Erzgebirgische Theater

Bei den Schatzgräbern im Erzgebirge

Hinreißende Wiederentdeckung am Eduard-von-Winterstein Theater in Annaberg-Buchholz: Ralph Benatzkys «Der reichste Mann der Welt»

Joachim Lange • 06. November 2021

© Dirk Rückschloß / Pixore Photography

Während der Intendantenjahre von Barrie Kosky hat sich die Komische Oper in Berlin zum Operetten-Eldorado gemausert. Viel unter die Räder der Geschichte Gekommenes und von den Nazis Verbanntes ist wieder zum Vorschein gekommen und vermittelt in neuer Form eine Ahnung von altem Glanz. Oft gehen hier Wiedergutmachungsambition im Namen der Nachgeborenen und die pure Lust an guter Unterhaltung ohne das schlechte Gewissen, sich eventuell unter Niveau zu amüsieren, Hand in Hand. Die zwei noch existierenden separaten deutschen Operettentheater, die Musikalische Komödie in Leipzig und die Staatsoperette in Dresden sorgen für das Kontinuum bei der Pflege des Genres, das von der Substanz lebt. Oder eben von der Wiederentdeckung vergessener Schmuckstücke.

Und dann passieren immer mal Wunder, wie jetzt im kleinen, aber gut aufgestellten Eduard-von-Winterstein-Theater im erzgebirgischen Annaberg-Buchholz. Da hatten der neue Intendant Moritz Gogg und sein ebenfalls neu angetretener GMD Jens Georg Bachmann die glänzende Idee, Ralph Benatzky mal nicht mit seinem unverwüstlichen Dauerbrenner, dem «Weissen Rössl», wiehern zu lassen, sondern die seit der Wiener Uraufführung 1936 in der Versenkung verschwundene, also völlig unbekannte Operette «Der reichste Mann der Welt» auf die Bühne zu bringen – ähnlich wie die Wiener Volksoper, die vor einiger Zeit mit Benatzkys «Axel an der Himmelstür» Furore machte. Abgesehen davon, dass die sparsame Instrumentierung zeitkonform ist, denn ein reichliches Dutzend Musiker kann man spielend coronakonform im Graben und der Seitenloge unterbringen, ist dieses „Stück mit Musik in fünf Bildern“ auch einfallsreich genug, um ein spielfreudiges Ensemble auf Trab zu halten. Zumal wenn sich ein gewitzter Regisseur und Ausstatter so der Sache mit professionellem (Un-)Ernst annimmt, wie jetzt Christian von Götz. Für den Chef der Erzgebirgischen Philharmonie Aue reicht die dreizehnköpfige Besetzung völlig aus, um mit der Neuorchestrierung von Wolfgang Böhmer Furore zu machen, die Sänger anzufeuern und das Publikum zu begeistern. 

Die Brecht-Gardine, die am Anfang den Drehbühnenzylinder mit den unzähligen Türen verdeckt, hat dabei nichts Didaktisches. Sie ist durch ihren Schrift-Aufdruck von augenzwinkernder Ironie: 

„Einen Hut will ich tragen im ersten Akt
mit wallenden Federn im zweiten Akt,
und drei Toiletten im dritten Akt,
Und im vierten Akt….
Da komme ich nackt.“  

wird da versprochen. Und nicht eingelöst. Der Rest an Versprechungen, die sich mit der Operette der 1930er-Jahre verbinden, dafür aber durchweg. Wird am Anfang noch recht viel gesprochen und vom den Chor ersetzenden (wie Solisten in die Szene integrierten) Männerquartett ein wenig undeutlich gesungen, so kommt die Geschichte ziemlich schnell auf eine Betriebstemperatur, die beim Publikum zündet. 

