• Foyer5
  • Landestheater Linz
  • # 21 | November/Dezember 2021
  • S. 10-13

Wann spielt Aida?

Über Sinn und Unsinn der „Werktreue“

Text: Christoph Blitt

In: Foyer5, # 21 | November/Dezember 2021, Landestheater Linz, S. 10-13 [Publikumszeitschrift]

„Werktreue“ – Dieses Wort ist unter Theater- und Opernanhänger:innen nachgerade ein Kampfbegriff. Denn er suggeriert, dass es im Grunde lediglich einen richtigen Weg geben kann, ein bestimmtes Werk auf die Bühne zu bringen: Nämlich nur, wenn ich treu den Angaben der Autor:innen folge, hat eine Aufführung überhaupt eine Daseinsberechtigung. Jede Verlegung in eine andere Zeit oder schon jede Zutat, die nicht durch das Textbuch oder die Partitur expressis verbis beglaubigt wird, ist falsch und zu verurteilen. Dagegen steht freilich die Ansicht, dass es sehr wohl ganz viele Arten gibt, ein theatrales Werk zu inszenieren. Denn es geht ja nicht um eine starre Buchstabentreue, sondern darum, einen Text oder eine Partitur, die oftmals auch schon ein paar Jahre auf dem Buckel haben, für die eigene Gegenwart erfahrbar und interessant zu machen. Dies kann eine optische Aktualisierung durchaus miteinschließen. Freilich haben inzwischen selbst die Anhänger:innen eher traditioneller Inszenierungsformen anerkannt, dass man 2021 etwa das Personal von Richard Wagners Der Ring des Nibelungen nicht mehr in Bärenfelle und plumpe Leinentuniken stecken kann. Aber es gibt auf der anderen Seite auch Opern, bei denen sich seit ihrer Uraufführung über die Jahrzehnte bestimmte Sehgewohnheiten und -erwartungen verfestigt haben. So hat Giuseppe Verdis Aida im Alten Ägypten während der Hochzeit der Pharaonenherrschaft zu spielen; Giacomo Puccinis Tosca gehört ins Rom des Jahres 1800 und Der Rosenkavalier von Richard Strauss ist nur echt im Wiener Rokoko-Style. Alles, was bei einer Inszenierung in der Ausstattung von diesen genannten Epochen abweicht, entspricht nicht dem jeweiligen, schriftlich fixierten Autorenwillen und ist damit nicht „werktreu“.

So einfach ist die Sache aber dann zum Glück nicht! So sehe man sich beispielsweise einmal die Zeitangabe, die Verdi und sein Librettist Antonio Ghislanzoni in ihrem Aida-Textbuch vermerkt haben, genauer an. Da steht nämlich: „Ägypten, zur Zeit der Herrschaft der Pharaonen“. Diese „Anweisung“ an die Regisseur:innen und Ausstatter:innen ist bei Lichte betrachtet wohl die unpräziseste Angabe der ganzen Theatergeschichte, umfasst doch die genannte Epoche einen Zeitraum von ca. 2700 Jahren! Da wären ja etwa Strauss und sein Textdichter Hugo von Hofmannsthal noch genauer gewesen, wenn sie bei ihrem Rosenkavalier vermerkt hätten, dass das Stück irgendwann nach Christi Geburt zu spielen habe. Somit legt die Angabe bei Aida in ihrer gewollten Unschärfe nichts fest, woran sich Bühnenbildner:innen orientieren könnten, denn es würde auch optisch einen riesigen Unterschied machen, ob man die Handlung der bewussten Oper nun zu Beginn der Pharaonenherrschaft um 3030 v. Chr., in deren Blütezeit um 1300 v. Chr. oder an deren Ende um 330 v. Chr. ansiedelt. Die Situation wird auch nicht dadurch einfacher, wenn man noch Folgendes bedenkt: Bekanntlich geht es in Aida auch um einen Krieg, den Ägypten gegen Äthiopien führt. Verdi empfahl seinem Librettisten Antonio Ghislanzoni, sich bei den propagandistischen Reden, die die Herrscherkaste in der Oper schwingt, doch an den Verlautbarungen zu orientieren, die der preußische König und spätere deutsche Kaiser Wilhelm I. während des Krieges gegen Frankreich 1870/1871 von sich gegeben hat. Mit anderen Worten: Die von einer gewissen Aufführungstradition herrührende Annahme, dass sich die Handlung von Aida in der klassischen Zeit der ägyptischen Antike in einer Landschaft voller grandioser Tempelanlagen, Pyramiden, Palmen und Sphinxen zutrage, lässt sich durch die Angaben des Textbuches, auf die sich Anhänger:innen der „Werktreue“ so gerne berufen, nur bedingt beglaubigen. Insofern haben die Interpret:innen dieser Oper die größte Freiheit bei einer szenischen Umsetzung, denn allem Anschein nach ging es Verdi viel eher um die Idee einer versunkenen Welt, in der aber auch die Mechanismen seiner eigenen Gegenwart (siehe das Zitat über Wilhelm I.) greifen und erkennbar werden, als um eine konkrete Epoche.

