Matthieu Dussouillez

„Ich glaube an die Balance“

Der Intendant der Lothringer Nationaloper in Nancy spricht im Interview über seine Zukunftsvision für die Oper, die Suche nach neuen Talenten und über seine Pläne, die Bevölkerung in die Arbeit des Opernhauses einzubinden

Stephan Burianek • 03. Februar 2022

Matthieu Dussouillez © Vincent Arbelet / Opéra national de Lorraine

Wenn man Intendanten trifft, dann sind diese zumeist älter – Sie sind 36 Jahre jung.

Manchmal wünsche ich mir, älter zu sein. Dann wären in meinem Job manche Situationen einfacher. (lacht) Ich wurde 2018 bestellt und bin seit Juni 2019 in Nancy. Davor war ich Vize-Intendant am Opernhaus in Dijon.

Wie sind Sie auf die Oper gekommen? Sind Sie familiär „vorbelastet“?

Nein, gar nicht. Ich bin in Champagnole, einer Kleinstadt in der französischen Jura aufgewachsen. Das nächste Opernhaus war hundert Kilometer entfernt, und meine Eltern hatten keinerlei Bezug zu klassischer Musik – mein Vater hörte ausschließlich Pogressive Rock. Irgendwann in meinen jungen Jahren, an einem Sonntagvormittag, hörte ich in den Straßen eine Band und beschloss, Schlagzeug zu lernen. Nach der Matura hätte ich eigentlich, so wie alle meine Freunde, ein Medizinstudium anfangen sollen, entschied mich letztlich aber für die Musik. Ich hatte nämlich den Traum, im Concertgebouw-Orchester auf die Pauke zu hauen. Also ging ich in Dijon auf die Musikhochschule, wo ich als zweites Instrument die Tuba wählte. Erst in dieser Zeit erlebte ich Oper erstmals live, das war ein magisches Erlebnis. Ich wählte einen Sitzplatz, von dem aus ich das Orchester den Graben gut beobachten konnte. Man spielte «La traviata» in einer traditionellen, aber nicht altmodischen Inszenierung, in der es echtes Wasser regnete. Das faszinierte mich so sehr, dass ich mehr auf die Bühne schaute als in den Orchestergraben. Zehn Jahre später fing ich genau dort zu arbeiten an.

Welches Konzept verfolgen Sie für die Opéra national de Lorraine in Nancy?

Mein Konzept für das Opernhaus in Nancy basiert auf der Frage, was zu tun ist, um der Kunstform Oper eine Zukunft zu ermöglichen. Diese Frage ist freilich noch nicht abgeschlossen, ich denke immer noch sehr viel darüber nach. Manchmal kommen mir Zweifel, aber letztlich sehe ich sehr wohl, dass es eine Zukunft geben kann, vor allem dann, wenn wir neue Werke in Auftrag geben und diese enthusiastisch aufgenommen werden. Ich möchte über die Meisterwerke des 20. Jahrhunderts eine Brücke vom 19. in das 21. Jahrhundert schlagen. Ich liebe Mozart, Verdi und Puccini, aber es wäre falsch, nur die altbekannten Meister zu spielen. Nancy hatte seine Blütezeit zu Beginn des 20. Jahrhunderts, was sich bis heute auf vielen Art-nouveau-Fassaden widerspiegelt. Daher lege ich in unserer Programmierung einen Fokus auf diese Zeit, um auch die wunderbare Musik von damals für die Leute hier erfahrbar zu machen.

Nancy ist eine schöne Stadt. Kommen viele Touristen, wenn nicht gerade eine Pandemie wütet? Wie würden Sie Ihr Publikum beschreiben?

