Teatro San Cassiano

Wenn ein Traum ein ganzes Theater versetzt

In Venedig plant ein Londoner Geschäftsmann die Rekonstruktion des ersten öffentlichen Opernhauses der westlichen Welt

Stephan Burianek • 31. Januar 2021

Paul Atkin, 57 Jahre, kennt Venedig wie seine Westentasche. Zielsicher führt der britische Geschäftsmann seinen Besucher durch die schmalen Gassen und über die Brücken der Serenissima. Links, rechts, rauf und runter. Wir sind jenen legendären Theatergebäuden auf der Spur, für die im 17. Jahrhundert Kapazunder wie Claudio Monteverdi, Francesco Cavalli und später Antonio Vivaldi ihre frühen Barockopern komponiert hatten. 

Alte Straßenbezeichnungen zeugen noch heute von der einstigen Existenz früherer Operntheater © Stephan Burianek

Irgendwo abseits vom Campo Santo Stefano biegen wir in die „Ramo calle del teatro“ („Theaterweg-Straße“) ein. „Die alten Straßenbezeichnungen liefern uns bei der Lokalisierung der frühesten Opernhäuser bis heute wichtige Hinweise“, sagt Atkin. Wir bleiben vor der Backsteinfassade einer Musikschule stehen. Hier war einst das Teatro San Samuele, in dem die Mutter von Giacomo Casanova, Giovanna Maria Farussi, als Schauspielerin und ihr Sohn gelegentlich als Geiger wirkten. Eine Zeit lang war dort ein gewisser Carlo Goldoni der Theaterdirektor, er war den Reizen von Frau Farussi nicht abgeneigt. Nur wenige Schritte sind es zu Casanovas angeblichem Geburtshaus am Campo San Samuele, in unmittelbarer Nachbarschaft zur gleichnamigen Kirche und dem Kunstmuseum im Palazzo Grassi.

 

War Napoleon schuld?

Fünf Minuten später stehen wir wieder am Canal Grande, diesmal an der Vaporetto-Station Sant’Angelo. „Campiello del teatro“ – „Kleiner Theaterplatz“ – ist auf einer Fassade zu lesen. Von dort zweigt eine Kanalgasse („Fondamenta del teatro“) zum Eingang des Palazzos Barocci ab, wo heutzutage Hotelgäste einchecken. Früher stand an derselben Stelle das Teatro Sant’Angelo, ein Uraufführungsort zahlreicher Vivaldi-Opern.

In Venedig haben prunkvolle Palazzi die Jahrhunderte überdauert, aber die frühbarocken Theater nicht. Sowohl das Teatro San Samuele als auch das Teatro Sant’Angelo wurden zu Beginn des 19. Jahrhunderts auf Anweisung von Napoleon Bonaparte abgetragen. Den Schwarzen Peter möchte Paul Atkin dem egozentrischen Feldherrn dennoch nicht zuschieben: „Die Theater waren damals bereits aus der Zeit gefallen und mitunter jahrelang leer gestanden.“ Was keiner der zahlreichen, durch den damaligen Gebrauch von Kerzen verursachten Theaterbrände besorgte, erledigten die gehobenen Ansprüche: Zu Napoleons Zeit hatte das Teatro la Fenice den alten, oft halb so großen Theatern längst den Rang abgelaufen.

Wie auch immer: Dass aus dem 17. Jahrhundert kein einziges Logentheater erhalten geblieben ist, fand der Musik- und Venedigliebhaber Paul Atkin immer schon schade. Bis er im Shakespeare’schen Globe-Theater in London gleichsam eine Erleuchtung hatte: „Ich sah eine Vorstellung von ‚Julius Cäsar‘ in einer historisch-informierten Inszenierung von Mark Rylance und verstand das Stück mit einem Mal so gut wie nie zuvor. Ich dachte, so etwas wie das Globe sollte es auch für die Barockoper geben. Das Globe arbeitet profitabel, warum sollte das in der Touristenstadt Venedig nicht möglich sein?“

Das war im Jahr 1999, damals war Paul Atkin noch Student. Wiewohl er später eine Steuerberatungskanzlei gründete, war mit dem Globe-Besuch der Grundstein für seinen Lebenstraum gelegt: Er wollte das legendäre Teatro San Cassiano nach dem Londoner Vorbild und nach Maßgabe wissenschaftlicher Kenntnisse neu aufbauen. Oder es zumindest versuchen, denn wirklich gedacht, es schaffen zu können, habe er anfangs noch nicht, meint er heute. Jedenfalls widmete er sich nebenbei einem PhD-Studium, das er 2010 mit einer Doktorarbeit über die 1692 in Modena uraufgeführt Oper »L’ingresso alla gioventù di Claudio Nerone« des venezianischen Organisten und Komponisten Antonio Gianettini abschloss (und die Atkin 2018 im Schlosstheater von Český Krumlov auch in Szene setzte). Nachdem der Vater zweier Töchter im Jahr 2014 sein Unternehmen für mehrere Millionen Pfund verkauft hatte, begab er sich in Venedig gemeinsam mit seiner Familie auf eine Spurensuche zu den einstigen Theaterstandorten.

