opernhäuser endlich einsehen, wenn sie nicht unter dem Deckmantel der Kunstfreiheit ebendiese verraten möchten.

Ildar Abdrazakov sang an der Mailänder Scala im Dezember 2022 die Titelpartie in Mussorgski «Boris Godunow» – mit Ausnahme der letzten Vorstellung, der er eine Propagandaveranstaltung in Moskau vorzog. Er soll weiterhin an der Scala gastieren © Teatro alla Scala

Offensichtlich wird von diesen Direktoren auch ignoriert, welche seelischen Schmerzen sie den Mitarbeitern zufügen, die mit Russlands Aggression politisch verbunden sind oder diese sogar befürworten. Die Sopranistin Olga Bezsmertna hat diese Problematik in einem Interview mit OPERN∙NEWS im vergangenen Jahr angesprochen. Aus Angst vor Repression trauen sich die meisten Betroffenen indes nur unter vorgehaltener Hand auszusprechen, wie schwer erträglich es ist, dazu gezwungen zu sein mit Kollegen zusammenzuarbeiten, die Propaganda für den Aggressor betreiben. Von der harmonischen multinationalen Gemeinschaft, deren sich so viele Theater rühmen, kann an diesen Häusern keine Rede mehr sein.  

Hilde Zadek, die seinerzeit vor den Nationalsozialisten nach Palästina fliehen konnte, sagte im oben erwähnten Interview über humanistische Fragen bei der Aneignung von Gesangspartien: „Ich glaube, damit beschäftigt man sich zu wenig. Wenn man sich damit mehr beschäftigen würde, dann würde man dem Inhalt der Musik näherkommen.“ In Wahrheit ist die Beschäftigung damit im Sinne unserer bürgerlich-humanistischen Tradition, offenen Gesellschaft, Rechtsstaatlichkeit und Demokratie sowohl in der Kunst als auch anderswo noch dringlicher als die Klimaschutz-Debatte, denn diese könnte, wie sämtliche Diskurse, unter diktatorischen Bedingungen gar nicht frei geführt werden.
 


OPERN∙NEWS stellt diesen Artikel kostenlos zur Verfügung. Um uns regelmäßig zu lesen, kaufen Sie bitte ein Förderabo. Warum Sie für den Preis von einmal Kaffee und Kuchen im Monat dann sogar etwas Gutes tun, das erfahren Sie unter diesem Link!


 

Englische Übersetzung des Artikels

Italienische Übersetzung des Artikels


Verweise

1 Kammersängerin Hilde Zadek im Gespräch, ORF-Radio Ö1 vom 09.06.2011, Wiederholung am 16.02.2023

2 Siehe öffentliche Instagram-Posts www.instagram.com/p/CkVaF6pr9Q4/ und www.instagram.com/p/Cmq0-5no0a7/

3 Konzerteausschnitte u.a. zu finden unter www.youtube.com/watch?v=wQhcocF_mdk und vk.com/video-121073365_456239618

4 Mary Ilyushina: Putin, in defiant speech, threatens Western gas and grain supplies, Washington Post online, 07.09.2022, www.washingtonpost.com/world/2022/09/07/russia-putin-speech-sanctions-gas/ 

5 Youtube-Beitrag von Danys Davydov, ab 09:00: www.youtube.com/watch?v=zoJvh6f1sx4 

 

Zum Thema

OPERN∙NEWS
Ildar Abdrazakov: Die Verlockungen von Macht und Geld. Nach unserem Artikel vom 22. Februar sieht der russische Starsänger in den USA und in Europa seine Felle davonschwimmen. In Russland ist er indes gut versorgt - von: Stephan Burianek, 26. Februar 2023