Album-Besprechung

Auf Tuchfühlung mit Cleopatra

„Mirrors“ – Jeanine De Bique im Spiegel barocker Heldinnen

Leon Battran • 31. Oktober 2021

Verletzt und verzweifelt liegt sie in ihrer Badewanne, Jeanine De Bique, und hadert mit dem Schicksal. Sie ist allein, nur die Musik ist noch da. „M’hai resa infelice“, seufzt sie – „Du hast mich unglücklich gemacht.“ Es sind die Worte der Deidamia, der Titelheldin aus Händels gleichnamiger Oper, die über die Lippen der Sopranistin perlen. Deidamia offenbart in ihrer Arie ihr Seelenleben, präsentiert sich nackt und verwundet. So auch Jeanine De Bique, wenn sie dieses musikalische Psychogramm im Videoclip nachzeichnet und herzzerreißend gegen die kalte Ödnis ihrer Badezimmerfliesen ansingt. (Video-Link)

In ihrer Debüt-Aufnahme „Mirrors“ geht es Jeanine De Bique um starke Frauenfiguren. Die aus Trinidad und Tobago stammende Sängerin geht darin auf Tuchfühlung mit den Heldinnen und Herrscherinnen aus den Opern Händels. Die emotionale Tiefe, die Händel seinen Protagonistinnen zugesteht, spreche sie besonders an, schreibt die Sopranistin im CD-Booklet. Deidamia, Cleopatra, Agrippina, Rodelinda, Alcina. Jede von ihnen beleuchtet Jeanine De Bique aus zwei Perspektiven, stellt der Lesart Händels jeweils ein spiegelbildliches Pendant aus der Feder eines anderen barocken Komponisten gegenüber (Programmkonzept: Yannis François). So sind auch mehrere Zeitgenossen Händels – Graun, Telemann, Manna, Vinci, Broschi – auf der CD versammelt, die sich kompositorisch mit denselben Stoffen und Figuren beschäftigt haben.

Herausgekommen ist dabei ein musikalischer Rollenvergleich, der es jedoch mehr auf die charakterlichen und stilistischen Unterschiede als auf die Gemeinsamkeiten anlegt. Das liegt weniger an der Gegenüberstellung der Komponisten, sondern mehr an der spezifischen Auswahl der Arien. Zum Beispiel steht dem drastisch emotionalen Lamento „Se pietà di me non senti“, das Händel seine Cleopatra singen lässt, Carl Heinrich Grauns „Tra le procelle assorto“ aus dessen Oper «Cesare e Cleopatra» gegenüber. Dieses eröffnet die CD in tänzerisch-triumphalem Gestus und brennt direkt ein Koloraturenfeuerwerk sondergleichen ab, während das darauffolgende Largo Händels über gute achteinhalb Minuten den Schmerz und das Leiden der Protagonistin ausrollt. Abwechslung beim Anhören ist also garantiert; es wäre wohl auch eher langweilig gewesen, immer nur jeweils zwei sich entsprechende, quasi austauschbare Arien zu kombinieren. Eine Ausnahme bilden die zwei Versionen von „Mi restano le lagrime“ aus «Alcina». Hier ist dieselbe Arie tatsächlich wie spiegelbildlich einmal von Händel als tiefschürfende Version in Moll und einmal von Broschi ganz versöhnlich in Dur komponiert zu erleben.

Jeanine De Bique © Gregor Hohenberg

Die im Grunde einfache Spiegelbild-Idee wirkt dann aber doch auf einmal unerhört komplex, wenn die eine Cleopatra zagt, während die andere tost, die eine von Händel ist, die andere von Graun, und die beiden Cleopatras zudem unterschiedlichen Situationen ins Auge blicken. Die musikalische Da-Capo-Form mit ihren zwei miteinander kontrastierenden Formteilen tut ihr Übriges dazu, um den Seelenzustand der Figur und die Situation, in der sie sich befindet, aus zwei verschiedenen Blickwinkeln zu beleuchten, gleichsam zu spiegeln. Ach ja, und natürlich spiegelt sich auch die Interpretin selbst in ihrer Rolle: „Ich wurde innerhalb des Albums tatsächlich zu einer Art ‚Spiegel‘, zu einem zentralen weiblichen Charakter, der mit der ganzen Kraft meines multikulturellen Hintergrundes die vielfältigen Erfahrungen der barocken Heldinnen reflektiert“, schreibt die Sopranistin. Spiegelachsen, wo man nur hinsieht.

Der verschiedenen Komponisten hätte es dabei gar nicht unbedingt bedurft, zumindest wenn es um die Kontrastwirkung geht. Hier wäre man auch bei Händel fündig geworden. Die reiche und vielfältige Stückauswahl ist aber eine große Stärke der Aufnahme. Vor allem aufgrund der weniger bekannten zeitgenössischen Referenz-Arien, die Händels Kompositionen an Erfindungsvielfalt und Gefälligkeit in nichts nachstehen. Da wartet so manche Entdeckung, die unbedingt mehrfach angehört werden will. Einige der Arien erscheinen hier sogar zum ersten Mal überhaupt eingespielt auf CD, so zum Beispiel das ohrwurmgefährliche „L’empio rigor del fato“ aus Grauns «Rodelinda». Oder das rhythmisch reizvolle „Chi può dir che rea son io“ des Neapolitaners Gennaro Manna aus dessen Oper «Achille in Sciro», dem vier Jahre später entstandenen Pendant zu Händels «Deidamia». 

Jeanine De Bique lässt auf dieser Rutschbahn der Affekte nichts aus. Intonationssicher und ausdauernd bringt sie die gesamte emotionale Klaviatur ihres Repertoires zum Erklingen, gibt den barocken Heldinnen ein Gesicht, verleiht den anklingenden Gefühlstönen stimmlich Farbe. Ihren facettenreichen Sopran führt sie flexibel und selbstbewusst durch die Register, bleibt dabei keinen Spitzenton schuldig. Vor allem in ihrer barocken Verzierungskunst zeigt sich Jeanine De Bique virtuos und erfindungsreich, sodass jedes Da Capo immer auch eine persönliche Note trägt und niemals zur bloßen Wiederholung verkommt. Weniger Aufmerksamkeit verwendet sie hingegen auf die Textverständlichkeit. Die Stimme ist zwar nach oben hin hell und durchschneidend, im mittleren bis tiefen Register aber eher zurückgenommen und die Textsilben angesichts der eher nasalen Resonanz tendenziell etwas undeutlich. Das tut dem positiven Gesamteindruck allerdings keinen großen Abbruch.

Mit dem auf historische Aufführungspraxis spezialisierten Concerto Köln unter der Leitung von Luca Quintavalle steht der Sopranistin ein sehr versiertes, hochpräzises und detailverliebtes Ensemble zur Seite, das sehr um eine abwechslungsreiche Spielweise bemüht ist und es versteht, immer wieder feinfühlige Akzente zu setzen und die Musik mit stilgemäßen Galanterien zu bereichern. Luca Quintavalle lässt außerdem immer mal andere der beteiligten Instrumentengruppen hervortreten und macht so verschiedene Schichten der Kompositionen hörbar.

 

Erschienen ist „Mirrors“ am 22. Oktober 2021 beim Label Berlin Classics.