Unser Publikum kommt aus Nancy und Umgebung. Das ist in Zeiten wie diesen ein Glück, wie man anhand der Pariser Opernhäuser sieht, die von den Touristen abhängig sind und derzeit ein Zuschauerproblem haben. Wir haben ein neugieriges Publikum, nicht in einer extremen Form, aber es ist offen für Neues. Das größte Problem ist, wie überall, dass sich viele Leute aus Angst oder wegen der notwendigen, aber lästigen Maßnahmen die Theaterbesuche abgewöhnt haben. Trotzdem haben 7.000 Menschen die sechs «Zauberflöte»-Aufführungen besucht, und am Tag der Premiere von «Ariane et Barbe-Bleue» haben wir bereits 3.000 von möglichen 4.200 Karten verkauft – ich denke, das ist bei einem so wenig bekannten Werk durchaus zufriedenstellend.

Wie sieht die Altersstruktur aus?

So, wie in den meisten anderen Opernhäusern auch, aber wir kümmern uns sehr stark um ein junges Publikum und bringen sie sowohl zu den Proben, als auch in die Aufführungen. Wir beschäftigen vier Vollzeitkräfte, die sich um die Kommunikation mit den Schulen kümmern. Für Schüler:innen mit einer speziellen Vorzugskarte sind die Eintrittskarten besonders günstig – sie können auf den besten Plätzen sitzen und zahlen nur 30 Prozent vom Normalpreis – was wirklich wenig ist, wenn man bedenkt, dass bei uns die teuerste Karte lediglich € 75 kostet. Dadurch erreichen wir in Bezug auf das Alter eine gute Durchmischung des Publikums.

In welche Richtung wird sich die Oper Ihrer Meinung nach entwickeln? Man hat nicht den Eindruck, dass sie unter jungen Menschen als „cool“ gilt.

Mit der Oper ist es in gewisser Weise wie mit dem Wein. Mit dem Alter wird man anspruchsvoller, man sucht mehr Tiefgang und möchte die komplexeren Gewächse genießen. Die Oper hat die Kraft, solche Bedürfnisse zu erfüllen, und viele kommen erst im Alter von vierzig oder fünfzig Jahren auf den Geschmack. Obwohl das Durchschnittsalter in ganz Europa steigt, steigt es im Opernpublikum meiner Meinung nach nicht im selben Ausmaß. Unabhängig davon müssen wir mit allen in Kontakt bleiben, auch mit jenen, die jetzt noch nicht in die Oper kommen.

Sie treten bereits früh mit den Menschen in Kontakt.

Wir bieten 20-minütige Aufführungen für Babys und Kleinkinder zwischen 6 Monaten und drei Jahren. Die kommen mit ihren Eltern zu uns ins Haus, quer durch alle sozialen Schichten. In diesem Moment stehen wir mit diesen Menschen in einer Verbindung. Sie gehen mit einem Erlebnis, und ich bin mir sicher, sie werden wiederkommen.

Opernhäuser kümmern sich heute zunehmend um die Musikerziehung – wie steht es damit in Frankreichs Schulen?

Unsere öffentlichen Schulen erfüllen keinen Musikauftrag, das ist leider ein Faktum. Das war bereits der Fall, als ich in die Schule ging. Wir hatten damals eine einzige Musikstunde pro Woche, und in der hörten wir französische Popmusik.

Aber selbst die Musik, die Ihr Vater hörte, basiert auf dem klassischen Notensystem.

Das war immerhin sehr komplexe Musik. In den Songs von King Crimson, Genesis oder Pink Floyd wechseln häufig der Takt und die Tonart. In gewisser Weise wurden meine Ohren durch diese Musik geschult. (lacht) Wir müssen den Mangel an musikalischer Ausbildung mit einem ambitionierten und visionären Programm ausgleichen.

Haben Sie auch vor, außerhalb des Opernhauses zu spielen?

Ich hatte ursprünglich vor, in der gesamten Region zu spielen, aber nicht zuletzt durch die Pandemie fehlen derzeit das Geld und das Personal. Die österreichische Regisseurin Anna Bernreitner, die bei uns die «Zauberflöte» gemacht hat [und den Götz-Friedrich-Preis 2021 gewonnen hat, Anm.d.Red.], fährt mit ihrer großartigen Operntruppe „Oper rund um“ in Kleinstädte und spielt Opern auf den Hauptplätzen. In einem LKW transportiert sie die Instrumente, im anderen die Bühne. Es muss mehr von solchen Truppen geben.