Das Teatro San Cassiano war bei seiner Eröffnung im Jahr 1637 nicht nur das weltweit erste Theater, das westliche Oper einem bürgerlichen Publikum präsentierte und in Venedig eine Welle der Opernbegeisterung entfachte. Es war überdies viele Jahrzehnte lang eine kreative Brutstätte bedeutsamer Künstler. Francesco Cavalli komponierte für dieses Haus, und Senesino, vor Farinelli einer der bekanntesten Kastraten, sang dort.

 

Durch den Steinbogen in der Bildmitte gelangten Opernbesucher einst ins Teatro San Cassiano © Stephan Burianek

Ein verborgener Garten

Paul Atkin deutet auf einen Torbogen, den die Besucher auf ihrem Weg zum Theater aus Gondeln aussteigend durchschritten. Er ist von einer gegenüber liegenden Brücke bis heute gut zu sehen. Wir befinden uns nun auf der anderen Seite des Canal Grande, im Stadtteil Santa Croce. Dort, nahe der sogenannten Tittenbrücke („Ponte delle tette“) im einstigen Prostitutiertenviertel, sieht man außer besagtem Bogen und den einschlägigen Theater-Straßennamen gerade einmal eine hohe Mauer, über der grüne Äste hervorlugen. Wo sich heute ein Garten befindet, stand einst das Teatro San Cassiano.

Der Garten wird an zwei Seiten von Kanälen begrenzt. Vor sechs Jahren, als Atkin mit seiner Familie die ehemaligen Theaterorte aufsuchte, buchte er eine Gondel und hoffte, von der Wasserseite einen besseren Blick darauf erhaschen zu können. Dabei machte er eine Entdeckung: „Ich sah eine Pflasterung in der Hufeisenform eines Logentheaters – es lässt sich somit bis heute exakt nachvollziehen, wo der Zuschauerraum und wo die Bühne gewesen sein muss!“ 

Folglich wäre es theoretisch möglich, das Theater an seinem ursprünglichen Standort wieder aufzubauen. Atkin spielte sich eine Zeit lang mit dem Gedanken, das Areal zu kaufen und überlegte sich insgeheim ein tragfähiges Konzept für einen möglichen Wiederaufbau und dessen wirtschaftliche Nutzung. Letztlich kam es aber nicht einmal zu einem Kaufangebot. „Die alteingesessene Familie des Gartens möchte das Grundstück nicht verkaufen. Sie hat gute Gründe dafür, das muss man akzeptieren.“ 

Das war der Punkt, an dem solche Träume üblicherweise enden. Atkin machte sich hingegen auf die Suche nach einer Alternative. Als wir ihn im September treffen, ist als neuer Standort ein aus kunsthistorischer Sicht bedeutender Palazzo mit angrenzendem Garten, der sich für den Bau des Theaters eignen würde, geplant. Um welche Immobilie es sich handelt, möchte Atkin zu diesem Zeitpunkt noch nicht sagen. „Die Venezianer sollten es als erste erfahren, und das wird hoffentlich Anfang 2021 der Fall sein“, so Atkin.

Was an Atkin von Beginn weg auffällt, ist sein ruhiger Charakter. Wir treffen keinen Showman, keinen marktschreierischen Verkäufer. Atkin spricht von sich nur dann, wenn er über seine Person befragt wird, und überzeugt mit seiner profunden Kenntnis – sei es in künstlerischen oder in wirtschaftlichen Fragen. 

 

Paul Atkin mit seinem Modell © Stephan Burianek

Ein Schmuckstück 1:75

Ein ständiger Begleiter des Geschäftsmanns ist ein nahezu würfelförmiger Metallkoffer, der das „erste historisch-informierte Modell des Teatro San Cassiano in der Geschichte“ beinhaltet, wie Atkin nicht ohne Stolz, aber mit dem noblen Tonfall des britischen Understatements sagt. Das Holzmodell im Verhältnis zu 1:75 ist ein in der Tat ein Schmuckstück. Auf der mit zwei Palladio-Säulen begrenzten Bühne erwecken Silhouetten in barocker Kleidung den Eindruck einer Aufführung. Fünf Zuschauerränge bilden 153 Logen, im Parkett ist gerade einmal Platz für sechs Reihen. Gemäß der gegenwärtigen Sicherheitsbestimmungen wird das Theater vierhundert Zuschauer fassen können (früher waren es freilich mehr).

„Wir wissen natürlich, dass gewisse Details in dem Modell und folglich im späteren Theater zwangsläufig falsch sein werden, da vieles auf Annahmen beruht. Es sind uns aber die exakten Maße sowie spätere Pläne des Theaters überliefert, auf deren Basis wir das Teatro San Cassiano mit gutem Gewissen rekonstruieren können.“ Als Architekt für den Wiederaufbau konnte Atkin den Rekonstrukteur des Globe, Jon Greenfield, gewinnen. 

