Deutsche Oper Berlin

Fertig geschmiedetes Theater

Stefan Herheim schloss seine Sicht auf den «Ring des Nibelungen» ab, Donald Runnicles dirigierte

Klaus Kalchschmid • 26. November 2021

Marcus Brück als Clown Alberich, dahinter drei Rheintöchter © Bernd Uhlig

Was für ein Glück in diesen dunklen Zeiten, die 15 Stunden von Richard Wagners «Der Ring des Nibelungen» zyklisch zu erleben! Corona geschuldet bunt gewürfelt, fand die erste Premiere der Tetralogie im September 2020 mit «Walküre» an der Deutschen Oper Berlin statt. Erst im Juni 2021 wurde der «Ring» mit «Rheingold» fortgesetzt und rundete sich einen Monat nach «Götterdämmerung» (Oktober 2021) mit einer nachgeholten Premiere des «Siegfried» innerhalb des ersten komplett aufgeführten Zyklus. Am Ende des zweiten gab es dann begeisterte Standing Ovations.

Denn Stefan Herheims Sicht auf das gewaltige Werk endete hochspannend, originell erhellend und auch sehr witzig beziehungsreich mit der düster-glühenden «Götterdämmerung», dem viereinhalbstündigen Musikdrama, das in der Musiktheater-Geschichte des 19. Jahrhunderts seinesgleichen sucht. Erst wenn man den «Rheingold»-Vorabend sowie die ersten beiden Abende zeitnah und in der richtigen Chronologie erlebt hat, kann man hörend, fühlend und denkend erfassen, welchen Quantensprung Wagner nach 15 Jahren Unterbrechung der Arbeit am «Ring» mitten im «Siegfried» tat. 

Mit «Tristan» (UA 1865) und «Meistersinger» (UA 1868) hatte er erst ein kompositorisches Niveau erreicht, das ihn befähigte, der Komplexität des motivisch-thematischen Materials und seiner Verarbeitung gerecht zu werden. Was die über mehr als zehn Stunden eingeführten Leitmotive da zusammen mit den Figuren harmonisch, rhythmisch und melodisch „erleiden“, wie sich alles mit allem verwebt, ist selbst nach Jahrzehnten Erfahrung mit der Tetralogie seit Patrice Chéreaus legendärem „Jahrhundertring“ 1976 in Bayreuth (bis 12. Dezember 2021 auf arte.concert kostenfrei verfügbar!) überwältigend: Eine psychisch-physische Herausforderung, aber eben auch großes Glück!

Deshalb sei zuerst von Donald Runnicles und dem immer schöner und farbiger musizierenden Orchester der Deutschen Oper die Rede. Während man sich als auswärtiger Hörer bei «Rheingold» noch an die Akustik des riesigen Hauses gewöhnen musste und der Eindruck, auch Dirigent und Orchester geschuldet, reichlich diffus blieb, gab es schon in der «Walküre» wunderbar intim kammermusikalisch dichte Momente, auch wenn immer mal wieder die Spannung durchhing und vor allem einige der Blechbläser nicht gerade ihren besten Tag hatten. 

Doch dann folgte der gerade frisch und wohl ausgiebig geprobte «Siegfried», dessen erster Aufzug schlicht brillant gelang, szenisch wie musikalisch bei enorm spannungsvoll zügigen Tempi. Auch später erwies sich Runnicles als ungemein flexibler Gestalter und das Orchester als geschmeidiger Klangkörper, der großen Facettenreichtum aufwies und nicht zuletzt in der «Götterdämmerung» großes Format erreichte – bis hin zum gewaltigen Finale. Hier verdichtete sich auch Stefan Herheims Bilderflut und seine synkretistische Deutung parallel zum Dichtegrad der Musik enorm, ließ er doch auch immer wieder einen Aufzug so enden wie der nächste begann, was den Eindruck des „Beziehungszaubers“ (Thomas Mann) noch erhöhte. 

Alberich (im «Rheingold» Marcus Brück) trägt die Clowns-Maske des bösen „Jokers“ alias Heath Ledger im Film „The Dark Knight“ wie Sohn Hagen. Und jeder, der den Tarnhelm benutzt, multipliziert diese Fratze – bis am Ende der ganze, hervorragende Männerchor der Deutschen Oper eine solche aufhat. So suchen Gunther und Siegfried gemeinsam (und anders als bei Wagner abwechselnd singend!) Brünnhilde auf, sozusagen beide in der (gleichen) Maske des Anderen! Hagen (durchaus bassgewaltig: Albert Pesendorfer) begegnet im ersten Aufzug der von Beginn an hinter dem Dirigenten in der ersten Reihe sitzenden Waltraute (auf dem Weg zum hochdramatischen Sopran, aber immer noch ein Mezzo mit klangvoller Tiefe: Okka von der Damerau), setzt sich an ihre Stelle. Sie wiederum betritt die Bühne, um Brünnhilde (vergeblich) vor dem Fluch des Rings zu warnen. Im zweiten Aufzug thront er immer noch hier und begegnet aus dem Zuschauerraum mit dem Rücken zum Publikum singend seinem Sohn Alberich (in «Siegfried» und «Götterdämmmerung» Jordan Shanahan). 

