• Magazin
  • Oper Frankfurt
  • September / Oktober 2023
  • S. 16-17

Das tolle Spiel um die Liebe und das Überleben

Text: Zsolt Horpácsy

In: Magazin, September / Oktober 2023, Oper Frankfurt, S. 16-17 [Publikumszeitschrift]

Anfangs sind Regeln und Strukturen im Schloss des Grafen festgelegt. Doch innerhalb weniger Stunden ändert sich alles. Das Spiel beginnt. Es verlangt nach ständig wechselnden, neuen Strategien, die in entscheidenden Momenten den nächsten Schritt nach vorne zeigen: Die elf Spieler*innen entfalten ihre Potenziale, erfahren Lebendigkeit. Ihre Kreativität läuft zur Hochform auf. Freiräume für Lebensfreude öffnen sich, auch wenn manche Situationen an diesem tollen Tag brandgefährlich sein können. Rund um die Uhr geht’s ums Eingemachte. Hier, auf der menschlichen Ebene, entfalten sich die Energie und Dynamik von Mozarts und Da Pontes Meisterwerk am stärksten. Zusammen mit ihren Figuren bewegen wir uns in einer Sphäre, wo sich Lebenslust und -frust, Liebe und Rache, Freude und Melancholie vermischen und die »unerträgliche Leichtigkeit des Seins« (Milan Kundera) in einer spielerischen Form bestätigen.


Lebenslust und -frust

Die literarische Vorlage, Beaumarchais’ gesellschaftskritisches Lustspiel Le mariage de Figaro – geschrieben gegen »Laster, Missbrauch und Willkür unter der Maske der herrschenden Sitte« –, wurde 1781 zum Vorboten der Französischen Revolution. Fünf Jahre später, in einer Zeit des Umbruchs, entstand Mozarts kongeniale Vertonung von Lorenzo Da Pontes Libretto. Bei der Bearbeitung des heiklen Stoffes gelang es dem Komponisten, den Wechsel der ernsten und komischen Elemente des Textes in eine Musiksprache zu übertragen. Die beißende Komik ihrer Vertonung wurzelt in der Commedia dell’arte und stellt existentielle Fragen: nach der Definierbarkeit der Liebe, nach dem Phänomen der Wahlverwandtschaften und nach der Planbarkeit verschiedener Lebensmodelle. Im Rahmen der typischen Intrigenhandlung entstanden genau gezeichnete Porträts und eine tiefgründige Situationskomik. Neben politisch brisanten Textpassagen war es auch die Frische und Freizügigkeit der Figuren, die dem französischen Original eine besondere Aura verliehen. Dem Libretto ist die politische Dimension, zumindest in der Direktheit wie im Schauspiel, nicht mehr anzumerken. Doch die Frechheit der Untergebenen im Umgang mit ihren Herren, der respektlose Witz und der entlarvende Humor blieben auch in Mozarts und Da Pontes Werk zentrales Stilmittel. Überschaubar und repräsentativ ist die Gruppe der Spieler*innen: Elf Figuren werden hier in ihrem Verhältnis zu sich selbst, zu den anderen und zur Gesellschaft dargestellt. Trotz aller Turbulenzen werden uns dabei die verwirrenden Facetten der Liebe ans Herz gelegt.


Frechheit und Frische

Le nozze di Figaro ist ein janusköpfiges Werk, das sowohl vorwärts als auch zurück blickt. Die Grundform der Opera buffa, deren Handlung von den Ensembles vorangetrieben wird, wurde um die Mitte des 18. Jahrhunderts nach Carlo Goldonis Komödien festgelegt. Ihre Charaktere stehen in einer weiter zurückreichenden Tradition: Schon die Commedia dell’arte kennt die Spannungen zwischen Dienern und Herren. In Le nozze di Figaro handeln jedoch keine Komödientypen mehr, sondern glaubhaft gezeichnete Charaktere, die teils durch Beaumarchais’ Text (vermittelt durch Da Ponte), teils durch Mozarts Musik, die jeder Figur einen individuellen Stil gibt und mit dem Orchester neue Ausdrucksmöglichkeiten der Harmonik und Struktur entwickelt, an Profil gewinnen. Das Autorenduo hielt sich dabei strikt an die dramaturgische Regel: die Einheit der Zeit, der Handlung und des Raums, um ein frei rasendes Spiel gestalten zu können. Die strenge musikalische Struktur wirkt lebendig, und von Konventionen befreit: 28 musikalische Nummern sind durch Secco-Rezitative miteinander verbunden. Dabei stehen 14 Solo-Nummern (Arien) ebenso vielen Ensemble-Nummern gegenüber. In den Arien hält Mozart die Stilhöhen-Regel ein: Die großen, zweisätzigen Arien sind dem »hohen« Paar, dem Grafen und der Gräfin, vorbehalten, während sich alle anderen Figuren in einsätzigen Nummern äußern, denen meistens ein eindeutig bestimmbarer Affekt zugrunde liegt.