Wie halten Sie es mit der Regietheater-Frage?

Wir können in Nancy nicht zu ausgefallen agieren, denn dafür gibt es nicht ausreichend Publikum. Daher kann ich keine eindeutige künstlerische Linie wie die Vlaanderen Opera in Antwerpen verfolgen, auch wenn mir das persönlich gefiele. Unser wichtigstes Ziel ist, neue Künstler:innen zu engagieren und Dinge anders zu machen, als in der Branche allgemein üblich. Ich laufe nicht den ganz großen Namen nach. Erstens sind diese für uns zu teuer, und zweitens möchte ich mich von den restlichen französischen Häusern unterscheiden. Daher lade ich viele Künstler:innen aus Deutschland und Österreich ein, wie beispielsweise Eva-Maria Höckmayr, die dem Repertoire auf eine zeitgenössische Weise begegnen. Gleichzeitig besteht das Ziel, etwas Schönes daraus zu machen.

Matthieu Dussouillez © Vincent Arbelet / Opéra national de Lorraine

„Schön“ wäre für viele im Publikum, wieder häufiger die originalen Geschichten zu sehen…

Das kommt auf das Werk an, nicht jede Oper ist so flexibel wie wir manchmal glauben. Ein gutes Beispiel dafür ist die «Madama Butterfly». Natürlich kann man alles Japanische aus der Geschichte eliminieren und auf eine universale Ebene heben, aber die Geschichte selbst lässt sich im Grunde nicht verändern.

Der Würzburger Operndirektor Berthold Warnecke hat in einem Interview darauf hingewiesen, dass die Wirkung von Regietheater in den 1980er-Jahren eine ganz andere Wirkung gehabt hat als heute, weil damals alle im Publikum die traditionelle Aufführungsästhetik im Kopf hatten. Man sieht heute aber kaum mehr eine „originale“ «Aida». In Straßburg hat man Braunfels‘ selten gespielte, märchenhafte Oper «Die Vögel» kürzlich in ein graues, realistisches Großraumbüro verlegt. Das hat mit dieser farbenreichen, phantastischen Musik meines Erachtens nicht funktioniert.

Es ist kein Geheimnis, dass ich eine intensive Diskussion mit Ersan Mondtag habe, die noch nicht abgeschlossen ist. In Kooperation mit der Vlaanderen Opera bringen wir in zwei Jahren seine Inszenierung «Der Silbersee» von Kurt Weil, die im vergangenen September in Antwerpen Premiere hatte. Keiner kennt diese Oper. Mondtag lieferte eine großartige, vor visueller Kreativität und klugen Ideen strotzende Inszenierung, verarbeitete darin aber zugleich Insiderwitze über die Berliner Theaterszene, die außerhalb von Berlin keiner versteht.

Man muss aufpassen, den Kontakt zum Publikum nicht zu verlieren. Mitunter hat man in der Opernbranche den Eindruck, eine Produktion gilt nur dann als erfolgreich, wenn sie bei der Premiere ausgebuht wird. Eine solche Einstellung halte ich langfristig für gefährlich.

Genau. Daher glaube ich an die Balance. In der Branche bezieht man sich immer wieder auf Gerard Mortier. Aber seine Zeit als Pariser Opernintendant war ebenfalls von einer Balance geprägt – er brachte immer wieder auch traditionelle, ästhetisch schöne Inszenierungen, um dem Publikum entgegenzukommen.

Sie bringen junge Talente nach Nancy. Wie haben Sie Marta Gardolińska gefunden, die seit dieser Spielzeit als neue Musikdirektorin an der Lothringer Nationaloper tätig ist?