Herheim versetzt mit dem Wolkenfoyer die Deutsche Oper Berlin auf die eigene Bühne (rechts: Clay Hilley als Siegfried) © Bernd Uhlig

Eine großartige Idee Herheims war es, als Gibichungenhalle auf der Bühne das große holzgetäfelte Foyer der Deutschen Oper nachbauen zu lassen, mit seiner wie aus der Zeit gefallenen Wolken-Skulptur, deren Segmente in jeder Pause immer noch rotieren. Als Chor agiert scheinbar das Publikum der Aufführung in Abendkleidung, Programm und Sektglas in der Hand. Im Bühnenbild entschwebt das Gebilde manchmal in den Schnürboden und wird tatsächlich zu einem Wolkenhimmel, hinter dem Wotan mit seiner Götterschar wie im Comic buntscheckig thront. Zu Brünnhildes Schlussgesang, bei dem Nina Stemme mit ihrem gewichtigen, aber in der Höhe anfangs sehr angestrengt klingenden hochdramatischen Sopran endlich zu guter Form aufläuft, steigt Wotan mit seiner Entourage ein letztes Mal in die Menschenwelt herab. Und das „Ruhe, du Gott!“ gilt diesmal nicht Siegfried, sondern eben dem Göttervater, hinter den Brünnhilde tritt. Als Siegfried geht der Amerikaner Clay Hilley mit seiner Körperfülle im historisierenden Kostüm (Uta Heiseke) herrlich selbstironisch um. Sein heller, im Kontrast fast körperloser, jungheldischer Tenor gewinnt in der «Götterdämmerung» dann aber durchaus an Fülle.

Immer wieder flammt an zentralen Stellen plötzlich das Licht im Zuschauerraum auf, und Herheim verweist damit – wie schon früher immer wieder Peter Konwitschny – mit dem Zeigefinger darauf, dass wir „Theater“ beiwohnen. Vielfach brechen bei ihm aber auch Humor und die Lust zur Parodie mit Macht durch. So zu Beginn des dritten Aufzugs «Walküre». Noch bevor ein Takt Musik erklungen ist, üben die acht „Wunschmädchen“ Wotans den Einsatz von Flügelhelm und Speer, prüfen, ob alles richtig sitzt und jede auch ihre Waffe schön phallisch recken kann; die toten, in ihrer Schießer-Unterwäsche blutverschmierten Helden wiederum probieren lachend aus, wie sie am schönsten tot daliegen könnten. Mit Einsatz des wilden Walkürenritts drehen acht Frauen und acht Kerle dann so richtig slapstickmäßig auf und schlagen sich bei der Auseinandersetzung Wotan-Brünnhilde auf die jeweilige männliche oder weibliche Seite, nicht ohne entsprechende physische Anwendung von Gewalt. Iain Paterson wird im Verlauf des dritten Akts und dann als Wanderer immer konziser und kerniger, auch als Schauspieler.

Im «Rheingold» dient das Klavier als Pforte - hier wartet Freia mit zwei goldenen ...ähm...Äpfeln © Bernd Uhlig

Aber zurück zum Beginn: Schon zu den ersten Es-Dur-Akkorden des «Rheingold»-Beginns zeigt Stefan Herheim, dass zahlreiche Menschen mit Koffern auf Reisen sind. Ob es Flüchtende sind, sei dahingestellt. Jedenfalls türmen sich ihre Koffer später zu immer größeren Gebirgen auf, simulieren sie ab der «Walküre» ganze Zimmer und Häuser, als zementierte sich Vergangenheit ganz gegenständlich. Ein großer, schwarzer Konzertflügel, wie er für die Einstudierung bis zur sogenannten Klavierhauptprobe genutzt wird, dominiert über weite Strecken die Bühne, steht symbolisch für den Entstehungs- und Vorbereitungsprozess. An ihn setzten sich immer wieder, meist etwas unmotiviert, die Protagonisten und tun so, als würden sie sich selber begleiten, den entsprechenden Klavierauszug immer zur Hand. Mittels Hydraulik gibt es aus dem Korpus dieses Flügels immer wieder Auf- und Abtritte oder er dient, geschlossen, als Ruhe- und Schlafstätte, gerne auch zur Präsentation der Macht auf erhöhtem Standpunkt, als sei’s ein Marktplatz: Simples, manchmal fast Kasperl-Theater ist das, und doch immer wieder von effektvoller Wirkung. 

