Musiktheater an der Wien

Am Zenit der Operngeschichte

Im Wiener Museumsquartier schafft Stefan Herheim mit Janáčeks «Schlauem Füchslein» das Kunststück einer gleichermaßen vielschichtigen wie oberflächlichen Inszenierung

Stephan Burianek • 16. Oktober 2022

Stefan Herheim beginnt «Das schlaue Füchslein» auf einer offenen Werkstattbühne © Monika und Karl Forster

Aus dem unverstandenen Exoten ist ein eigentümlicher Bekannter geworden: Standen vor einigen Jahren noch hauptsächlich slawische Namen auf den Besetzungslisten von Leoš-Janáček-Opern, so hat sich das Verhältnis mittlerweile umgekehrt. Und weil auch das «Schlaue Füchslein» längst im internationalen Opernrepertoire angekommen ist, bedeutete das baldige Wiedersehen mit der frechen Füchsin Schlaukopf in der ersten großen Premiere des Theaters an der Wien, das unter seinem Neo-Intendanten Stefan Herheim nun als „MusikTheater an der Wien“ vermarktet wird, weniger eine Überraschung als vielmehr eine große Vorfreude. 

In Wien waren schon einige Sichtweisen zu sehen gewesen. Sie reichten von einem naturalistischen Märchen durch Otto Schenk (2014, Wiener Staatsoper) bis zu einem schonungslosen und wenig jugendfreien Kammerspiel von Peter Pawlik (2007, Kammeroper). Stefan Herheims nun vorgestellte Inszenierung reiht sich eher bei letzterem ein. Das mag vielleicht manche Illusion zerstören, ist aber folgerichtig, denn ob sich ein Werk, in dem Hühner gerissen und Mamas vor den Augen ihrer Kinder erschossen werden, für Familienzwecke eignet, ist ohnehin fraglich.

Wie häufig bei Herheim, fließen auch in dieser Arbeit die überlieferten Begleitumstände der Entstehungsgeschichte des Werks ein. Immer wieder wird in der Literatur folgende rührige Geschichte des mährischen Komponisten zitiert: Für Recherchezwecke fand sich Janáček in einem weißen Anzug bei einem Jäger ein, um ihn auf der Suche nach Füchsen zu begleiten. Erst nachdem er sich etwas weniger Auffallendes angezogen hatte, bekam der Komponist die Tiere tatsächlich zu Gesicht. In seiner Aufregung zappelte Janáček aber so sehr, dass die Füchse rasch Reißaus nahmen. Dem Komponisten war’s egal: „Ich hab‘ sie gesehen! Ich hab‘ sie gesehen!“, soll der Enthusiasmierte, natürlich auf Tschechisch, ausgerufen haben.

Die Grenzen zwischen Tieren, menschlichen Figuren und dem Komponisten verschwimmen: Mélissa Petit als Füchsin Schlaukopf mit dem Dackel- bzw. Janáček-Darsteller Ya-Chung Huang © Monika und Karl Forster

Ebendiese Szene zeigt Stefan Herheim in seiner Neuinszenierung in der Halle E des Museumsquartiers, der Interimspielstätte des Theaters, dessen Stammhaus derzeit renoviert wird. Bei Herheim ist, auch das ist nicht neu bei ihm, der Komponist in besagtem weißen Anzug nahezu ständig auf der Bühne präsent. Zunächst inspiziert er die Arbeit in der Theaterwerkstätte, wo während der ersten Takte, von metallischen Störgeräuschen begleitet, eine riesige Libelle zusammengebastelt wird, dann schlüpft der taiwanesische Tenor Ya-Chung Huang mit guter, kräftiger Stimme in diverse Rollen, gibt kurz die Mücke, dann den Dackel und den Hahn, schließlich auch den Schulmeister und den Specht. 

Es ist bekannt, dass sich Janáček entschieden gegen die von seinem Deutschübersetzer Max Brod propagierte Gleichsetzung bestimmter Tierfiguren mit Menschenrollen stellte, dass er beispielsweise im Dachs kein Pendant zum Pfarrer gesehen hat. Unabhängig davon verschwimmen bei Herheim die Grenzen zwischen den Menschen und den Tieren, der Regisseur stellt auch ebenjene genannte Parallele her. Mehr noch: Wenn die obdachlose Füchsin den wohlhabenden Dachs aus seinem Bau vertreibt, verzichtet Herheim auf die naheliegende sozialistische Aussage und kreiert stattdessen einen anderen, an den Haaren herbeigezogenen Bezug: Femen-Aktivistinnen vertreiben den vermeintlichen Macho – ein Moment, in dem der historisch informierte Blick des Regisseurs einer modischen Correctness weicht, denn ein Feminist war Janáček ganz sicher keiner.