Als ich als Intendant bestellt wurde, war klar, dass der damalige Musikdirektor gehen würde und ich vor einer wichtigen Entscheidung stand. Also begann ich viel zu reisen und mich umzuhören. Ich traf mich mit Kirill Karabits [Chefdirigent des Bournemouth Symphony Orchestra, Anm. d. Red.], den ich gut kenne. Er hat häufig in Nancy dirigiert und wusste, dass ich die Intendanz übernehmen würde. Er rechnete wahrscheinlich damit, dass ich ihm die Position anbieten würde, aber ich wusste, dass er in der Karriereleiter bereits zu weit oben ist für unser Haus. Jedenfalls begann er mir von einer jungen Dirigentin zu erzählen, die ich mir näher ansehen sollte, weil britische Orchester sie lieben – und wenn britische Orchester eine Dirigentin lieben, dann muss sie seriös sein. Also informierte ich mich und hörte mir an, was ich von ihr finden konnte und lud sie ein, Zemlinskys «Traumgörge» zu dirigieren. Als sie kam, war mir sofort klar, dass sie perfekt für uns geeignet ist.

Außerdem ist sie Polin, was gut zur Geschichte von Nancy passt – immerhin geht die Stadterweiterung im 18. Jahrhundert auf den ehemaligen polnischen König Stanisław Leszczyński zurück, der damals Lothringen regierte.

Stimmt! Sie wird hier auch das polnische Repertoire entwickeln. In der kommenden Saison spielen wir Ignacy Jan Paderewskis einzige Oper «Manru», und später möchten wir auch Stanisław Moniuszkos «Geisterschloss» zeigen.

Mit „Nancy Opera Xperience“ (kurz: „NOX“) haben Sie eine Neue-Opern-Reihe ins Leben gerufen. Was bezwecken Sie damit?

Mit NOX wollen wir auf experimentelle Art neue Produktionsprozesse für die Schaffung von neuen Opern finden, indem wir Librettist:innen, Komponist:innen, Regisseur:innen und womöglich auch die Sänger:innen von Beginn an gemeinsam einbinden. Die besten Theaterstücke, die ich in den vergangenen Jahren gesehen habe, etwa auf dem Festival von Avignon, entstanden als Gemeinschaftsarbeit zweier Personen. Auf die Oper lässt sich das natürlich nur eingeschränkt übertragen, aber die Zusammenarbeit sollte intensiviert werden. Allzu oft arbeitet ein Komponist zwei, drei Jahre allein an einem Libretto und liefert die Partitur dann recht knapp vor der Uraufführung, was das Ausstattungsteam und die Sänger:innen dann überfordert. In der Zeit von Giuseppe Verdi oder auch noch bei Alban Berg erhielten die Künstler vorher zumindest einen Klavierauszug, aber das ist heute meistens anders. Dem möchten wir mit NOX entgegensteuern.

Außerdem suchen Sie mit NOX den Kontakt zur Bevölkerung: Der erste Zyklus bestand aus zwölf Kurzopern zum Thema „Sind Sie verliebt?“ – basierend auf Erzählungen von Menschen aus Nancy. Statt sie aufzuführen wurden sie während der Lockdowns verfilmt und sind auf der Homepage als Stream verfügbar. Musikalisch sind diese Kurzopern allerdings eher schwer zugänglich. Glauben Sie wirklich, damit ein neues Publikum erreichen zu können?

Die Musik ist keine leichte Kost, aber wir erzählen darin Geschichten von Menschen aus Nancy, und das interessiert die Bürger:innen dieser Stadt. Vor drei Wochen hatte ich ein Gespräch mit einer jungen Jobbewerberin, und sie sagte mir, sie sei über NOX auf uns aufmerksam geworden und habe zwei Tage damit verbracht, die Drehorte aufzusuchen. In diesem Fall sprechen wir die Leute über das Konzept an. In der kommenden Spielzeit werden wir eine zeitgenössische Oper des französisch-schweizerischen Komponisten Mathieu Corajod zeigen, dessen konzeptuelle Musik ebenfalls nicht einfach ist, aber wir werden sie nicht im Opernhaus sondern kostenlos auf dem Platz davor aufführen. Neue Opern sind wichtig, aber sie machen nur Sinn, wenn sie gesehen werden.
 

Das Gespräch erfolgte am 28. Januar 2022 im Intendantenzimmer der Lothringer Nationaloper in englischer Sprache (Übersetzung durch den Interviewer)