Interview

„Unsere Kultur wird endlich gesehen und gehört“

Die ukrainische Dirigentin Nataliia Stets ist die erste Stipendiatin der Sächsischen Akademie der Künste. Sie spricht über ihre Arbeit in Graupa, ihre Forschungen zu Franz Xaver Mozart und über die Situation in ihrem Heimatland

Ute Grundmann • 19. Dezember 2022

Nataliia Stets bereitet sich in Graupa (Pirna) auf Konzerte mit der Elblandphilharmonie vor © Anja Schneider

Kyiv, Paris, Graupa, so hießen gerade einige Ihrer Stationen. Wie geht es Ihnen an diesem besonderen Ort hier?

Bayreuth und die Wagner-Power dort kannte ich natürlich, über Graupa bei Dresden hatte ich zwar gelesen, es aber nicht im Sinn. Als die Nachricht des Stipendiums kam, habe ich begonnen recherchieren, aber ich hatte nie erwartet, im gleichen Haus wie einst Richard Wagner zu leben. Jetzt dort zu sein, wo er sein kraftvolles Leben gelebt hat, ist für mich ein sehr emotionaler Moment in meinem Leben. Jetzt bin ich dem so sehr nahe, es ist wirklich ein großer Eindruck. Um das wirklich zu verstehen, brauche ich noch einige Zeit. Oksana Lyniv habe ich bei ihrem «Holländer»-Dirigat in Bayreuth assistiert – und jetzt bin ich hier, unfassbar. Nur ein Stockwerk darunter hat Wagner seinen «Lohengrin» entworfen.

Sie werden bis Ende März in Graupa sein, also ein halbes Jahr, und Konzerte leiten.

Ja, im Januar werde ich die Elblandphilharmonie Sachsen dirigieren, in Großenhain und Radebeul, mit einem sehr schönen, klassischen Programm. Haydns 59. Sinfonie, Mozarts Klavierkonzert Nr. 23 und Beethovens 6. Sinfonie. Beethovens Pastorale liebe ich sehr, seine 7., 1., 5., 8., auch die 9. Sinfonie habe ich schon dirigiert, aber die 6. noch nicht. 

Sie sind von Paris aus nach Graupa gekommen, wohin man die letzte Strecke mit dem Bus fahren muss. Wie empfinden Sie die Differenz und die Distanz?

Paris war wirklich sehr schön, ich habe dort mit dem Youth Symphony Orchestra gearbeitet. Ich war dort für die Proben und das Konzert während einer „Woche für Odessa“, darin wurde auch die „Odessa-Rhapsodie“ eines ukrainischen Komponisten aufgeführt, die hat Geist, Leben und Humor, man kann viele Kulturen darin hören. Als Wagner nach Paris kam, hatte er keinen Erfolg, es war eine sehr schwierige Zeit in seinem Leben. Viel mehr Erfolg hatte er in Dresden, da war er sehr glücklich. Nun bin ich in Graupa. Hier kann ich wirklich zur Ruhe kommen, mich erholen und vorbereiten: Ich habe eine Menge Pläne und mache viele Video-Konferenzen.

Wie nehmen Sie die Stadt wahr?

Graupa ist ein wunderbarer Ort, sehr inspirierend, Wagner hat hier komponiert, aber auch Verbindungen geknüpft, zum Beispiel zu Weber – hier spürt man, woher die Inspiration zu «Oberon» oder dem «Freischütz» stammen.

Wie haben Sie den Beginn des russischen Angriffskrieges auf die Ukraine erlebt?

Eigentlich war ich gerade in der Ukraine mit der Vorbereitung einer Opernpremiere beschäftigt, aber als der Krieg ausbrach, habe ich gerade für eine Woche in Köln assistiert und ging dann nicht mehr in die Ukraine zurück. Endgültige Pläne zu machen, ist unmöglich, Sicherheiten gibt es nicht.