Aber wie schaut es dann bei den beiden anderen genannten Opern Der Rosenkavalier und Tosca aus? Hier sind die Angaben zur Handlungszeit ja nun wirklich recht konkret, spielt doch das eine Werk in Wien in den ersten Jahren der Regierung Maria Theresias (also etwa um 1740), während das andere sich noch präziser datieren lässt, da sich die Handlung der Tosca am Tage der Schlacht von Marengo zuträgt, die am 14. Juni 1800 stattgefunden hat. Da müssten doch nun Austatter:innen ganz genau wissen, was sie zu tun haben.

Aber ist dem wirklich so? Denn weder Strauss noch Puccini komponieren eine Musik im Stile der jeweiligen Handlungszeit. Und auch Hofmannsthal erfindet für sein Libretto eine Wiener Kunstsprache, die man in dieser Form in der österreichischen Hauptstadt nie gesprochen hat. Warum sollten also Bühnenbildner:innen päpstlicher als die Autoren sein müssen? Und selbst wenn eine Kostümbildnerin im Falle von Puccinis Tosca der Titelheldin ein Kleid schneidert, das sich genau an der Mode der Zeit um 1800 orientiert, sind im Grunde jedes Milligramm Kunstfaser, das sich in den Kostümstoff gemischt hat, jeder Reißverschluss, den man aus praktischen Gründen eingearbeitet hat, oder jeder Knopf, der vielleicht erst um 1801 auf den Markt gekommen ist, unter den Gesichtspunkten der „Werktreue“ genau so falsch wie etwa ein Siegfried, der in Wagners Götterdämmerung im Smoking daherkommt.

Denn im Grunde ist es doch so: Der viel strapazierte Begriff der „Werktreue“ kann nur ein Phantom sein, dem nachzujagen verlorene Liebesmüh ist. Und seien wir doch einmal ehrlich: Dem Buchstaben eines Textbuchs nachzueifern, bringt doch wenig. Viel wichtiger ist es doch, dem Sinn eines Werkes für die jeweilige Zeit bei einer Inszenierung nachzuspüren. Oder mit anderen Worten: Willkommen im Theater!


AIDA

OPER IN VIER AKTEN VON GIUSEPPE VERDI
TEXT VON ANTONIO GHISLANZONI NACH EINEM SZENARIO VON AUGUSTE MARIETTE

In italienischer Sprache mit deutschen Übertiteln

Öffentliche Generalprobe
18. November 2021
Zugunsten des OÖN Christkindls

Premiere 20. November 2021
Großer Saal Musiktheater

Musikalische Leitung Enrico Calesso
Inszenierung Sabine Hartmannshenn
Bühne Stefan Heinrichs
Kostüme Edith Kollath
Choreografie Jörn Felix Alt
Dramaturgie Christoph Blitt
Chorleitung Elena Pierini
Leitung Extrachor Martin Zeller
Nachdirigat Claudio Novati

Mit Michael Wagner (Der König), Elena Batoukova-Kerl (Amneris), Sonja Šarić (Aida), Sung-Kyu Park (Radamès), Dominik Nekel (Ramfis), Adam Kim (Amonasro), Gotho Griesmeier (Priesterin), Domen Fajfar / Jin Hun Lee (Ein Bote), Anna Bárbara Bonatto, Katharina Glas, Hodei Iriarte Kaperotxipi, Lukas Ruziczka (Tänzer:innen)

Chor des Landestheaters Linz
Extrachor des Landestheaters Linz
Statisterie des Landestheaters Linz
Bruckner Orchester Linz

Dass der Mezzosopran den Tenor begehrt, der wiederum leidenschaftlich den Sopran liebt, ist eine Grundkonstellation, die man aus unzähligen Opern kennt. Gerne wird diese Situation auch mit dem Umstand kombiniert, dass Tenor und Sopran verfeindeten Lagern angehören. Auch Giuseppe Verdi bedient diese Handlungsmuster in seiner Aida. Doch er geht hier musikalisch so einfühlsam und dramaturgisch so geschickt vor, indem er etwa intime Szenen auf spektakuläre Massenauftritte treffen lässt, dass es für alle Opernfreund:innen (und solche die es werden wollen) eine wahre Lust und Wonne ist!

Weitere Vorstellungen
26. November, 4., 10. und 29. Dezember 2021, 6., 17. und 21. Jänner 2022
Weitere Termine auf landestheater-linz.at

77. Sonntagsfoyer
Einführungsmatinee | 7. November 2021, 11.00 Uhr | HauptFoyer Musiktheater

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