Janáčeks Sehnsucht nach einer erfüllten Liebe, die in der Zeichnung seiner Frauenfiguren stets spürbar ist, wird von Herheim, dem Bildgewaltigen, indes meisterhaft visualisiert, wenn der Alte seinen Gehstock gegen einen Tanz mit der Füchsin tauscht. 

Die schwierige Titelpartie bringt Mélissa Petit hörbar an die Grenzen. Ihren Galan, den Fuchs, sang die Mezzosopranistin Jana Kurucovà, die sich mit einer Kehlkopf-Entzündung ansagen ließ, vielleicht ein wenig schrill, aber ansonsten tadellos. Generell behaupteten sich vorrangig die männlichen Stimmen, allen voran jene von Milan Siljanov als idealtypisch dunkelkerniger Förster, aber auch Marcell Bakonyi vermochte sich als Wilderer Harašta durchzusetzen, Levente Páll füllte die Partie des Pfarrers ebenfalls gut aus. Die restlichen Partien wurden, mit Ausnahme von Alžběta Vomáčková, die u.a. die Försterin sang, von schönen aber vergleichsweise kleinen Stimmen aus dem Arnold Schönberg-Chor sowie aus den St. Florianer Sängerknaben besetzt. Das war nicht zuletzt aufgrund der harten, nach wie vor halligen Akustik in der Halle E nicht ideal, zumal der große Bühnenraum in dieser Produktion noch dazu völlig offen, d.h. ohne akustisches Bühnenbild, gestaltet ist. Das stellt natürlich auch die orchestrale Klangbalance vor gewisse Probleme, wiewohl Giedrė Šlekytė am Pult der bestens disponierten Wiener Symphoniker trotz des gebotenen flotten Tempos präzise Klangbilder schuf.

Starkes Bild: Historische Opernfiguren verfolgen die Geburt unzähliger Fuchsbabys, im Mond wacht Ya-Chung Huang als Janáček © Monika und Karl Forster

Wie in einem Programmheft-Artikel des Dramaturgen Kai Weßler zu lesen ist, holte sich Janáček bei der Komposition von Liebesszenen Inspiration bei Puccini. Vor diesem Hintergrund könnte man Janáčeks Werke durchaus auf dem Zenit der Operngeschichte sehen. Vielleicht ist das der Grund, weshalb bei Herheim die Hochzeitsgesellschaft nicht aus den Tieren des Waldes, sondern aus prominenten Opernpaaren besteht – und den gewohnt erstklassig von Erwin Ortner einstudierten Arnold Schönberg-Chor sowie einige Tänzer:innen in tradierten, ikonischen Kostümen von Doris Maria Aigner auftreten lässt: Man sieht Carmen und Jose, Otello und Desdemona, Siegfried und Brünnhilde, den Rosenkavalier mit Sophie (oder Marschallin?), Turandot und Kalaf und einige mehr.

Wenn unmittelbar nach der komödiantisch inszenierten Zeugung unzähliger Fuchskinder der Wilderer Harašta auf einem Mähdrescher mit einer Haspel aus Notenzeilen ebendiese Opernfiguren brutal eliminiert, dann findet dieses drastische Bild im Orchestergraben keinen entsprechenden Widerhall – zu weich, zu harmlos zeichnet die Dirigentin Janáčeks musikalische Steilvorlage an dieser Stelle. Harašta wird von Herheim in Folge als eine Art Perverser gezeichnet, der sich seine Geliebte Terynka aus den Herzen ebenjener Opernfiguren als blutig-fleischige Puppe selbst zusammennäht. 

Am Ende liegt die Vermutung nahe, dass Herheim trotz viel angelesenem Wissen mit dem eigentlichen Inhalt des Werks nicht allzu viel anzufangen wusste, sich seine Inszenierung daher bis zuletzt ungeachtet ihrer Vielschichtigkeit allzu sehr auf der Oberfläche bewegt und sie letztlich mehr die Schaulust befriedigt als innerlich zu berühren vermag.

 

«Příhody lišky Bystroušky» («Das schlaue Füchslein») – Leoš Janáček
Musiktheater an der Wien ∙ Museumsquartier / Halle E

Kritik der Premiere am 15. Oktober 2022
Termine: 17./20./22./25./27. Oktober