Es ist wirklich kein guter Anlass, aber doch die Möglichkeit, die Unterschiede in den Kulturen der Ukraine und Russlands herauszustellen, neue Namen ins Gespräch zu bringen. Tradition ist sehr wichtig für mich, sich mit Europa verbunden zu fühlen. Vorher, unter der russischen Herrschaft, war unsere Kultur immer überdeckt, wurde nicht als gleichwertig behandelt, sondern als nett und klein angesehen – dort. Jetzt kann man die ukrainische Kultur sehen und hören und das ist im Moment sehr wichtig, Ideen dafür zu entwickeln, damit unsere Kultur wachsen kann. 

Nataliia Stets im Lohengrinhaus von Graupa (Pirna) © Anja Schneider

In Graupa beschäftigt Sie sich nicht nur mit Richard Wagner, sondern auch mit Franz Xaver Mozart, dem jüngsten Sohn Mozarts, der von 1808 bis 1838 in Lviv (deutsch: Lemberg) tätig war. Sie wollen ein Online-Museum für ihn entwickeln, was werden Sie dort hinein stellen?

Xaver Mozart ist eine sehr interessante Person. Er ging nach Lviv, um dort als Musiklehrer und Komponist zu wirken. Er lebte 30 Jahre lang dort, verliebte sich in eine verheiratete Gräfin, unterrichtete auch deren Kinder, außerdem war er oft auf Tourneen durch Europa unterwegs.

Erst jetzt haben wir herausgefunden, dass er auch Chefdirigent am dortigen Theater war, wir haben Manuskripte und andere Zeugnisse seines Wirkens als Musiklehrer und Komponist entdeckt, die bisher unbekannt waren. Mit deren Hilfe können wir nun zeigen, welch großen Einfluss Xaver Mozart auf die Kultur in Lviv hatte. Und er brachte das Mozart-Erbe zu seiner Geliebten nach Lviv, auch darin ist Neues zu entdecken.

Ursprünglich wollte ich aus meinen Forschungen ein Buch über ihn machen, mit all seinen Briefen, hatte auch schon vorgearbeitet – nun wird ein Online-Museum daraus. Es wird immer wieder behauptet, Xaver Mozart habe keinen eigenen Stil, keine eigenen Ideen gehabt, schließlich war da der riesengroße Schatten des Vaters. Was wir aber jetzt sehen: Er kämpfte mit dem Vater, brachte aber Gefühle und einen neuen Stil ein. Und zugleich gab er viele Konzerte, arbeitete für Geld und den Lebensunterhalt. Das alles soll Thema sein.

Was erfahren Sie im Moment aus Ihrem Heimatland?

All meine Gedanken und Gefühle sind dort. Alles, was meine Freunde und Kollegen in ihren Leben aufgebaut haben, alle ihre Pläne und Karriereziele sind gestoppt. Alles, was man sich wünscht oder erhofft, ist nur leeres Papier.

Ich bin im Moment allein in einem fremden Land, aber die Menschen, die noch in der Ukraine sind, gehen zur Schule, dann in den Luftschutzkeller, sie geben Unterricht, dann wieder in den Keller – das ist kein Leben für sie. Ich weiß nicht, wie man das beenden kann, aber unser Land ist stark, die Kollegen lachen und kämpfen, das inspiriert mich sehr. Sie tun so viel – ich muss in Zukunft noch mehr tun für mein Land, für seine Kultur.
 



Das Gespräch wurde am 8. Dezember 2022 in Graupa in englischer Sprache geführt.

Nataliia Stets, 1990 in der Westukraine geboren, hat in Kyiv studiert, war 2017 Assistentin der Chefdirigentin Oksana Lyniv bei der Neueinstudierung des «Eugen Onegin» in Graz, 2022 war sie Projektleiterin bei LvivMozArt.

Richard Wagner verbrachte 1846 einen Arbeitsurlaub in Graupa, heute ein Stadtteil der sächsischen Kleinstadt Pirna; im damaligen „Schäferschen Gut“ entwarf er seine Oper «Lohengrin». Heute befinden sich dort die Wagnerstätten Graupa mit dem „Lohengrin-Haus“ (allerdings nicht an der Lohengrinstraße, sondern am Tschaikowski-Platz).

 

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