Was aber, wenn sich zu einem späteren Zeitpunkt herausstellen sollte, dass man in der einen oder anderen Hinsicht falsch lag? „Dann bin ich dafür, dass wir das Theater nachträglich umbauen.“ Eine der offenen Punkte betrifft die Frage, ob das Teatro San Cassiano bereits als Opernhaus – also mit einem abgetrennten Bereich für das Orchester – erbaut wurde, oder nicht. Atkin glaubt, dass dies bereits bei seiner Eröffnung im Jahr 1637 der Fall war.

Man spielte damals die Oper »L‘Andromeda« von Francesco Manelli, der darin zugleich als Bass-Sänger auftrat. Das erhaltene Libretto von Benedetto Ferrari liefert wichtige theaterpraktische Hinweise. Die Partitur gilt hingegen als verschollen, aber Atkin ist überzeugt, dass in privaten venezianischen Archiven noch zahlreiche Schätze zu heben sind. Dem Theater soll daher eine wissenschaftliche Forschungsstätte für die Erforschung der frühen venezianischen Oper angegliedert werden. Zu entdecken gibt es zweifellos eine ganze Menge – allein in der venezianischen Marciana-Bibliothek liegen etwa zehntausend Libretti, zudem warten dort dreihundert Musikmanuskripte von vergessenen Werken auf ihre Wiedererweckung. Als künstlerischer Leiter des Theaters soll der Barockspezialist Andrea Marcon gemeinsam mit dem von ihm gegründeten Venice Baroque Orchestra für das Programm verantwortlich sein.

 

So ähnlich soll das Teatro San Cassiano ausgesehen haben, so ähnlich wird man es hoffentlich bald wieder in der Realität bewundern können © Stephan Burianek

Unmöglich. Denkbar? Wahrscheinlich!

Noch ist der Theaterbau nicht in trockenen Tüchern, aber er wird immer wahrscheinlicher. Ursprünglich hielten einige potenzielle Investoren – so begeistert sie von Atkins Idee auch waren – das Projekt für nicht realisierbar. Als zu schwierig gilt es für ausländisch initiierte Immobilienprojekte im Allgemeinen, das Vertrauen und die Unterstützung der venezianischen Behörden zu erlangen. Im Februar dieses Jahres waren diese Bedenken ausgeräumt: Der Bürgermeister sprach dem Projekt seine offizielle Unterstützung aus, und auch ein Standort wurde gefunden (eben jener, der noch geheim gehalten wird). Für die Stadt wäre das Theater zweifellos ein Gewinn. Bereits heute sind in Venedig laut Atkin vier Mitarbeiter und 25 hauptsächlich lokale Unternehmen an dem Projekt beteiligt. Später einmal soll das Unternehmen rund 160 Mitarbeiter beschäftigen.

Über Gewinne spricht Paul Atkin mit seinen potenziellen Investoren übrigens nicht: „Ich suche nach Investoren, für die Venedig und das Projekt an sich an der ersten Stelle kommen.“ Er sage den Leuten immer: „Wenn Sie ihr Geld unbedingt wiedersehen möchten, dann sind wir nicht die richtigen für Sie. Wir bieten einen Kulturerbe-Effekt plus die Chance, das Geld zurück zu bekommen.“ Atkin rechnet mit Gewinnen aus den Aufführungen. Die Einnahmen aus Monteverdi-Blockbustern sollen überdies dabei helfen, die Produktion von neu ausgegrabenen Werken zu ermöglichen.

Die Corona-Pandemie war hinsichtlich der Projektfinanzierung natürlich ein Rückschlag. „Zunächst dachte ich, Covid würde das Ende bedeuten. Aber wie die meisten Menschen haben wir uns dann gesammelt und Zeit in unsere eigene Infrastruktur, wie beispielsweise die Homepage, investiert.“ Als wir Paul Atkin im September in Venedig treffen, ist von Investoren trotzdem bereits die Hälfte der voraussichtlich erforderlichen Investitionssumme von 65 Millionen britische Pfund (ca. 71 Mio. Euro) zugesagt, den Rest möchte Atkin vor Weihnachten dieses Jahres vertraglich zugesichert haben. 

Was zunächst unmöglich und später denkbar erschien, gilt nun als wahrscheinlich. Riskant bleibt das Unternehmen freilich nach wie vor, vor allem für Atkin, der bereits sein gesamtes Vermögen hineingesteckt hat – der aber relativ gelassen wirkt: „Es braucht bei einer neuen Idee immer einen Idioten wie mich, der das Wagnis eingeht und allen zeigt, dass sie möglich ist. Wenn das Teatro San Cassiano ein Erfolg wird, dann werden wir in Venedig nicht alleine bleiben, dann werden andere auf die Welle aufspringen, dessen bin ich mir sicher.“ Wenn Atkin damit Recht behält, dann käme dem Teatro San Cassiano einmal mehr eine Vorreiterrolle zu.

 

Update vom 15.02.2021: Die erforderliche Projektsumme wurde von £ 65 Mio. auf £ 57 Mio. reduziert.


Teatro San Cassiano
www.teatrosancassiano.it/en