Herausragend singen und spielen im «Rheingold» Derek Welton einen musikalisch berückend eleganten Wotan und Thomas Blondelle einen hinreißend tenoral glänzenden mephistophelischen Loge in Kostüm und Maske von Gustav Gründgens in der «Faust»-Verfilmung. Valeriia Savinskaia, Arianna Manganello und Karis Tucker sind ein exzellentes Rheintöchter-Terzett; als herrlich orgelnde Erda überzeugt Judit Kutasi hier wie in «Siegfried». Bei Herheim ist sie im Büro-Kostüm mit dicker Brille die Souffleuse des ganzen «Ring» und steigt entsprechend immer wieder aus dem Souffleurkasten, in dem auch Wotan verschwindet, wenn er sie besuchen kommt.

Unschwer zu erraten: der Feuerzauber in der «Walküre» © Bernd Uhlig

Exzessiv verwenden Stefan Herheim und Silke Bauer, die gemeinsam für das Bühnenbild verantwortlich zeichnen, weiße Tücher, mal mit mehr, mal mit weniger großem Effekt und oft auch schlicht störend. Ein kleines Seidentuch ist gleichsam der Urknall, mit dem alles anfängt; es kann aber, überdimensional aufgeblasen, sogar die raumfüllende Esche im ersten Aufzug «Walküre» darstellen (was eine technische Panne dann zum Rohrkrepierer werden lässt). Zu Beginn des dritten Aufzugs «Götterdämmerung» mimen Siegfried und die drei Rheintöchter (Meechot Marrero, Karis Tucker und Anna Lapkovskaja) damit die Wellen des Flusses wie Teenager im Ferienlager, wie überhaupt das spielerisch-theatrale Element in Herheims Deutung des «Rings» enorm wichtig ist. 

So stellen Statisten gleich zu Beginn der «Götterdämmerung» vielfach das nach, von dem die Nornen Anna Lapkovskaja, Karis Tucker und Aile Asszonyi (die auch Gutrune singt) erzählen. Dafür ziehen sie sich immer wieder bis auf die weiße Unterwäsche aus – und bald wieder an. Das erzeugt manchmal etwas unfreiwillige Komik, nicht zuletzt, wenn etwa im Finale «Siegfried» die erotische Annäherung von Siegfried und Brünnhilde im Kreis um sie herum von 35 Statistinnen und Statisten vervielfacht wird – denn sie begleiten oft das Geschehen oder kommentieren es stumm. 

Gleichzeitig geht Herheim aber auch in die Tiefe. So erfindet er einen stummen, traumatisierten Sohn von Sieglinde (Elisabeth Teige) und Hunding hinzu. Erst nimmt er Siegmund (durchaus schon heldentenoral mit schönem Timbre und ein hervorragender Schauspieler: Brandon Jovanovich) als Bedrohung der Mutter wahr. Dann sieht er in ihm einen möglichen Ersatzvater, was ihm plötzlich Mut seinem leiblichen Vater Hunding gegenüber verleiht. Wie schon Fafner in «Rheingold» und «Siegfried» verkörpert ihn Tobias Kehrer, ein großartiger, immer noch junger Bass mit bestechend reichem Timbre. Die Interaktion der beiden Männer und des vielleicht 16-jährigen Jungen mit der Frau verstärkt die Psychologie des ersten Aufzug «Walküre» enorm, zumal Herheim am Ende zeigt, dass Sieglinde, mit fatalen seelischen Folgen, den Sohn mit Hunding opfert für ihren Befreiungsschlag mit Siegmund. Herheim lädt hier die vielen langen rein instrumentalen Zwischenspiele mit großer Spannung auf, wie er überhaupt bei aller überbordend disparaten Szene immer wieder präzise auf die Musik choreographiert und so die Personen genau führt.  

 

Hinweis: Erster und zweiter Zyklus wurden audiovisuell aufgezeichnet. Den hier besprochenen zweiten Zyklus übertrug RBB Kultur live - auf der Website kann er noch drei Wochen in voller Länge gehört werden.


 

Der Ring des Nibelungen – Richard Wagner
Deutsche Oper Berlin

Kritik vom zweiten Zyklus vom 16. bis 21. November 2021
Termine: 4.-9. Januar 2022