© Dirk Rückschloß / Pixore Photography

Ganz und gar operettentauglich steuern in der Geschichte die verarmte ungarische Adelsfamilie von Györmrey, samt putzigen Großeltern, Eltern und Bruder der jungen Ilka und die neureiche Wiener Parvenü-Finanzier-Familie Reingruber aufeinander zu. Bei den Ungarn liefern sich Leander de Marel und Judith Christ-Küchenmeister als das Großelternpaar aus Ex-Kammersänger und die Familie regierender  Philippine – genannt Königin Mutter – einen kabinettstückreifen Dauer-Schlagabtausch. Alle versuchen sich zu sanieren, indem sie die Tochter von Thassilo (László Varga) und Marie (Bettina Grothkopf) Ilka mit dem Wiener Millionenerben Schorsch verheiraten wollen, der mit seinem „Aufpasser“ Graf Bronsky (Marvin George) anreist. Den drängt es allerdings nicht in die väterliche Firma, sondern auf die Bretter, die die Welt bedeuten. Dass Ilka so modern ist, sich nicht verloben zu lassen, von daheim abhaut und sich bei der Zugfahrt nach Wien rein zufällig in den inkognito mitreisenden Schorsch verliebt, versteht sich in dem fabelhaft pointensprühenden Text von Hans Müller von selbst. Auch, dass er ihr erst den armen Sekretär seines Vaters vorspielt, unabsichtlich dessen Firma vor dem Bankrott bewahrt, weil er es verschläft, pünktlich zur Börse zu gehen, gibt der Schussfahrt Richtung Happyend noch mal einen Schub. 

Wenn sich gerade alles in Wohlgefallen auflösen will, klopft die Zeit der Uraufführung bedrohlich laut an die Tür. Hier bremst sich die Inszenierung für einen Moment aus. Die Wiener, die daheim auch schon mal ins Jiddisch verfallen, und alle anderen haben plötzlich Koffer dabei und heften sich einen gelben Stern an die Brust. Ilka tritt aus der Rolle und blendet in ein paar Sätzen die Auswirkung des Zivilisationsbruchs durch den Holocaust ein, indem sie darauf verweist, dass viele der jüdischen Künstler die 1930er-Jahre nicht überlebt haben. Das ist eindrucksvoll, wobei die Geräusche eines Zuges und aufsteigender Dampf nicht nötig gewesen wären, um die Botschaft klar zu machen.

Danach wird aber das Happyend als Utopie durchgespielt. Plötzlich bewegen sich alle, wie im Zeitraffer nur rückwärts, in die Bühnenhandlung zurück. Am Ende ruft sogar der Finanzminister an, um sich Rat beim nunmehr an die Spitze der Firma aufgestiegenen Schorsch einzuholen. …

© Dirk Rückschloß / Pixore Photography

Musikalisch jagt in dieser Produktion eine eingängig-schlagertaugliche Melodie die nächste, gehen Wiener Walzer und Csárdás eine Liaison ein. Die Musik hat Temperament, ob sie nur von Ferne zitiert  oder auf eigene Rechnung abgeht. Die temporeiche Stilisierung, die Christian von Götz hier in sich schlüssig durchexerziert, erinnert an die jüngsten Inszenierungen von Herbert Fritsch, wird dabei aber nicht wie bei ihm zum Selbstzweck, sondern bleibt punktgenau auf der Musik und landet zusammen mit der Szene immer genau bei einer Pointe, wie sie Benatzky und sein Librettist im Sinne gehabt haben mögen. 

Ein Klasse für sich ist das Ensemble. Jede auch kleine Rolle ein Typ. Von der Bediensteten bei den Ungarn (Juliska Nadine Dobbriner) bis zu den Familienoberhäuptern. Wunderbar, wie Jason-Nandor Tomory als Vater Ludwig Reingruber den Parvenü gibt, wenn er sich wie Tarzan an der Liane am Seil auf die Bühne schwingt. In diesem Figurenpanoptikum ragen dennoch die beiden jungen Leute heraus. Madelaine Vogt hat das Quantum Paprika-Temperament, bei dem den älteren Semestern durchaus Marika Rökk einfällt. Und Richard Glöckner schafft es tatsächlich, sich mit seiner Kunstfigur Schorsch als ein personifiziertes Gesamtkunstwerk in die Herzen der Zuschauer zu singen und zu spielen. Choreograph Leszek Kuligowski hat nicht nur bei ihm ganze Arbeit geleistet. 

Fazit: Ein kurzweilig-hinreißender Abend, an dem das ganze Ensemble seinen Anteil hat, und der eine Reise ins Erzgebirge lohnt.

 

«Der reichste Mann der Welt»  Ralph Benatzky
Erzgebirgische Theater ∙ Eduard-von-Winterstein-Theater, Annaberg-Buchholz

Kritik der Vorstellung am 3. November 2021
Termine: 19./28. November, 05./19./30. Dezember 2021, 05./19. März, 18. April 2022 

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