Noch deutlicher als bei Beaumarchais nimmt Susanna in der Oper eine zentrale Position ein. Um sie kreisen Figaro, der Graf, Cherubino und selbst Don Basilio. Es gibt in der Oper kein Duett, in dem sie nicht eine tragende Partie singt. Sie könnte zwar »Beute« sein, übernimmt aber stattdessen die Funktion der Befreierin. Sie hilft allen, die vom Grafen bedroht sind: der Gräfin, Cherubino und sogar Figaro. Sie spielt mit dem Feuer, obwohl sie »nur« eine Kammerzofe ist. Ihr Mut und ihre starken Nerven lassen die Aufregung und den chaotischen Aktionismus der anderen umso deutlicher hervortreten. Ihre Haltung ist längst nicht mehr die einer Bediensteten. Wenn sie im vierten Akt das Gewand der Gräfin trägt, ist es mehr als eine Verkleidung. Wenn auch fiktiv, findet hier ein Aufstieg statt, eine Art Erhöhung des sozialen Status.

Nicht die Herkunft der Figuren, sondern Susannas (Liebes-) Intrige regelt letztendlich die ständig wechselnden Konstellationen. Wir sehen, wie die gesellschaftlichen Schranken fallen: Selbst der Graf verbündet sich zur Durchsetzung seiner Pläne mit einem ehemaligen bürgerlichen Gegenspieler, Dr. Bartolo, dem er einst sein Mündel Rosina raubte, wie wir es auch aus Rossinis Il barbiere di Siviglia kennen.

Was vom Tage übrig blieb Wie die Tageszeiten unterscheiden sich die einzelnen Akte der Opera buffa voneinander. Die Leichtigkeit des ersten Aktes deutet die echten Gefahren nur an und wird von der scharfen Situationskomik im zweiten und dritten Akt abgelöst. Die klaren Konturen der ersten drei Akte lösen sich später im vierten Akt auf und ermöglichen die wildesten Verwechslungen. Zum Schluss treffen sich alle im nächtlichen Garten. Vermeintliche Irrwege führen nun doch zum Ziel. Jeder Schritt wird plötzlich unsicher. Sogar die Liebe von Susanna und Figaro, die Basis der Handlung, wird in diesem chaotischen Notturno infrage gestellt. Erst die Morgendämmerung bringt eine gewisse Klarheit ins Spiel. »Diesen Tag der Leiden, / Launen und Tollheit / kann nur die Liebe / in Zufriedenheit und Freude beenden« – singen alle im vierten Finale. Sie feiern das Spiel, die Kunst des Überlebens. Die Fragen, die schon gestern unbeantwortet blieben, werden am neuen Tag erneut gestellt. Es wird nach neuen Regeln gesucht – und weitergespielt.
 



LE NOZZE DI FIGARO
Wolfgang Amadeus Mozart (1756–1791)

Oper in vier Akten / Text von Lorenzo Da Ponte nach Pierre Augustin Caron de Beaumarchais / Uraufführung 1786, Burgtheater Wien / In italienischer Sprache mit deutschen und englischen Übertiteln

PREMIERE Sonntag, 1. Oktober
VORSTELLUNGEN 6., 8., 12., 14., 21. Oktober / 28., 30. Dezember / 5., 7., 18., 21. Januar

MUSIKALISCHE LEITUNG Thomas Guggeis / Alden Gatt INSZENIERUNG Tilmann Köhler BÜHNENBILD Karoly Risz KOSTÜME Susanne Uhl LICHT Joachim Klein CHOR Tilman Michael DRAMATURGIE Zsolt Horpácsy

FIGARO Kihwan Sim / Božidar Smiljanić SUSANNA Elena Villalón GRAF ALMAVIVA Danylo Matviienko / Domen Križaj GRÄFIN ALMAVIVA Adriana González / Verity Wingate CHERUBINO Kelsey Lauritano / Helene Feldbauer° MARCELLINA Cecelia Hall / Katharina Magiera BARTOLO Donato Di Stefano / Thomas Faulkner BASILIO / DON CURZIO Magnus Dietrich BARBARINA Idil Kutay° ANTONIO Franz Mayer

°Mitglied des Opernstudios